Kategorie: Deutschland

„Working Poor“ - Arm trotz Arbeit

Vortrag von Rainer Roth, Professor für Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt Armut und Sozialhilfe an der FH Frankfurt und Autor von “Nebensache Mensch – Arbeitslosigkeit in Deutschland”.


 

I)
Gesetzlicher Mindestlohn statt gesetzlichem Kombilohn
Die FTD schrieb: "Die Einführung tariflicher Mindestlöhne wird die gerade erst implementierte (eingeführte), wichtigste Arbeitsmarktreform der Bundesregierung konterkarieren. (hintertreiben, unwirksam machen) Denn Chancen haben die häufig gering qualifizierten und weniger produktiven Langzeitarbeitslosen nur, wenn für sie eine Entlohnung unterhalb der untersten Tarifgruppen möglich ist." (14.04.2005)
Chancen also nur, wenn sie dank Hartz IV gezwungen werden können, Jobs anzunehmen, deren Löhne bis zu einem Drittel unterhalb des ortsüblichen Entgelts bzw. der unteren Branchentarife liegen.
In 130 Tarifbereichen liegt der Stundenlohn für die unterste Tarifgruppe unter 6 Euro die Stunde. Bei durchschnittlich 38,5 Stunden käme man damit auf maximal 1.000 Euro brutto oder rd. 750 Euro netto. Der Lohn wäre so niedrig, dass man noch Anspruch auf ergänzendes Alg II hätte. Diesen jämmerlichen Zustand über ein Entsendegesetz für allgemeinverbindlich zu erklären, sieht die FTD, die dem Bertelsmann-Konzern zuzurechnen ist, schon als Katastrophe an. Working poor reicht nicht. Working poorer ist gefragt.
Bis zu einem Drittel unter diesen Tarifen würde Stundenlöhne von 4 Euro brutto abwärts bedeuten. Da geht dem Kapital das Herz auf. Das ist wirklich "beschäftigungsfreundlich".
Für die 30% der Lohnabhängigen im Westen und 45% im Osten, die ohne Tarifbindung arbeiten, sind solche Löhne heute schon möglich. Hartz IV ermuntert zum Austritt aus Tarifverbänden.
Hartz IV ist über die Zumutbarkeit untertariflicher Löhne und über die EinEuroJobs organisiertes Lohndumping, Hartz I (Ausbau der Leiharbeit) und Hartz II (Ich AG's und Minijobs) sind es auch.
Die Abschaffung der AlHi und die Senkung von Alg II unter das bisherige Sozialhilfeniveau fördern ebenfalls Lohndumping, da das den Mindestlohn senkt, den AlHi und Sozialhilfe faktisch darstellen. Hartz III hat die Chaosbehörden geschaffen, den Bezug von Alg II möglichst unattraktiv machen, Lohndumping produzieren und Armutslöhne verbreiten sollen.
Die Bundesregierung drückt Löhne nach unten und verkündet gleichzeitig über ihre Propagandalautsprecher: "Gerecht ist, Menschen in Arbeit zu bringen, statt sie dauerhaft von staatlichen Zahlungen abhängig zu machen." (agenda 2010, November 2003, 10)
Schrott als Gold zu verkaufen, will gelernt sein.
Hartz IV ist im Gegenteil darauf angelegt, Menschen in Arbeit zu bringen, die sie dauerhaft von staatlichen Zahlungen abhängig macht.
Mit Hartz IV werden auf breiter Front Löhne zumutbar, die noch unterhalb des Niveaus von Hartz IV liegen und mit Arbeitslosengeld II aufgestockt werden müssen.
Entscheidend ist dabei die Höhe des anrechnungsfreien Arbeitseinkommens.
Der Standpunkt des Kapitals lautet: "Je höher die Zuverdienste ausfallen, die der Staat anrechnungsfrei lässt, desto besser." (FTD 14.04.2005)
Die fortgeschrittensten Vertreter des Kapitals wie Herr Sinn sind schon bei anrechnungsfreien 400 Euro. Bei einem durchschnittlichen Alg II von 650 Euro könnte man also auf einen Kombilohn von 1.050 Euro kommen. Und trotzdem nur, sagen wir, 600 Euro Bruttolohn verdienen bei 4 Euro die Stunde. Die Bruttolöhne können also fallen, ohne dass die Nettozahlungen an die LohnarbeiterInnen fallen. "Es dürfte dann (bei höherem anrechnungsfreien Arbeitseinkommen) einen Abwärtsdruck auf die Stundenlöhne geringqualifizierter geben," kommentierte die FTD. (21.03.2005)
Die staatliche Lohnsubvention läuft für den SVR (Rürup) bei etwa 1.000 Euro netto aus, von denen 500 Euro vom Staat und 500 Euro vom Unternehmen bezahlt werden. Das wäre dann der gesetzliche Mindestlohn nach Art des Kapitals.
Um allerdings den Zwang zu erhöhen, für 4 Euro plus Staatszuschuss zu arbeiten, treten die Vertreter des Kapitals für die drastische Senkung des Alg II ein.
Die Bertelsmann-Stiftung, Inhaberin des Bertelsmann-Konzerns, ist für die völlige Abschaffung des Regelsatzes von 345 Euro. (F. Breyer, W. Franz, S. Homburg, R. Schnabel, E. Wille, Reform der sozialen Sicherung, Berlin 2004, 42; vgl. Flugblatt von Klartext e.V. Gewinnspiel 2005 -> www.klartext-info.de) Hunger soll die Arbeitsmotivation fördern.
Das alles läuft unter dem Marketing-Begriff "Eigenverantwortung".
Eigenverantwortung vom Standpunkt des Kapitals aus bedeutet, dass Arbeitslose einen möglichst großen Teil von Alg II selbst erarbeiten, ohne aus dem Bezug staatlicher Zuzahlungen herauszukommen. Denn im Gegenzug zur Streichung des Regelsatzes soll Arbeitseinkommen in Höhe von 345 Euro nicht auf Alg II angerechnet werden.
Chefökonom Sinn ist vorerst "großzügiger". Er will den Regelsatz nur um ein Drittel senken und bis 400 Euro Arbeitseinkommen freilassen.
Der Sachverständigenrat der Bundesregierung, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK), die Minister Clement und Eichel sowie CDU/CSU treten für die Senkung des Regelsatzes um 25% ein.
Diejenigen, die trotz staatlicher Subventionierung von Armutslöhnen ihre Arbeitskraft nicht verkaufen können, sollen laut Rürup und Sinn, den Zwillingen der Beraterzunft, aber auch laut Bertelsmannkonzern ihr Alg II bei den Kommunen abarbeiten oder von den Kommunen ohne Mehraufwandsentschädigung (ohne den berühmten "einen Euro") an Privatunternehmen verliehen werden.
Sogenannte "Löhne" in Höhe von Alg II ist die letzte Station, der Ausbau der Zwangsarbeit die ultima ratio der "freien Marktwirtschaft".
Die Vertreter des Kombilohns regen sich über die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn auf bzw. über tarifliche Mindestlöhne, die per Gesetz für allgemeinverbindlich erklärt werden. Sie regen sich auf, weil sie solche Löhne zahlen müssten. Über gesetzliche Mindestlöhne, die massiv vom Staat subventioniert werden, regen sie sich nicht auf.
Der vom Kapital angestrebte Kombilohn (negative Einkommensteuer) ist nämlich ebenfalls eine Art gesetzlicher Mindestlohn, nur dass wachsende Teile dieses "Lohns" nicht vom Kapital selbst, also den Käufern der Ware Arbeitskraft, sondern über Steuermittel von der Masse der Lohnabhängigen bezahlt werden sollen.
Es handelt sich um eine Art Vergesellschaftung des Lohns.
Wir brauchen aber keinen von den LohnarbeiterInnen über Steuern bezahlten Kombilohn, sondern einen gesetzlichen Mindestlohn, der von den Käufern der Ware Arbeitskraft gezahlt wird. Er muss wenigstens ein unteres Niveau der Reproduktionskosten abdecken.
Die Lohnarbeit führt sich ad absurdum, wenn die Verkäufer der Ware Arbeitskraft von ihrem Verkauf weder selbst leben können, noch ihren Nachwuchs ernähren können. Wenn denjenigen, die doch das Kapital erst erzeugen, die Lebensmöglichkeiten genommen werden, verliert das ganze Wirtschaftssystem seine Legitimation.

II)
Wann gehört man zu den working poor?
Wie hoch müsste ein gesetzlicher Mindestlohn sein?
Zunächst einmal: Alg II ist nicht bekämpfte Armut, sondern Armut.
345 Euro Regelsatz nach Hartz IV bedeuten:
Offiziell 4,23 am Tag für Essen und Trinken, 34 Cent für Kneipenbesuche, ebensoviel für Zeitungen/Zeitschriften, 7 Cent pro Tag fürs Telefonieren, 15 Cent für Sport und Freizeitvergnügen am Tag, 60 Cent für öffentliche Verkehrsmittel, eine Zigarette am Tag (Hartz IV ist was für Nichtraucher) und keinen Tropfen Alkohol, um sein Elend zu ertränken. (vgl. Rainer Roth, Harald Thomé, Leitfaden Alg II/Sozialhilfe von A-Z, Frankfurt 2005, zu beziehen über www.agtuwas.de)
Das soll bekämpfte Armut sein? Hartz IV ist Armut poor und wer gezwungen wird, dafür zu arbeiten, ist eine arme Sau. Sau poor.
Das Niveau der Regelsätze und einmaligen Leistungen von Schulkindern ab sieben ist erheblich abgesenkt worden.
Der Eckregelsatz eines Alleinstehenden hätte um rd. 40 Euro höher sein müssen, wenn nicht einige Positionen (wie Strom, Telefon usw.) nicht zu 85% oder 60% anerkannt worden wären, sondern zu 100% wie beim alten Regelsatz. (ausführliche Kritik dazu vgl. Roth, Thomé 2005, 169-189) Nicht umsonst fordert der Paritätische Wohlfahrtsverband die Erhöhung des Regelsatzes auf 419 Euro, indem er die Kürzungen herausrechnet. M.E. müsste gefordert werden, dass der Eckregelsatz 500 Euro beträgt. Dann würde das Leistungsniveau in etwa insgesamt 900-940 Euro betragen, also auf dem Niveau der offiziellen Armutsgrenze liegen. (siehe unten)
Je geringer die Arbeitslosenunterstützung, desto größer wird der Druck, zu Armutslöhnen zu arbeiten, desto stärker werden die Zwangsmittel. In GB z.B. wird die Leistung schon nach einer Ablehnung zumutbarer Arbeit komplett gestrichen, in Deutschland vorerst nur um 30% gekürzt.
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) setzt für 2001 als Niedriglohn für Vollzeitbeschäftigte 1.630 Euro brutto an oder 2/3 des nationalen Medianlohns. (Median ist der Wert, der sich in der Mitte der Einzelwerte befindet. Nicht zu verwechseln mit dem Durchschnittslohn. -> siehe weiter unten) Weniger als 1.630 Euro brutto hatten 3,63 Mio. Menschen oder 14,2% der VZ-Beschäftigten. (böckler impuls 6/2005, 2)
Die offizielle Definition der Armutsgrenze gibt einen Hinweis auf die offizielle Definition des Armutslohns. Im 2. Armuts- und Reichtumsbericht gilt ein Alleinstehender als arm, dessen Einkommen unterhalb von 60% des Nettoäquivalenzeinkommens liegt, das sich auf der Basis des Mittelwerts (Medians) der Haushalte ergibt. Das waren für 2003 938 Euro. (Armutsbericht 2005, 18)
Median ist nicht der Durchschnittshaushalt (das arithmetische Mittel der Haushalte), das früher die Bezugsgröße abgab, sondern das Einkommen des Haushalts, das bei 50% aller nach ihrem Einkommen geschichteten Haushalte erreicht ist.
Die Bundesregierung schreibt:" Mit einer Vollzeiterwerbstätigkeit sollte ein Einkommen bezogen werden können, das eine Teilhabe am allgemeinen Wohlstand ermöglicht und zumindest oberhalb der Armutsrisikogrenze (60% des Medians der Nettoäquivalenzeinkommen) liegt." (115)
Das sagt das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit ist natürlich anderer Meinung. Hartz IV sagt alles.
938 Euro netto entsprechen etwa 1.300 Euro brutto oder rd. 7,80 Euro die Stunde. (berechnet nach DGB, Arbeitslosengeld II, Berlin 2004, 28) Aber:
Die offizielle Armutsgrenze macht keinen Unterschied zwischen Nicht-Erwerbstätigen und Erwerbstätigen, obwohl der Bedarf der letzteren höher ist. Erwerbstätige haben einen Mehraufwand, einen höheren Bedarf als Nicht-Erwerbstätige. Nach der jetzigen Freibetragsregelung von Hartz IV wären das bei 1.300 Euro brutto 186 Euro.
Der Bruttolohn eines Alleinstehenden müsste also so hoch sein, dass der Nettolohn 938 Euro plus 186 Euro ergeben würde, also 1.124 Euro. Dann wären wir bei einem Bruttolohn von etwa 1.700 Euro oder rd. 10 Euro brutto die Stunde.
Diese Forderung wird von immer mehr Arbeitslosengruppen, Anti-Hartz-Bündnissen und Gewerkschaftern aufgestellt und hat ihren Niederschlag im Frankfurter Appell gefunden.
Ein solcher Lohn würde an der Grenze liegen, bei der offiziell das Armutsrisiko beginnt. Er würde die Lebensverhältnisse der working poor dennoch erheblich verbessern, denn Millionen LohnarbeiterInnen verdienen erheblich weniger.
Ein gesetzlicher Mindestlohn von zehn Euro würde es auch stark erschweren, dass mit Hilfe der Jobcenter bzw. der Arbeitsagenturen Arbeitskräfte zu Lohndumping gezwungen werden können.

III)
Lohnniveau ohne oder mit Unterhaltskosten von Kindern?
Aber: das Lohnniveau von zehn Euro die Stunde bezieht sich nur auf die Erhaltung der Arbeitskraft selbst, nicht auf die Unterhaltungskosten des Nachwuchses der Arbeitskräfte, den kostenträchtigen Kindern, ohne die die Lohnarbeit und damit auch das Kapital gar nicht weiterbestehen könnte.
Die offizielle Armutsgrenze der EU für Kinder unter 15 Jahren liegt bei 281 Euro oder 30% von 938 Euro.
Gegenwärtig beträgt das Kindergeld 154 Euro. Im Lohn einer Arbeitskraft müssten also mindestens weitere 130 Euro enthalten sein, damit ein Kind pro Arbeitskraft auf dem Niveau der offiziellen Armutsgrenze, also auf Sparflamme ernährt werden kann. Der Nettolohn müsste sich also etwa auf 1.250 Euro belaufen oder 1.900-2.000 Euro brutto. Löhne unterhalb dieses Lohns wären Armutslöhne. Es denn, man steht auf dem Standpunkt, dass die Finanzierung des Nachwuchses an Arbeitskräften mit dem Lohn gar nichts zu tun hat, sondern Privatsache oder Sache des Staats wäre. Das ist im Prinzip der Standpunkt des Kapitals. Mit Kindern, also mit Menschen, die keinen Beitrag zur Vermehrung des Kapitals leisten, will es möglichst nichts zu tun haben.
Um die Reproduktionskosten von Kindern vollständig aus dem Lohn herauszunehmen, verlangen CDU und Grüne ein Kindergeld von 300 Euro. Das entspricht der gegenwärtigen Höhe des steuerlichen Existenzminimums von Kindern. (3.648 Euro im Jahr)
Hartz IV geht ein Schrittchen in diese Richtung, in dem ein Kinder(geld)zuschlag von maximal 140 Euro für maximal zwei Jahre eingeführt wird, ein Kind also maximal 294 Euro bekommen kann. (plus Wohngeld)
Kindergeld wird aber aus Steuermitteln finanziert, die von den LohnarbeiterInnen selbst aufgebracht werden. Das Kapital finanziert mit den Gewinnsteuern, die es zahlt, bekanntlich insgesamt nur die Subventionen, die es vom Staat bekommt.
Ein Lohn also, mit dem man nicht einmal ein Kind großziehen kann, wäre immer noch ein Armutslohn. Deshalb fordert der Frankfurter Appell wenigstens zehn Euro brutto.
Eine solche Forderung, die nicht einmal die Reproduktionskosten von Kindern auf unterem Niveau deckt, wäre dennoch für Millionen LohnarbeiterInnen ein gewaltiger Fortschritt, die heute erheblich weniger verdienen.
Die Unterhaltskosten von Kindern über Kindergeld abzudecken, bedeutet ebenfalls eine Form der "Vergesellschaftung" des Lohns. Sie zeigt die wachsende Unfähigkeit des Kapitals, die Reproduktionskosten einer Arbeitskraft über den Kauf der Ware Arbeitskraft zu zahlen. Eine Antwort darauf ist die extrem niedrige Geburtenrate, eine indirekte Form der Lohnerhöhung.
Der ehemalige Siemens-Chef von Pierer, Schröder und Köhler schwärmen davon, dass Deutschland wieder ein kinderfreundliches Land werden soll. Gleichzeitig wollen sie unter dem Motto Vorfahrt für Arbeit Löhne durchsetzen, von denen sich nicht einmal der Vater oder die Mutter eines Kindes anständig ernähren können. Gleichzeitig kämpfen sie dafür, die Regelsätze der Kinder zu senken. Hartz IV macht den Einstieg. Wenn aber der Eckregelsatz um 25% gesenkt werden sollte, fallen damit auch die Regelsätze aller Kinder um 25%. Wirklich kinderfreundlich.
Ebenso kinderfreundlich wie die längeren und auch noch flexibleren Arbeitszeiten der Eltern, die das Kapital durchboxen will.
Für Kinder wird es anscheinend als freundlicher ausgegeben, wenn sie ohne nervende Eltern aufwachsen.

IV)
Bisherige gewerkschaftliche Forderungen
Vor diesem Hintergrund ist die Forderung des ver.di Bundesvorstandes nach einem gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro oder 1.250 Euro ein Witz. "Der Betrag orientiert sich an dem, was in vergleichbaren Nachbarstaaten gezahlt wird." erklärte Bsirske. (ver.di publik Mai 2005)
Maßstab für Forderungen muss das untere Niveau der Lebenshaltungskosten im eigenen Land sein. 1.250 Euro wären rd. 920 Euro netto, ein Betrag, der noch unterhalb der Pfändungsfreigrenze eines Alleinstehenden von 940 Euro liegt. Die Pfändungsfreigrenze eines Erwachsenen, der sich hemmungslos über ein einziges Kind fortpflanzen will, liegt bei 1.240 Euro netto.
Bsirske tritt also für einen Mindestlohn ein, der so niedrig ist, dass er nicht einmal gepfändet werden darf, weil das Existenzminimum sonst unterschritten wäre.
Der IG Metall-Vorstand tritt wie das Kapital insgesamt plus Bundesregierung/Bundesrat energisch gegen gesetzliche Mindestlöhne ein. Jürgen Peters: "Wir wollen, dass der Gesetzgeber die untersten Tariflöhne für allgemeinverbindlich erklärt. Denn mit den Tariflöhnen haben wir bereits Mindestlöhne festgelegt. ... Kein Arbeitgeber sollte in unserem Land Menschen zwingen können, zu einem Lohn zu arbeiten, der unterhalb dieser Grenze liegt." (metall 5/2005, 10)
Auch in der Metallindustrie und im Metallhandwerk gibt es Tariflöhne unterhalb von 6 Euro die Stunde. Das sind Armutslöhne, ebenso wie der untere Leiharbeitstarif von 7,02 Euro die Stunde, den die IG Metall für nicht-tarifgebundene Bereiche als Maßstab nehmen will. Solche Armutslöhne gehören nicht für allgemeinverbindlich erklärt, sondern abgeschafft.

V)
Entsendegesetz oder gesetzlicher Mindestlohn
"Angesichts von Dumpinglöhnen in Osteuropa und der umstrittenen EU-Dienstleistungsrichtlinie wird auch hier zu Lande über Sinn und Unsinn von Mindestlöhnen gestritten," erklärte die FR. (19.04.2005, 7)
Mindestlöhne vom Standpunkt der LohnarbeiterInnen richten sich aber nicht in erster Linie gegen die ausländische Dumping-Konkurrenz, sondern gegen das inländische Kapital und gegen Hartz I bis IV als Instrumente des Lohndumpings.
Die Aufmerksamkeit auf das Auslandskapital zu lenken, entspricht den Interessen des Kapitals. Es hat nur insoweit ein Interesse an Mindestlöhnen, als seine eigene Existenz durch internationales Lohndumping gefährdet wird.
Das ganze bekommt eine nationale Note, so als ob die Gefahr aus dem Ausland kommt. Sie kommt aber im Wesentlichen aus dem Inland. (vgl. besonders Teil VI)
Festzuhalten ist:
Die EU-Osterweiterung wurde und wird auch vom deutschen Kapital betrieben, um neue Märkte zu erobern und um die Löhne in Deutschland mit Hilfe schärferer Konkurrenz zu senken. Lohndumping ist also ein Zweck, eine Existenzbedingung der EU.
Entsendegesetze, die Lohndumping einschränken, hängen davon ab, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften bundesweite Tarifverträge abgeschlossen haben. Das ist in lediglich 6 von 40 Wirtschaftszweigen erfüllt (Banken, Versicherungen, Bauhauptgewerbe, Dachdecker, Gartenbau, Maler und Lackierer). Das Kapital hat aber überwiegend kein Interesse an bundesweiten Flächentarifverträgen, sondern eher an der schrittweisen Beseitigung von Flächentarifverträgen.
Gesetzliche Mindestlöhne sind also vom Standpunkt der LohnarbeiterInnen auch dann notwendig, wenn das Entsendegesetz ausgeweitet werden sollte.
Die Dienstleistungsrichtlinie kommt zwar aus Brüssel, also scheinbar aus dem Ausland. Sie liegt aber ebenfalls im Gesamtinteresse des deutschen Kapitals.
Denn sie macht es möglich, ohne Beschränkungen "Dienstleistungen", d.h. Ware Arbeitskraft, zu den niedrigen Löhnen anderer Länder anzukaufen. Das von der EU organisierte Lohndumping in großen Stil dient der Beseitigung der Flächentarifverträge. Insbesondere die Leiharbeit, die ja auch eine Dienstleistung ist, kann dadurch einen Aufschwung nehmen, Alle diese Methoden des organisierten Lohndumpings werden in Brüssel von einer Exekutive autokratisch verfügt. Die EU stellt eine Art supranationale Präsidialdiktatur dar, die vor allem den Interessen des Kapitals der stärksten Mächte dient, also Deutschlands und Frankreichs. Die EU-Verfassung schreibt das fest. Sie nimmt den nationalen Institutionen in großem Umfang die Gesetzgebung aus der Hand, damit das deutsche Kapital auch in Deutschland immer mehr ohne Rücksichtnahme auf Parlamente regieren kann.
Wer gegen Lohndumping und gegen Armutslöhne eintritt, muss sich auch gegen die Europäische Union wenden, die sie mit verschiedenen Mitteln fördert. Wo die ökonomischen Interessen des Kapitals regieren, helfen auch keine Appelle, dass sich das Kapital auf seine angebliche "soziale Verantwortung" besinnen möge.

VI)
Auch ein gesetzlicher Mindestlohn bzw. ein ausreichendes Grundeinkommen kann die wachsende Armut der LohnarbeiterInnen nicht beseitigen.
Gesetzliche Mindestlöhne und ein ausreichendes Grundeinkommen für Erwerbslose sind defensive Forderungen. Sie können der vor sich gehenden Entwicklung entgegenwirken bzw. sie abmildern. Aufhalten können sie sie nicht.
Das Kapital stellt es so hin, als ob die wichtigste Triebfeder von Arbeitslosigkeit und Lohnsenkungen die Globalisierung sei, die internationale Konkurrenz des Kapitals und der LohnarbeiterInnen innerhalb und außerhalb der EU. Aber: die Arbeitslosigkeit ist, unabhängig von der Konkurrenz, in den letzten 30 Jahren weltweit gestiegen.
Nicht die Ausländer, verbrämt als sogenannte Globalisierung, sind die wesentliche Quelle der Armutslöhne in Deutschland, sondern die Logik der Kapitalverwertung in Deutschland selbst, sowie in jedem anderen Land, das unter der Kontrolle des Kapitals steht. Im Folgenden ist nur eine kurze Skizze möglich. (Ausführlich: Rainer Roth, Nebensache Mensch, Frankfurt 2003)

-> Das Kapital braucht immer weniger Arbeitskraft, um sich zu vermehren.
Die Produktivität steigt und damit sinkt relativ zum steigenden Umfang des Kapitals die Nachfrage nach Ware Arbeitskraft. Das ist der Hauptgrund für Arbeitslosigkeit, nicht die Verlagerung von Kapital ins Ausland. Auch in den USA war Letzteres nur bei 2,5% der Arbeitsplatzverluste der Grund.
In allen Bereichen sinkt die Arbeitszeit, um notwendige Produkte herzustellen, ob im Baugewerbe, im Fahrzeugbau, in der Produktion von Kommunikationsmitteln, landwirtschaftlichen Produkten usw..
Aber auch bei sogenannten Dienstleistungen, seien es Operationen, Buchungsvorgänge, Lagerhaltung, Informationsbeschaffung usw..

Einige Beispiele:
In einer Station bei Opel Bochum z.B., in der der Unterboden mit den beiden Seitenteilen zusammengeheftet wird, arbeitet nach der Einführung einer neuen Straße mit Robotern heute nur noch eine Arbeitskraft statt 50-60 Arbeitskräften wie noch Mitte der 90er Jahre.
Der vollautomatische Containerhafen in Hamburg hat tausende von Hafenarbeitern überflüssig gemacht.
1953 brauchte ein Handelsschiff von 10.100 t 46 Mann Besatzung, 1993 mit 67.680 t nur noch 13 Mann. So eine Tafel im Schiffahrtsmuseum Bremerhaven. Die Produktivität stieg um das 24fache!
1991 hatten Bergbau und Verarbeitendes Gewerbe in Westdeutschland
7.515 Mio. Beschäftigte, davon 5.071 Mio. Arbeiter.
2004 waren es noch 5,4 Mio. Beschäftigte, davon wahrscheinlich 3,2 - 3,3 Mio. Arbeiter. Der Umsatz ist gestiegen.
Die Arbeiterstunden fielen von 8,9 Mrd. im Jahre 1991 auf 6,1 Mrd. im Jahr 2001. Danach sind nur noch Gesamtdeutschland und nur noch Arbeitsstunden insgesamt ausgewiesen.
Das Baugewerbe hatte 1991 etwa denselben Umsatz wie 2002, aber nur noch 652.000 Beschäftigte statt 964.000. Die geleisteten Arbeitsstunden fielen von 1,2 Mrd. auf 0,75 Mrd. (Jahresgutachten des Sachverständigenrats 2003/04, Wiesbaden 2003, 591)
Gerade die Produktivität von Industriearbeitern stieg rasant. 2002 betrug ihre Produktivität, gemessen am Umsatz pro Arbeiter, mit 346 341 Euro mehr als das Doppelte von 1991.
Folge: mehr und mehr Arbeiter werden arbeitslos und ihr Nachwuchs ebenso. 60% der Arbeitslosen sind Arbeiter. Die Arbeitslosenquote von Arbeitern in Deutschland betrug im Jahr 2003 rd. 18,4%. (eigene Berechnungen nach Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsmarkt 2003, Nürnberg 2004, 154 und BMGS, Statistisches Taschenbuch 2004, Tab. 2.6)
Die Arbeitslosenquote der Angestellten betrug nur 8,3%.
2003 waren 12 Mio. Arbeitskräfte dauernd oder zeitweise arbeitslos gemeldet (4,4 Mio. am Ende des Jahres plus 7,6 Mio. im Laufe des Jahres). Dazu kommen 1,4 Mio. Arbeitsunfähige Arbeitslose, die ständig aus der Statistik herausfallen, weil sie während ihrer Krankheit nicht vermittelbar sind, plus 2,7 Mio. Arbeitslose in der sogenannten Stillen Reserve. Alles zusammen ergibt 16 Mio. Personen, die 2003 arbeitslos waren. Angesichts dessen davon zu sprechen, dass mangelnde Arbeitsmotivation, soziale Hängematten oder Faulheit die wichtigste Ursache der Arbeitslosigkeit sei, grenzt an Schwachsinn.
Je weniger Arbeitskräfte das Kapital im Zuge der technologischen Revolution braucht, desto mehr Arbeitskräfte werden überflüssig. Insbesondere trifft es die sogenannten Minderleister aus den sogenannten Problemgruppen, aus denen nicht so viel unbezahlte Arbeit, d.h. nicht so viel Gewinn, herausgeholt werden kann. Darunter fallen Jüngere, Ältere, Frauen, Schwerbehinderte und Ungelernte, also die Mehrheit der Arbeitskräfte.
Von 1991 bis 2004 wurden in Deutschland 5,5 Mio. Vollzeitarbeitsplätze abgebaut, vor allem bei Arbeitern. Auch der Umstieg auf Teilzeit, Minijobs usw. spiegelt die sinkende Nachfrage nach Arbeitskraft wieder.
Das Kapital beschleunigt diese Entwicklung in jedem Betrieb. Mit möglichst wenig Personal möglichst viele Waren produzieren, Waren verkaufen, Vorgänge, Fälle usw. bearbeiten, Raumflächen putzen usw., ist notwendig, um sein Kapital anständig zu verwerten und in der Konkurrenz nicht unterzugehen. In allen Bereichen werden deshalb auch in Zukunft Arbeitskräfte freigesetzt, weil die Produktivität steigt.
Die Produktivität steigt mit dem Umfang der Produktion und des Kapitals. Die Konkurrenz innerhalb des Kapitals wird über den Preis geführt. In der Konkurrenz gehen diejenigen Unternehmen unter, die mit zu vielen Arbeitskräften zu wenig produzieren, die also zu teuer verkaufen, weil ihre Produktivitä geringer ist.

Daraus folgt der Untergang der Kleinbetriebe in Handwerk, Handel, Landwirtschaft, Industrie usw.. Konzentration und Übernahmen ergeben weitere Produktivitätsschübe und weitere Entlassungen.
Wir stellen einen Niedergang des Privateigentums fest und eine wachsende Vergesellschaftung des Kapitals.
Sinkende Nachfrage nach Arbeitskraft drückt sich in einem wachsenden Überangebot an Ware Arbeitskraft aus.
Das aber verschärft die Konkurrenz der Arbeitskräfte untereinander und damit den Druck auf Lohnsenkungen. Das ist Hauptgrund für die Tendenz zu Lohnsenkungen, nicht die Ost-Erweiterung bzw. die Möglichkeit, allgemein durch Kapitalexport höhere Profitraten zu erzielen. Letzteres beschleunigt nur die ohnehin in einzelnen Ländern vor sich gehende Entwicklung.
Das sinkende Lohnniveau ist gesamtwirtschaftlich also gar kein Mittel, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, sondern drückt gerade umgekehrt höhere Arbeitslosigkeit aus.
Deshalb sehen wir, dass ein tendenziell fallendes Lohnniveau mit steigender Arbeitslosigkeit verbunden ist, nicht mit sinkender. Und wir sehen, dass die Arbeitslosigkeit sinkt, während das Lohnniveau steigt (z.B. in Perioden des Aufschwungs).

-> Die herrschende Meinung
wird von Hans Werner Sinn formuliert:" Jeder findet Arbeit, wenn man zulässt, dass der Lohn weit genug fällt, ...." (Sinn, Ist Deutschland noch zu retten, München 2003, 93) Wobei nicht nur die Bruttolöhne gemeint sind, sondern auch die Sozialversicherungsbeiträge.
5 Millionen Arbeitslose beweisen also nur, dass Löhne und Sozialversicherungsbeiträge ("Lohnnebenkosten") zu hoch sind bzw. noch nicht weit genug gefallen sind. Und daran werden sie durch das Sozialleistungsniveau, das einen Mindestlohn definiert und durch Tarifverträge gehindert, die das nicht zulassen.
Lohnsenkungen sind also das Ziel, " ..., denn je weiter er (der Lohn) fällt, desto attraktiver wird es für die Arbeitgeber, Arbeitsplätze zu schaffen, um die sich bietenden Gewinnchancen auszunutzen. (Sinn ebda.)
Er sagt weiter:" So wie der Apfelpreis umso niedriger sein muss, je größer die Apfelernte ist, damit alle Äpfel ihre Abnehmer finden, muss auch der Lohn der Arbeitnehmer ... umso niedriger sein, je mehr es von ihnen gibt, damit keine Arbeitslosigkeit entsteht. Das ist eine bloße Beschreibung der Funktionsweise der Marktwirtschaft, die man akzeptieren muss, wenn man diese Wirtschaftsform überhaupt will." (Sinn 2003, 177f.) Eben das ist die Frage.
Das Kapital erklärt das "Besitzstandsinteresse" der LohnarbeiterInnen zum Hauptgrund für Arbeitslosigkeit, obwohl doch der Hauptgrund sein eigenes, auf privaten Profit beschränktes Interesse an der Nutzung menschlicher Arbeitskraftwaren ist.
Das Kapital macht alles von der Lohnhöhe abhängig.
Es stimmt zwar, dass der Preis der Ware Arbeitskraft bei Kaufentscheidungen der Käufer eine Rolle spielt. Sinkende Preise können auf Obstmärkten wie auf Arbeitsmärkten zu höherer Nachfrage nach billigerer Ware führen.

Aber:
Der Unterschied zwischen einem Apfel oder einer Banane und der Ware Arbeitskraft besteht darin, dass Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen, einen Arbeitsplatz brauchen. D.h. sie brauchen Arbeitsmittel, Maschinen, Anlagen, umbauten Raum usw..
Der Konsument von einem Kilo Bananen braucht nicht einmal eine Obstschale.
Ein durchschnittlicher Arbeitsplatz war aber 2001 mit einem Sachkapital von 266.000 Euro ausgestattet. 1991 waren es noch 208.000 Euro.
Tendenz steigend. Der Lohn stellt nur einen kleinen und dazu auch noch sinkenden Anteil am Gesamtkapital pro Arbeitsplatz dar.
4,4 Millionen Arbeitskräfte zu beschäftigen würde, Investitionen von über 1.000 Mrd. Euro erfordern. Das ist undenkbar. Vollbeschäftigung ist auf dem Boden der Kapitalverwertung nicht möglich, es sei denn vorübergehend in einzelnen Ländern unter besonderen Bedingungen.
Sinkende Löhne können von daher in beschränktem Umfang allenfalls in den Bereichen zu zusätzlichen Einstellungen führen, in denen die Sachkapitalausstattung, also auch die Produktivität niedrig ist. (z.B. Waren eintüten, Hilfsdienste, Wachdienste usw.)

-> Tendenziell sinkende Profitraten
Arbeitskräfte werden ferner nur eingestellt, wenn sich "Gewinnchancen bieten" (Sinn), wenn also die Profitraten stimmen. Die Profitraten sind aber in allen Industrieländern im Vergleich zu der Zeit vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1974/75 gefallen. (Robert Brenner, Boom & Bubble, Hamburg 2003)
Es muss immer mehr Sachkapital aufgewandt werden, um dieselbe Summe an Gewinnen zu erwirtschaften. Das stellt auch die Bundesbank fest. Die Tendenz zu sinkenden Profitraten wird als sinkende "Kapitalproduktivität" bezeichnet.
Die Profitraten sinken langfristig mit wachsender Produktivität.
Das eingesetzte Sachkapital pro Arbeitskraft steigt. Das spiegelt die wachsende Produktivität wieder, also die Verdrängung menschlicher Arbeitskraft durch Maschinen usw..
Gleichzeitig fällt der Teil des Kapitals, der für Löhne ausgegeben werden muss. Das spiegelt sich darin wieder, dass der Anteil der Löhne am Umsatz, d.h. am Preis der Produkte, fällt, während der Anteil des Sachanlagevermögens und der Vorprodukte am Umsatz steigt.
Jede Investition drückt aber auf die Profitraten (unter sonst gleichbleibenden Bedingungen). Sie vermehrt die Masse des Kapitals, das verwertet werden muss. Diejenigen aber, die die Gewinne in Form von unbezahlter Arbeit erzeugen, werden mehr und mehr in die Wüste geschickt. Das zwingt dazu, die verbleibenden Arbeitskräfte stärker auszupressen.
Gleichzeitig werden mit wachsender Produktivität immer mehr Produkte erzeugt, bei relativ dazu sinkender Kaufkraft. Die Tendenz zur Überproduktion nimmt zu. Das drückt ebenfalls auf Profitraten. Die Entwicklung der Produktivität, sofern sie dem Zweck der Kapitalvermehrung dient, untergräbt also die Verwertungsbedingungen des Kapitals.
Profitraten sinken nicht bei steigendem Lohnanteil, sondern bei sinkendem Lohnanteil. Es sind also nicht zu hohe Löhne, die für die Probleme der Profitraten verantwortlich sind, sondern die Logik der Kapitalverwertung selbst.
Leider findet dieses Grundproblem der Kapitalverwertung wenig Aufmerksamkeit. Auch hieraus folgt, dass die volle Nutzung menschlicher Energien und Arbeitskraft auf diesem Boden unmöglich ist.
Denn wenn Kapital sich aufgrund seiner eigenen Logik nicht mehr ordentlich verwertet, folgen daraus sinkende Investitionslust, Kapitalüberschüsse, die verzweifelt nach Anlage suchen, Abwanderung des Kapitals in Finanzanlagen bzw. Übernahme anderer Unternehmen, Kapitalexport, Spekulation.
Nach Angaben des DIW haben die Kapitalgesellschaften 2004 nur 15 Mrd. Euro netto investiert. "Überschüssige Ersparnis wird im Ausland investiert." (FTD 11.04.2005)
Kapital, das in Deutschland "arbeitslos" geworden ist, weil seine Anlage sich nicht genug rechnet, ist die Ursache der Auslandsanlagen und nicht die zu hohen Löhne von Verkäuferinnen, Kfz-Mechanikern, Metallarbeitern und Bankangestellten.
USA exportieren wesentlich mehr Kapital im Ausland, als umgekehrt Auslandskapital in den USA investiert wird. Nicht, weil die Löhne zu hoch wären, sondern weil Kapitalüberschüsse produziert werden. Ähnlich sieht es in Großbritannien aus.

Ohne eine im Weltmaßstab ordentliche Rendite läuft nichts. (BDI-Präsident Thumann laut FTD 4.4.2005)

-> Produktivität führt zu Krisen
Weil jedes Kapital für sich in Konkurrenz zu anderen Kapitalien für unbekannte Märkte produziert, treibt zwangsläufig an irgendeinem Punkt die Produktion über die zahlungsfähige Nachfrage hinaus, egal, wie hoch diese ist.
Wenn Löhne, Sozialleistungen oder Staatsausgaben höher wären, würde das die Überproduktionskrise hinausschieben können, aber nicht verhindern.
Umgekehrt: Wenn Löhne noch niedriger wären (was das Kapital anstrebt), würden Krisen früher ausbrechen.
Das Kapital bewältigt die Krise seiner Verwertung nicht durch die Erhöhung der Binnennachfrage (Illusion der SPD), sondern durch das Vordringen in noch nicht erschlossene Märkte (China, Osteuropa usw.), Kapitalvernichtung, höhere Produktivität sowie Lohnsenkungen. So wirkt es dem Fall der Profitraten in der Krise entgegen.

->) Kapitalüberschuss steigt
Langfristig gesunkene Profitraten führen dazu, dass immer mehr Kapital überschüssig wird, insbesondere seit den 80er Jahren.
Es ist eine Überliquidität festzustellen, die sich in wachsender Verschuldung von Unternehmen, Staat und Privathaushalten ausdrückt, ebenso in Aktienkursen bzw. erheblich steigenden Immobilienpreisen, aber auch in historisch niedrigen Zinsen.

"Anleger wissen nicht, wohin mit dem Geld," gestand die Welt am Sonntag. (21.06.2003) Sie kaufen alles, was ihnen vor die Flinte kommt. Der Kapitalüberschuss ist durch die Logik der Kapitalverwertung erzeugt worden, egal ob Kapitalisten langfristig oder kurzfristig denken. Insbesondere seit den 80er Jahren fließt der Kapitalüberschuss in Aktienkäufe, in Firmenübernahmen, ins Ausland, in Kreditvergabe aller Art. Der sogenannte shareholder value ist das nicht das Hauptproblem. Aktionäre (shareholder - Anteilseigner), die Dividenden und Kurssteigerungen sehen wollen, gibt es seit es Aktiengesellschaften gibt. Erst seitdem Gebirge an überschüssigem Kapital produziert werden und gleichzeitig die Profitraten gefallen sind, werden Käufe von Unternehmensanteilen zum Sport, um in der Hoffnung, Kursgewinne zu realisieren.
Das Ganze ist keine amerikanische Spezialität.
Die Überproduktion an Kapital wird ebenso in Finanzkrisen vernichtet, wenn aufgeblähte Kurse oder Vermögenswerte fallen bzw. Kredite nicht mehr zurückgezahlt werden können. Der Kapitalüberschuss fließt nicht in gesellschaftlich nützliche Aufgaben, z.B. ins Bildungswesen, in Kindergärten, in kostenlose Gesundheitsversorgung, Kultur usw. bzw. allgemein in die Schaffung von Arbeitsplätzen. Das Kapital zockt und verzockt ihn lieber. Finanzkrisen verstärken Überproduktionskrisen.
Der Überschuss an Arbeitskräften und der Überschuss an Kapital kommt nicht zusammen, weil das Interesse an privaten Profitraten dazwischen steht.

Grundproblem also:
Produktivität der Arbeitskräfte schlägt auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung gegen sie aus, statt ihren Wohlstand zu vermehren.
Sie setzt Arbeitskräfte frei und schafft damit die Voraussetzungen für Lohnsenkungen und damit für die Verarmung der Arbeitenden.
Sie schafft objektiv die Voraussetzungen für gewaltige Arbeitszeitverkürzungen, führt aber zu Arbeitszeitverlängerung.
Sie produziert einen wachsenden Widerspruch zwischen Produktion und Konsumtion und damit eine wachsende Gefahr von Krisen und Stagnation.
Sie produziert gewaltige Reichtümer, die aber in Finanzspekulation fließen, statt in ein besseres Leben für alle. Und damit die Krisenhaftigkeit verstärken.
Sie führt dazu, dass die Lage der arbeitenden Menschen mit wachsendem gesellschaftlichen Reichtum immer unsicherer wird (prekärer).
Die wachsende Produktivität erschüttert unter der Regie des Kapitals auch die Grundlagen der Sozialversicherung und der Staatsfinanzen. Eine weitere Senkung des Lebensstandards ist damit vorprogrammiert.

Grundproblem ist:
Arbeitskraft ist eine Ware, die im Wesentlichen nur genutzt wird, wenn sich damit Kapital vermehren lässt. Lohnarbeit ist immer weniger imstande, die Produktivität aller zu entfalten. Sie hemmt.
Die rasant steigende betriebliche Produktivität hat unter der Regie des Kapitals als Kehrseite, dass die menschliche Gesamtproduktivität, die Gesamtheit menschlicher Fähigkeiten und Energien, immer weniger ausgeschöpft werden kann.
Wir verzeichnen eine gewaltige Verschwendung menschlicher Produktivkräfte.
Produktionsmittel und Reichtum haben die Form von Kapital, dienen also in erster Linie der Vermehrung von Kapital, statt der Befriedigung von gesellschaftlichen Bedürfnissen.
Ziel des überschüssigen Kapitals ist nicht, soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Kluft zwischen Arm und Reich zu verringern und Arbeitsplätze zu schaffen.
Kapital ist Selbstzweck. Es will nur sich selbst vermehren. Sonst nichts.
Das Rätsel, was unter diesen Bedingungen soziale Gerechtigkeit im Namen der sozialen Marktwirtschaft bedeuten soll, mag jeder selber lösen.
Vor unseren Augen entwickelt sich ein unlösbarer Widerspruch: einerseits eine mit der technologischen Revolution stark steigende Produktivität und höhere Produktion, andererseits aber wachsende Arbeitslosigkeit mit dem entsprechenden Druck auf sinkende Löhne. Eine Wirtschaftsordnung, die einen wachsenden Teil ihrer produktiven Kräfte vergeudet, kurz hält und in immer wiederkehrenden Überproduktionskrisen und Finanzkrisen teilweise wieder zerstört, wird die Jahrhunderte nicht überdauern können.
Letztlich haben in der Geschichte nur die Eigentumsverhältnisse Bestand, unter denen sich Produktivkräfte ausreichend entfalten können.

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