Kategorie: Deutschland

Wird es Sankt Martin richten?

100 Prozent für Martin Schulz. Was früher immer als totalitäres Wahlergebnis aus der DDR oder Nordkorea verhöhnt wurde, hat die deutsche Sozialdemokratie am vergangenen Sonntag bei ihrem Sonderparteitag vorgeführt. Mit dem neuen Parteichef und Spitzenkandidaten Martin Schulz ist die Partei, die bis vor wenigen Wochen in bundesweiten Umfragen auf 20 Prozent abgesackt war, selig.


Ein neues Gesicht, flotte Sprüche und winzige Versprechen, dass es nach der Bundestagswahl am 24. September etwa sozialer zugehen soll, reichen schon aus, um die SPD-Funktionäre und Mitglieder aus der Depression und dem Tal der Tränen in eine unvorstellbare Hochstimmung zu reißen. Da wagte es niemand unter den Delegierten, mit einem Nein oder einer Enthaltung in der geheimen Abstimmung „Spielverderber“ zu sein.

Die Berliner „Krönungsmesse“ für Schulz war gut inszeniert. Die kurze „Debatte“ wirkte wie eine perfekt inszenierte Show, bei der Vertreter bestimmter Flügel und Personengruppen dem neuen Parteichef und Kanzlerkandidaten huldigten. Zuvor gelobte der scheidende Parteichef Sigmar Gabriel, die Partei werde sich „nie wieder so weit von den Gewerkschaften entfernen“ und Arbeitnehmerinteressen seien „das Herz der SPD“.

Schulz kokettierte mit seiner Herkunft als „Kind einfacher und anständiger Leute“ und verherrlichte die 154-jährige SPD-Geschichte mit den Worten „Der mutige Kampf für Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie wird in Deutschland seit 150 Jahren symbolisiert durch die drei Buchstaben SPD.“ Dass die SPD-Führung „mutig“ den Ersten Weltkrieg und die Kriege gegen Rest-Jugoslawien 1999 und Afghanistan 2001 unterstützte, ganz „freiheitlich“ die Agenda 2010 einführte, „ganz gerecht“ Griechenland erpresste und ausbluten ließ und die „Demokratie“ und „Festung Europa“ durch Abschiebungen verteidigte, kam in dieser Geschichtsklitterung nicht vor.

Schulz wurde nur in wenigen Passagen seiner Rede relativ konkret. So forderte er vehement gleichen Lohn für gleiche Arbeit, einer längeres Arbeitslosengeld I für Ältere, mehr Polizei und mehr Respekt für Feuerwehr und Rettungskräfte und für RentnerInnen ein „Leben in Würde“. Die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen will er „auf den Prüfstand stellen“, der „Missbrauch“ von Leiharbeit sei „nicht akzeptabel“. Aber ein Infragestellen der Agenda ist damit nicht gemeint, schließlich will der Kandidat aus Würselen nicht mehr die Debatten von vor 14 Jahren führen und setzt stattdessen „eine zukunftsgerichtete Fortschreibung der Reformen“.

Es ist bemerkenswert, dass schon solche, relativ bescheidenen und schwammig formulierten Forderungen eines SPD-Chefs derartige Begeisterungsstürme auslösen können. Da muss die Not und Entwöhnung an der Basis wirklich groß gewesen sein.
Bei näherer Betrachtung stellt Schulz natürlich nicht die Fundamente der Agenda 2010 und vor allem nicht das Hartz IV-Zwangs- und Repressionssystem in Frage, sondern will nur einzelne „Auswüchse“ stutzen. Damit möchte er vor allem die Stammbelegschaften und Facharbeiter beruhigen und Abtrünnige wieder einfangen. Wer in den Mühlen von Hartz IV gefangen ist, hat von Schulz nach Stand der Dinge nichts zu erwarten und scheint für die SPD-Bürokratie auch nicht mehr als wichtige Wählerklientel interessant zu sein, zumal unter erwerbslosen, ausgegrenzten Menschen die Wahlbeteiligung besonders niedrig ist. Schulz zielt in seinen Reden auf „hart arbeitende Menschen“ ab. Das taten Bill Clinton und Helmut Kohl auch. Wer arbeitslos, prekär oder unterbeschäftigt ist oder gesundheitlich bedingt früher in Rente gehen musste, ist damit offenbar nicht gemeint und hat wenig zu erwarten. Schulz möchte die herrschende Klasse nicht stärker zur Kasse bitten. Forderungen nach einer deutlich stärkeren Besteuerung der Unternehmen und Reichen weist er mit dem Hinweis auf eine notwendige europäische „Steuerharmonisierung“ von sich. Damit denkt auch Schulz nicht im geringsten daran, das in der Ära Kohl bis 1998 vergleichsweise hohe Niveau an Besteuerung des Kapitals und an Sozialleistungen wieder herzustellen.

Woher kommt der Hype?

Dass die SPD seit der Nominierung von Martin Schulz zum Parteichef und Kanzlerkandidaten in Meinungsumfragen binnen weniger Wochen über zehn Punkte zugelegt und inzwischen weit über 16.000 neue Mitglieder aufgenommen hat, ist auch Ausdruck gesellschaftlicher und politischer Instabilität und Volatiliät. Schulz ist allerdings ein rechter Sozialdemokrat und Mann des Apparats, der die Agenda 2010 ebenso unterstützt hat wie die Politik der EU gegenüber Griechenland. Er ist kein deutscher Corbyn und kein deutscher Sanders. Er musste sich nicht als Wortführer eine linken Basisbewegung durchkämpfen und gegen alle Widerstände des Apparats behaupten, sondern wurde von oben durch Sigmar Gabriel und einen kleinen Zirkel in seine Position gehievt. Dass er mit der Forderung nach zaghaften „Korrekturen“ den Nerv vieler Arbeiter und Jugendlicher trifft, zeigt im Ansatz die Sehnsucht nach einem grundlegenden Kurswechsel auf. In der blinden Schulz-Euphorie sehen wir gleichzeitig aber auch einen Hinweis auf den anhaltenden Niedergang des politischen Niveaus der SPD-Basis, die sich im Glauben an eine Wunderwaffe an Schulz klammert und ihn fast wie einen Messias verehrt. Viele der heute aktiven SPD-Mitglieder sind erst während und nach der Ära Schröder eingetreten und aktiv geworden und schlucken dementsprechend in blinder Loyalität fast alles, was von oben kommt. Ein kämpferischer linker SPD-Flügel ist derzeit nicht in Sicht.

Martin Schulz hat als Fraktionschef der Sozialdemokraten und Präsident des EU-Parlaments seine Feuertaufe als Interessenvertreter des Kapitals bestanden und macht damit Merkel den Rang als „Krisenmanager“ streitig. Als im vergangenen Oktober die Wallonie kurzzeitig gegen CETA rebellierte, war er als Feuerwehrmann zur Stelle und bändigte erfolgreich die widerspenstigen Regionalpolitiker.

Dass auch rechte Sozialdemokraten mit sozialen und radikal klingenden Phrasen polarisieren und mobilisieren können, ist keine neue Erscheinung. So setzte sich Gerhard Schröder in der heißen Wahlkampfphase im Sommer 2002 von der Kriegspolitik des US-Präsidenten George W. Bush ab und distanzierte sich vom anstehenden Irak-Krieg. Damit entriss er der PDS das wichtige Alleinstellungsmerkmal der „Friedenspolitik“ und erreichte bei der Bundestagswahl im September eine neue Mehrheit für die Koalition mit den Grünen, während die PDS mit vier Prozent aus dem Bundestag flog.

Es ist daher kein Zufall, dass Gabriel und Schulz bei der „Krönungsmesse“ am Sonntag an das Jahr 2002 erinnerten und sich damit brüsteten, dass Schröder damals einen „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ der USA abgelehnt habe. Was sie allerdings nicht sagen: Die Regierung Schröder gewährte damals den US-Truppen Überflug- und Landerechte und unterstützte den Krieg indirekt.

Drei Jahre später, als die Agenda 2010 zu einer Abspaltung von der SPD in Form der WASG führte und die SPD die Landtagswahl in NRW haushoch verlor, wollte es Schröder noch einmal wissen und polarisierte im Wahlkampf für die vorgezogenen Bundestagswahlen so stark, dass die SPD am Ende einer rasanten Aufholjagd nur ein Prozent hinter der CDU/CSU lag.

Dieses Phänomen haben wir nach der Bundestagswahl 2005 schon in der Ausgabe 56 unserer Zeitschrift beschrieben: „Wenn die Massen derzeit auf die SPD stinkesauer sind, dann deshalb, weil sie es von ihr „eigentlich“ anders erwarten. Das Verhältnis zwischen der Arbeiterklasse und der sozialdemokratischen Bürokratie ist vergleichbar mit dem Drama, das sich tagtäglich millionenfach in deutschen Familien abspielt: Lieschen Müller wird seit Jahrzehnten von ihrem Ehemann betrogen, geschlagen, missachtet und misshandelt. Schon mehrfach hat sie in Gedanken die Koffer gepackt und die Flucht vorbereitet. Doch immer wieder zögert sie im letzten Moment und gibt ihrem tyrannischen Heinz-Hugo eine neue Chance: „Jetzt hat er mir versprochen, dass er lieb zu mir ist. Er hat mir zu meinen Geburtstag einen Blumenstrauß geschenkt.“

Die SPD hat zwar aufgrund ihrer langen Tradition vor allem im Westen immer noch große soziale Reserven. Aber selbst ein SPD-Wahlergebnis im Bund von deutlich über 30 Prozent im September 2017 wäre noch bescheiden im Vergleich zu früheren Werten. Als Messlatte dient hier das Abschneiden von 1998. Damals errang sie bei einer hohen Wahlbeteiligung von über 82 Prozent knapp 41 Prozent der Zweitstimmen und als erste Partei in der deutschen Geschichte mehr als 20 Millionen Stimmen. Ein solches Niveau dürfte 2017 unerreichbar sein.

Schulz soll die SPD in den anstehenden Landtagswahlen im Saarland und in Schleswig-Holstein stärken und vor allem zu einem SPD-Sieg bei der anstehenden Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen (NRW) am 14. Mai beitragen. NRW mit den traditionellen Industriezentren an Rhein und Ruhr ist das bevölkerungsreichste Bundesland und hat mehr Einwohner als die ehemalige DDR. Zum Jahresbeginn standen SPD und CDU im bevölkerungsreichsten Bundesland gleichauf bei mageren 31 Prozent. Bis auf die Jahre 2005-2010 regiert hier die SPD seit 50 Jahren ununterbrochen, für sie steht hier also viel auf dem Spiel.

Dass die Think-Tanks der herrschenden Klasse wie die „Initiative Soziale Marktwirtschaft“ mit ganzseitigen Zeitungsanzeigen selbst gegen die zaghaftesten Änderungsvorschläge von Schulz an der Agenda 2010 Sturm laufen, dürfte Schulz in einem von der sozialen und Klassenfrage geprägten Wahlkampf eher zugute kommen und Zulauf bringen. SPD-Erfolge in den Landtagswahlen wiederum könnten die Partei und ihre traditionelle Anhängerschaft in der heißen Phase des Bundestagswahlkampfs beflügeln.

Worte und Taten

Die herrschende Klasse fürchtet nicht die sozialdemokratische Führung und weiß, dass diese unter Kanzler Schröder der Arbeiterklasse massive Verschlechterungen zugemutet hat, die unter einer CDU-Kanzlerschaft massive Proteste provoziert hätten. Die SPD ist seit 1998 bis auf eine vierjährige Unterbrechung in der Bundesregierung vertreten und hätte genug Zeit gehabt, um ihre (vorgeblichen) Ziele umzusetzen. Sie stellt derzeit neun der 16 Regierungschefs der Länder und ist in weiteren vier Ländern als Juniorpartnerin in der Exekutive vertreten. Damit hätte sie in der jüngsten Tarifrunde für die Länder durchaus genügend Einfluss gehabt, um die von Martin Schulz von den Gewerkschaften geforderte Beendigung sachgrundloser Befristungen und kräftige Lohnerhöhungen in den Tarifverträgen festzuschreiben, was jedoch nicht geschehen ist.

Die Bundestagswahl findet am 24. September und damit in einem halben Jahr statt. Wir sollten aber jetzt Schulz beim Wort nehmen und Taten einfordern. Schließlich haben SPD, LINKE und Grüne zusammen jetzt eine Mehrheit im Bundestag. Kein Mensch weiß, wie es nach dem 24. September aussieht. Daher ist es richtig, wenn die Linksfraktion all das, was Schulz jetzt fordert, als Anträge im Bundestag einbringt. Sachgrundlose Befristung und Leiharbeit stoppen, ALG I verlängern, Renten auf Existenzminimum anheben, gebührenfreie Bildung für alle – alle dies könnte in wenigen Wochen über die Bühne gehen und beschlossen werden, wenn, ja wenn nur die SPD-Führung den Mut hätte, die Koalitionsdisziplin mit der CDU/CSU zu brechen. Leider müssen wir jedoch davon ausgehen, dass die SPD-Bundesfraktion diesen Mut nicht aufbringt.

Aber es reicht nicht aus, wenn die Linksfraktion solche Anträge im Parlament einbringt und kein Mensch kriegt es mit. Dies muss einhergehen mit einer flächendeckenden bundesweiten Kampagne, mit Massenflugblattaktionen auf Marktplätzen, vor Betrieben, in Wohngebieten. Auch und gerade bei den DGB-Maikundgebungen. Damit wäre klar, wer wirklich etwas im Sinne der „kleinen Leute“ und der „hart arbeitenden Menschen“ verändern will und wer nicht.

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