Kategorie: Theorie

Zum 98. Todestag von Lenin

Vor 98 Jahren, am 21. Januar 1924, starb der russische Revolutionär Lenin. Wir veröffentlichen hier einen Auszug aus Trotzkis Buch "Der junge Lenin".

Bild: In Defence of Marxism


Das verletzende Ungemach, das den Gegnern und später ganzen Klassen zugefügt wurde, hat eine Reihe von Publizisten und Literaten veranlaßt, Lenin schon in seiner Jugend als rothaariges Ungeheuer darzustellen, voll von Grausamkeit, Ehrgeiz und Rachsucht. Jewgenij Tschirikow, der gleichzeitig mit Uljanow von der Kasaner Universität relegiert wurde, schilderte in seinem schon nach dem Oktoberumsturz in der weißen Emigration geschriebenen Roman den jungen Wladimir als „krankhaft eitel und leicht beleidigt“. Wodowosow erzählt: „Die groben Ausfälle und Gesten Wladimirs, seine groben und scharfen Bemerkungen usw. – sie waren bei ihm nicht selten – schockierten Maria Alexandrowna schrecklich. Häufig entfuhr es ihr: ‚Ach, Wolodja, Wolodja, wie kann man nur ...!‘“ In Wirklichkeit war sich Wladimir seiner Bedeutung allzu klar bewußt, um in krankhafte Eitelkeit zu verfallen. Beleidigt zu sein hatte er schon aus Mangel an Beleidigerkandidaten keinen Anlaß. Aber zweifellos verschonte die recht grobe Unbarmherzigkeit Wladimirs nicht immer die Eigenliebe der anderen. Einige Gegner standen ihm, wie Jassnewa berichtet, „schon vom erstenmal an feindselig gegenüber“, und zwar so, daß ihre Feindseligkeit für ihr ganzes weiteres Leben nicht erkaltete.

Zu diesen für immer Beleidigten gehörte auch der verstorbene Wodowosow. Bei seinem Auftauchen in Samara empfing ihn Wladimir herzlich, half ihm, sich einzurichten, durchschaute aber sehr bald diesen unfruchtbaren Eklektiker, den man weder als Anhänger gewinnen noch als Gegner ernst nehmen konnte. Die Zusammenstöße wegen der Hilfe für die Hungernden und der Adresse an den Gouverneur blieben nicht ohne Folgen: der Erbitterung Wodowosows gegen den jungen Uljanow verdanken wir einige Seiten seiner Erinnerungen, auf denen der Autor, zum Vorteil für den Leser, mehr sagt, als er sagen wollte.

„Sein ganzes Gesicht“, schreibt Wodowosow über das Aussehen Wladirnirs, „überraschte durch eine gewisse Mischung Verstand und Grobheit, ich möchte sagen, eine gewisse Tierhaftigkeit. Ins Aug’ sprang die Stirn: gescheit, aber dachförmig. Die fleischige Nase ... Irgend etwas Verbissenes, Grausames in diesen Zügen verband sich mit zweifellosem Verstand.“ In seinem pamphletischen Roman läßt Tschirikow die Simbirsker Jugend über Wladimir Uljanow erzählen: „Er hat immer feuchte Hände! Und gestern erschoß er mit dem Gewehr eine junge Katze ... Dann packte er sie beim Schwanz und warf sie über den Zaun ...“ Kuprin, ein anderer, ebenfalls ziemlich bekannter russischer Literat, entdeckte bei Lenin, allerdings in späteren Jahren, die grünen Augen eines Affen. So wird gar das Aussehen, wie man meinen sollte das am wenigsten problematische Element am Menschen, durch Erinnerung und Phantasie einer tendenziösen Bearbeitung unterzogen.

Ein Photo aus dem Jahre 1890 zeigt ein frisches Jungengesicht, hinter dessen Ruhe man irgend etwas Verborgenes fühlt. Die eigenwillige Stirn wird noch nicht von einer Glatze fortgesetzt. Die kleinen Augen blicken hell aus den asiatischen Schlitzen. Ein wenig an Asien erinnern auch die Backenknochen. Die vollen Lippen unter der breiten Nase und das starke Kinn sind von spärlichem Flaum umgeben, der weder Schere noch Messer kennengelernt hat. Das Gesicht ist zweifellos unhübsch. Aber aus diesen simplen, ungeformten Zügen leuchtet eine viel zu hohe Disziplin des Geistes, als daß man an Tierhaftigkeit auch nur denken könnte. Die Hände Wladimirs waren trocken, von plebejischer Form; warme, tapfere Hände. Junge Katzen liebte er, wie überhaupt alles Schwache und Schutzlose, mit der herablassenden Liebe eines starken Menschen. Die Herren Literaten haben ihn Verleumdet!

„In moralischer Hinsicht“, fährt Wodowosow fort, „sprang bei Wladimir Iljitsch ein gewisser Amoralismus ins Auge, der meiner Meinung nach seiner Natur organisch eigen war.“ Der Amoralismus bestand, Wodowosow zufolge, darin, daß er jedes Mittel als zulässig betrachtete, wenn es nur zum Ziel führte. Ja, Uljanow war nicht Anhänger einer pfäffischen oder kantianischen Moral, die angeblich berufen ist, unser Leben aus Sternenhöhen zu regulieren. Seine Ziele waren so groß und überpersönlich, daß er ihnen offen seine moralischen Kriterien unterordnete. Mit ironischer Gleichgültigkeit, wenn nicht mit Ekel, behandelte er jene Feiglinge und Heuchler, die ihre winzigen Ziele oder ihre kläglichen Methoden mit den höchsten Normen rechtfertigten, die dem Namen nach absolut, in Wahrheit aber sehr anpassungsfähig sind.

„Konkrete Tatsachen, die den Amoralismus Lenins beweisen“, macht Wodowosow ganz unerwartet einen Vorbehalt, „kenne ich nicht.“ Aber er stöbert in seinem Gedächtnis herum und kann sich dann doch erinnern, wie es sein zartes Gewissen „verletzte, daß Lenin geneigt war, Klatschereien zu begünstigen“. Wir wollen uns dazu herablassen, den Ankläger anzuhören. Irgendwie sagte Wodowosow einmal in einer kleinen Gruppe, daß Uljanow sich nicht scheut, zu wissentlich lügenhaften Argumenten zu greifen, „wenn sie nur ... bei Zuhörern, die sich schlecht auskennen, zum Erfolg führen“. Wodowosow selbst maß, wie aus seinen Ausführungen hervorgeht, der eigenen Verleumdung „keinerlei Bedeutung“ bei und ging bald darauf zu Uljanow, als ob nichts gewesen wäre. Doch Wladimir, dem einer seiner Freunde die beleidigende Äußerung mitgeteilt hatte, verlangte vom Gast eine Erklärung. Wodowosow „versuchte seine Ausdrücke abzuschwächen“. Das Gespräch führte formell zu einer Versöhnung. Aber im Frühjahr 1892 verschlechterten sich die Beziehungen derart, daß man sich fast nicht mehr traf.

Bei aller Banalität ist die Episode wirklich bemerkenswert. Der Moralist beschuldigt den Amoralisten hinter seinem Rücken, daß er wissentlich verlogene Argumente benütze. Dann kommt er, der der eigenen Insinuation „keine Bedeutung beimißt“, als Freund zum Verleumdeten auf Besuch. Der Amoralist, der gewohnt ist, seinen Worten Bedeutung beizumessen, fordert offen eine Erklärung. Der in die Enge getriebene Moralist windet sich, weicht zurück, verleugnet seine eigenen Worte. Auf Grund von Wodowosows Bericht kann man nur zu dem Schluß kommen, daß der Moralist einem nicht sehr tapferen Schwätzer gleicht, während das Verhalten des Amoralisten zeigt, daß ihm gerade die Neigung fehlte, „Klatschereien zu begünstigen“. Fügen wir noch hinzu, daß Wodowosow selbst den Inhalt seiner Beschuldigung widerlegt, Uljanow benütze wissentlich erlogene Argumente, wenn er in anderem Zusammenhang über ihn schreibt: „Die tiefe Überzeugung, daß er im Recht war, durchdrang alles, was er sagte.“ Merken wir uns diese ganze Episode: sie wird uns immer wieder bei vielen Konflikten als Schlüssel dienen, wo Heuchler den Revolutionär beschuldigten, er sei in Fragen der Moral nicht wählerisch.

Aus der Samarer Periode sind keine Briefe Wladimirs oder über Wladimir, überhaupt keine menschlichen Dokumente erhalten geblieben. Alle Äußerungen von Freunden wie von Gegnern sind durch die Bank rückblickend und unter dem mächtigen Einfluß der Sowjetperiode unvermeidlich gefärbt. Aber wenn man sie kombiniert und einander gegenüberstellt, gestatten sie immerhin, wenigstens teilweise die Gestalt Lenins im Morgengrauen seiner revolutionären Arbeit wiederherzustellen.

Vor allem muß man bemerken, daß Wladimir Uljanow absolut nicht dem klassischen Typ des russischen Nihilisten glich, der uns nicht nur in reaktionären Romanen, sondern manchmal auch im Leben begegnete: ein wildes Büschel ungekämmter Haare auf dem Kopf, unordentliche Kleidung und Knotenstock. „Über der Stirn begann sich schon damals sein Haar beträchtlich zu lichten“, erinnert sich Semjonow. Weder in der Kleidung noch in den Manieren gab es irgend etwas, das in die Augen sprang oder herausforderte. Sergijewskij, der ungefähr zur selben Generation von Marxisten gehörte, gibt eine nicht uninteressante Schilderung Lenins am Ende der Samarer Periode ... Ein bescheiden, akkurat, und, wie man so sagt, tadellos, aber ohne Prätentionen gekleideter Mensch, der in keiner Weise unter den Durchschnittsbürgern auffiel. Diese Schutzfarbe gefiel mir ... Jenen verschmitzten Gesichtsausdruck, der später, nach der Verbannung, meine Aufmerksamkeit erregte, habe ich damals nicht bemerkt ... Vorsichtig, forschend um sich blickend, beobachtend, ruhig, beherrscht bei all seinem mir schon aus Briefen bekannten Temperament ...“

Semjonow gibt dabei auch ein Bild der Sitten der Samarer radikalen Jugend. Wenn er zu Skljarenko kam, legte Uljanow sich rücklings auf dessen Bett, „nachdem er vorher unter die Füße eine Zeitung gebreitet hatte“, und begann, den Gesprächen rund um den Samowar zuzuhören. Irgendein geäußertes Urteil veranlaßte ihn, seine Stimme laut werden zu lassen. „Unsinn ...“, hörte man vom Bett her, und dann begann eine systematische Auseinandersetzung. Die unlöbliche Manier, sich auf ein fremdes Bett zu setzen oder zu legen, war in den Kreisen der Jugend gang und gäbe als Folge der ungezwungenen Sitten und des Mangels an Sitzgelegenheiten. Wenn sich Wladimir durch etwas von den anderen unterschied, dann war es die Gewohnheit, sich eine Zeitung unter die Füße zu breiten. Die Schärfe seiner Repliken brachte die Unversöhnlichkeit der Ablehnung zum Ausdruck und zwang den Gegner, sein wahres Gesicht zu zeigen.

In den Gesprächen rund um den Samowar oder im Boot auf der Wolga fegte Uljanow, nachdem er den Anti-Dühring, diese polemische Enzyklopädie des Marxismus, studiert hatte, die metaphysischen Werte aus den jungen Köpfen. Gerechtigkeit? Ein Mythos, der das Recht des Stärkeren bemäntelt. Absolute Normen? Moral als Dienerin materieller Interessen. Staatsmacht? Exekutivkomitee der Ausbeuter. Revolution? Befleißigt euch hinzuzufügen: bürgerliche. In diesen und anderen Aussprüchen, die das Porzellan des Idealismus in Scherben schlugen, muß man offenbar den Schlüssel zu der frühen Reputation als „Amoralist“ suchen: Die nach den Schulvorschriften erzogenen Zuhörer waren bestürzt, versuchten zu protestieren. Das hatte der junge Athlet nur noch gebraucht. „Sophismen?“, „Paradoxa?“ Nach links und nach rechts sausten die freundschaftlichen Hiebe. Der überrumpelte Opponent verstummte und vergaß manchmal sogar, den Mund zuzumachen; dann begann er die Bücher aufzustöbern, auf die sich Uljanow berief, und so mancher erklärte sich in der Folge selbst als Marxist.

In den Debatten mit den Narodowolzen und Jakobinern wandte Wladimir, die Koryphäe des wachsenden marxistischen Glans, die sokratische Methode an. – Nun, ihr ergreift die Macht, und was dann? – fragte er den Gegner. – Dekrete! – Aber auf wen werdet ihr euch stützen? – Auf das Volk! – Aber wer ist „das Volk“? – Dann folgte die Analyse der Klassengegensätze. Am Ende der Samarer Periode ging ein Manuskript Uljanows bei der Jugend von Hand zu Hand: Streit zwischen einem Sozialdemokraten und einem Volkstümler, eine leider verlorengegangene Arbeit, die vermutlich die Samarer Dispute in Form eines Dialogs resümierte.

Wladimir stritt leidenschaftlich – er tat alles leidenschaftlich –, aber nicht einfach wild drauflos. Er stürzte sich nicht Hals über Kopf ins Gedränge, unterbrach nicht, versuchte nicht, die anderen zu überschreien, ließ den Gegner ausreden, selbst wenn die Empörung ihn würgte, suchte aufmerksam die schwachen Stellen, und dann ging er mit großartiger Wucht zum Angriff über. Aber selbst an den wütendsten Schlägen des jungen Polemikers war nichts Persönliches. Er griff Ideen an oder ein gewissenloses Verhalten, das aus ihnen sprach; der Mensch bekam nur nebenbei etwas ab. Jetzt war die Reihe zu schweigen an den Gegnern. Wladimir unterbrach nicht die anderen, aber er ließ auch sich nicht von den anderen unterbrechen. So wie beim Schachspiel nahm er selbst niemals einen Zug zurück, gestattete es aber auch den anderen nicht.

Merkwürdig berührt die Behauptung Maria Uljanowas von der Schüchternheit Wladimirs als Familieneigentümlichkeit. Der Mangel an psychologischem Scharfblick, der sich bei vielen Aussagen der jüngeren Schwester zeigt, zwingt um so mehr zur Vorsicht, je natürlicher in diesem Fall das Bedürfnis ist, bei Lenin möglichst viele „Familieneigentümlichkeiten“ zu finden. Allerdings, das uns bereits bekannte Photo aus dem Jahre 1890 weist scheinbar wirklich auf einen Kampf zwischen Schüchternheit und noch nicht voll entwickeltem Selbstbewußtsein hin. Es sieht so aus, als genierte sich der junge Mann vor dem Photographen oder machte ihm wider Willen ein Zugeständnis, so wie sich Lenin dreißig Jahre später genieren wird, der Stenographin seine Briefe und Artikel zu diktieren. Wenn das „Schüchternheit“ ist, dann bedeutet sie auf keinen Fall ein Gefühl der Schwäche oder allzu große Empfindsamkeit: sie ist ein Schutzschirm der Stärke. Ihre Aufgabe ist es, die innere Welt vor allzu nahen Berührungen, vor unerwünschter Familiarität zu schützen.

Bei verschiedenen Mitgliedern einer Familie kann eine dem Namen nach gleiche Eigentümlichkeit nicht nur stark variieren, sondern auch in ihr Gegenteil übergehen. Die Schüchternheit Alexanders, die alle, die ihm nahestanden, feststellten, fügt sich sehr gut in das Bild seines zurückhaltenden und verschlossenen Wesens. Alexander schämte sich bekanntlich seiner Überlegenheit, wenn er sich ihrer bewußt wurde. Aber gerade dieser Zug unterschied ihn vom jüngeren Bruder, der bedenkenlos seine Überlegenheit über die anderen zur Schau stellte. Man kann sogar sagen, daß die aggressive Natur Wladimirs, bei voller Unterordnung unter die Idee und beim Fehlen von persönlichem Ehrgeiz, gewissermaßen von den Hemmungen der Schüchternheit befreite; auf jeden Fall, wenn ihn mitunter, besonders in jungen Jahren, ein peinliches Gefühl des Unbehagens überkam, dann nicht seinetwegen, sondern wegen der anderen, wegen der Banalität ihrer Interessen, der Vulgarität ihrer Scherze – oder ganz einfach wegen fremder Dummheit. Samoilow hat uns Wladimir in einem für ihn neuen Kreis gezeigt: „Er sprach wenig, aber das geschah sichtlich durchaus nicht deshalb, weil er sich im unbekannten Milieu unbehaglich fühlte.“ Im Gegenteil, seine Anwesenheit zwang die anderen, auf der Hut zu sein; Leute, die gewöhnlich sehr ungezwungen waren, begannen vorsichtig, beinahe schüchtern zu werden.

Die ältere Schwester hat uns seinerzeit erzählt, wie zurückhaltend die Kameraden in Anwesenheit Alexanders waren, wie sie „sich schämten, in seiner Gegenwart dummes Zeug zu schwätzen, wie sie zu ihm aufblickten und auf seine Meinung warteten“. So sehr die Naturen der Brüder auch kontrastierten, wirkte Wladimir in dieser Hinsicht auf die anderen wie sein Bruder, „wie Sascha“: er zwang sie, sich über sich selbst zu erheben. Semjonow schreibt: „Wladimir Iljitsch war schon in der Jugend jegliche Boheme fremd ... und in seiner Gegenwart rissen wir uns alle, die zum Zirkel Skljarenko gehörten, irgendwie zusammen ... Frivole Gespräche, grobe Scherze waren in seiner Gegenwart unmöglich.“ welch unschätzbares Zeugnis! Wladimir konnte in hitzigen Diskussionen oder bei der Einschätzung des Feindes plebejische Ausdrücke gebrauchen, aber er erlaubte sich keine schmutzigen Anspielungen, keinen trivialen Scherz, keinen pornographischen Witz, wie sie in den Kreisen der männlichen Jugend üblich sind. Nicht deshalb, weil er sich in dieser Hinsicht irgendwelche asketischen Regeln aufzwang: dieser „Amoralist“ brauchte keine transzendentale Knute; und erst recht nicht deshalb, weil er von Natur aus allen anderen Seiten des Lebens außer der Politik teilnahmslos gegenübergestanden wäre. Nein, nichts Menschliches war ihm fremd. Es gibt allerdings keine Erzählungen über Beziehungen des jungen Uljanow zu Frauen. Es hat wahrscheinlich Flirt und Verliebtheit gegeben: nicht zufällig sang er wohl von den bezaubernden Augen und tarnte das Gefühl durch Ironie. Aber auch wenn man keine Einzelheiten weiß, kann man mit Überzeugung sagen, daß Wladimirs Beziehung zu Frauen von Jugend an und sein ganzes Leben lang rein war. Der fast spartanische Zug in seinem Charakterbild beruhte nicht auf einem kalten Temperament. Im Gegenteil, Leidenschaftlichkeit war das Grundelement seiner Natur. Aber sie wurde ergänzt – es läßt sich schwer ein anderes Wort finden – durch Keuschheit. Die organische Kombination dieser beiden Elemente, Leidenschaftlichkeit und Keuschheit, macht Zynismus ganz undenkbar. Um über den anderen zu stehen, dazu benötigte Wladimir keinerlei Ketten der Moral: er besaß genügend organischen Abscheu vor allem Ordinären und Trivialen.

Derselbe Wodowosow bestätigt, daß Wladimir im marxistischen Zirkel von Samara eine „unbestrittene Autorität war, er wurde dort fast ebenso vergöttert wie in der Familie“, obwohl manche älter waren als er. „Seine Autorität war im Zirkel unbestritten“, versichert auch Semjonow. Lalajanz schreibt, daß Uljanow, den er ein Jahr nach der Geschichte mit Wodowosow traf, ihn sofort bezwang. „Bei diesem dreiundzwanzigjährigen Menschen vereinten sich auf wunderbarste Weise Einfachheit, Feingefühl, Lebensfreude und Leidenschaftlichkeit einerseits mit gediegenem und gründlichem Wissen und unerbittlicher logischer Konsequenz ... anderseits.“ Schon nach der ersten Begegnung freute sich Lalajanz, daß er Samara als Wohnort unter Polizeiaufsicht gewählt hatte.

Einander so widersprechende Urteile hervorzurufen ist das Privileg von Auserwählten. Uljanow war auch in jungen Jahren wohl kaum bereit, um die Zuneigung anderer zu betteln. Denn die Gefühle, die er bei den anderen für sich auslöste, glichen allzu sehr Induktionsströmen, die durch seine eigene Zuneigung hervorgerufen wurden. Der Mensch war für ihn nicht Selbstzweck, sondern Werkzeug. „Bei seinem Umgang mit Menschen“, schreibt Semjonow, „traten deutlich große Unterschiede zutage. Mit Kameraden, die er als Gesinnungsgenossen betrachtete, stritt er freundschaftlich und machte sich gut-mütig lustig ... Aber wenn er seinen Opponenten als Vertreter einer anderen Tendenz betrachtete ..., war sein polemisches Feuer unerbittlich. Er traf den Gegner an seinen empfindlichsten Stellen und war wenig wählerisch in seinen Ausdrücken.“ Für das Verständnis Lenins hat diese Beobachtung eines Gefährten in jungen Jahren erstrangige Bedeutung.

„Parteilich“, denn das utilitaristische Herangehen an die Menschen entsprang den tiefsten Gründen seiner Natur, die restlos auf die Umgestaltung der äußeren Welt gerichtet war. Wenn da auch Berechnung dabei war – und sie war natürlich dabei, im weiteren Verlauf sogar immer weitblickender und raffinierter -, so war sie doch nicht zu trennen von echtem Empfinden. Lenin „verliebte sich“ sehr leicht in Menschen, wenn ihre Sympathie für ihn wertvoll und nützlich war. Aber keinerlei persönliche Qualitäten konnten ihn bestechen, wenn es sich um einen Gegner handelte. Sein Verhalten zu ein und denselben Menschen änderte sich radikal, je nachdem, ob sie im gegebenen Augenblick für oder gegen ihn waren. Bei diesem „sich verlieben“ war ebenso wie bei den es ablösenden Perioden der Feindseligkeit keine Spur von Impressionismus, Launenhaftigkeit oder Eitelkeit im Spiel. Kodex der Gerechtigkeit waren für ihn die Gesetze des Kampfes. Daher rühren die nicht selten überraschenden Widersprüche, die selbst in seinen gedruckten Äußerungen über verschiedene Leute zu finden sind, und daher rührt es auch, daß Lenin bei allen diesen Widersprüchen sich selbst treu blieb.

Die Herren Individualisten erklären die Persönlichkeit als Selbstzweck, um sich dann in der Praxis in ihrer Beziehung zu Menschen von ihren Geschmäckern oder auch vom Zustand ihrer Leber leiten zu lassen. Die große historische Aufgabe, in deren Dienst sich unser „Amoralist“ stellte, adelte seine Beziehung zu den Menschen; in der Praxis maß er sie mit demselben Maß wie sich selbst. Die vom Interesse der Sache diktierte Parteilichkeit wurde letzten Endes zur höchsten Unparteilichkeit, und diese seltene Eigenschaft – wahrhaft die Gabe eines Führers – verschaffte dem jungen Lenin größte Autorität.

Semjonow, der um drei Jahre älter war als Wladimir, bemerkte einmal in einem allgemeinen Gespräch über sich und seine Freunde, daß sie mit dem Marxismus schlecht zurechtkommen, weil sie die Geschichte und die bürgerliche Ökonomie schlecht kennen. Wladimir antwortete kurz und hart: „Wenn es damit schlecht steht, dann steht es überhaupt schlecht – da heißt es lernen ...“ Wenn es sich um große Fragen handelte, sprach dieser einfache und fröhliche junge Mann wie ein Machthaber. Und die übrigen verstummten und versanken erregt in stilles Nachdenken.

Derselbe Semjonow erzählt, wie überzeugt und fest Wladimir nicht treffende Argumente seines Schwagers Jelisarow zurückwies, der ihn in seinem Streit mit Wodowosow zu unterstützen suchte. Nein, er war nicht schüchtern! Man muß sich außerdem daran erinnern, daß sowohl Jelisarow, der Wladimir verehrte, wie auch Wodowosow, der ihn nicht leiden konnte, beide mindestens sechs Jahre älter waren als er. Wenn es sich um die, Ideen der Revolution handelte, kannte Wladimir weder Freundschaft noch Verwandtschaft – und schon gar nicht Achtung vor dem Alter.

Der zweiundzwanzigjährige Uljanow machte, wie Wodowosow sagt, „den Eindruck eines politisch absolut vollendeten und gefestigten Menschen“. „Wladimir Iljitsch war schon damals“, schreibt Semjonow, „ein in seinen Ansichten absolut gefestigter Mensch, dessen Haltung in den Zirkelversammlungen ... sicher und absolut unabhängig war.“ Der Student P.P. Masslow, später Volkswirtschaftler der menschewistischen Partei, hörte von seinen Gästen in einem Dorf des Gouvernements Ufa, wo er unter Polizeiaufsicht stand, daß in Samara ein gewisser Wiadimir Uljanow lebt, der sich „ebenfalls interessiert“ für ökonomische Fragen und außerdem „ein durch Verstand und Bildung hervorragender Mensch“ ist. Als er ein ihm von Uljanow zugesandtes Manuskript las – der russische Marxismus hatte in diesen Jahren noch keinen Zutritt zur Druckerpresse –, überraschte Masslow an dem Autor vor allem „die Schärfe und Exaktheit der Formulierungen seiner wesentlichen Ideen, die ihn als Menschen mit absolut gefestigten Anschauungen erscheinen ließen“.

Schon in der Samarer Periode beginnt das Wort „Alter“, das später Lenins Spitzname werden sollte, sonderbarerweise an der Gestalt des jungen Lenin zu haften. Und dabei war nicht nur damals, sondern auch bis zum Ende seines Lebens an ihm nichts Greisenhaftes, außer vielleicht die Glatze. An dem jungen Mann überraschten die Reife des Denkens, das Gleichgewicht der geistigen Kräfte, die Treffsicherheit. „Natürlich“, schreibt Wodowosow, „habe ich nicht die Rolle vorausgesehen, die er einst spielen sollte, aber schon damals war ich überzeugt und habe oft darüber gesprochen, daß die Rolle Uljanows groß sein wird.“

Die häretische Lehre hatte sich damals schon in den Zirkeln der Samarer Jugend Anhänger erobert und im radikalen Milieu eine Art Anerkennung erworben. Die Richtung der Volkstümler, die noch immer vorherrschte, wurde ein wenig beiseite gedrängt. Die sozialdemokratische Propaganda unter den Studierenden betrieb vor allem Skljarenko ein begabter, aber nicht sehr ausdauernder junger Mann. Im März 1893 taucht in Samara der unter Polizeiaufsicht ausgesiedelte Kasaner Student Lalajanz auf, ein ehemaliger Gefährte Fedossejews, und tritt sofort in engen freundschaftlichen Kontakt mit Uljanow und Skljareriko. Diese drei waren auch, allerdings nur für einige Monate, der marxistische Stab von Samara. An der propagandistischen Arbeit beteiligte sich Wladimir nicht. Lalajanz sagt direkt: „In Samara nahm er, zumindest zu meiner Zeit, an keinen Zirkeln teil und führte auch keinerlei Unterricht in ihnen durch.“ Dafür lag die allgemeine Leitung unbestreitbar in seinen Händen. Die „Troika“ (Dreigespann) kam oft zusammen: bald in der Wohnung von Skljarenko, bald in einer der Samarer Bierstuben, für die Skljarenko allzu große Vorliebe an den Tag legte. Uljanow machte die Freunde mit seinen Arbeiten bekannt und erfuhr von ihnen die letzten Ereignisse in den Samarer Zirkeln. Oft entbrannte ein theoretischer Streit, aber es war schon so, daß Uljanow immer das letzte Wort hatte. Im Sommer fuhr Skljarenko öfter nach Alakajewka, wo ihn wegen seiner Geselligkeit und seinem fröhlichen Gemüt alle gern hatten und wo er für die Seminaristen und Schülerinnen der Feldscherschule einen Vorrat neuer Ideen mitbrachte. Sowohl Skljarenko wie auch Lalajanz wurden später hervorragende Bolschewiken.

Um diese Zeit gelang es Wladimir, auch den ehemaligen Organisator der landwirtschaftlichen Kommune, Preobrashenskij, mit dem er oft in hitzigen Debatten die anderthalb Kilometer zwischen den beiden Anwesen zurücklegte, endgültig zu gewinnen. Später beteiligte sich Preobrashenskij an der sozialdemokratischen Organisation von Samara, und nach vielen Jahren unter dem Sowjetregime verwaltete er das Gut Gorki, wo der Führer Sowjetrußlands sich erholte, krank lag und starb. Die Gefährten seiner jungen Jahre nahmen im Leben Lenins überhaupt einen beträchtlichen Platz ein.

Aus der Wolgaprovinz hatte Wladimir alles herausgeholt, was sich herausholen ließ. Ende des Winters 1892/93 „langweilte er sich“, wie Jelisarowa berichtet, „manchmal schon ganz gehörig und sehnte sich nach einem belebteren Zentrum...“ Aber da es keinen Sinn hatte, Alakajewka im Sommer zu verlassen, wurde die Abreise auf den Herbst verschoben. Der jüngere Bruder beendete inzwischen das Gymnasium und wollte die Moskauer Universität besuchen. Maria Alexandrowna beabsichtigte, Dmitrij zu folgen und nach Moskau zu übersiedeln, so wie sie Wladimir vor sechs Jahren gefolgt und nach Kasan übersiedelt war. Es war Zeit, sich von der Familie zu trennen. Petersburg, die europäischste russische Stadt, lockte Wladimir weit mehr als das damalige Moskau, dieses „große Dorf“. Außerdem riskierte er, wenn er getrennt von den Seinen lebte, weniger, durch seine revolutionäre Arbeit einen Schatten auf Bruder oder Schwester zu werfen.

Die letzten Monate in Samara und Alakajewka waren schon der unmittelbaren Vorbereitung für die Abreise gewidmet. Wladimir verfaßte Verzeichnisse und Inhaltsangaben von Büchern und Artikeln, ordnete die wichtigsten Schlußfolgerungen und verfaßte polemische Untersuchungen. Er prüfte, reinigte und schärfte das Werkzeug, das er bald in Aktion treten lassen sollte. Die kritische Bewegung in den Gehirnen der Intelligenz, aber auch eine tiefergehende Bewegung in den Industriebezirken verlangt eine Doktrin, ein Programm, einen Instruktor. Das Rad der russischen Geschichte beginnt seinen Lauf zu beschleunigen. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen von Samara, von Alakajewka und der Lindenallee: Wladimir Uljanow verläßt einen weltfernen Unterschlupf, um – kaum erst auf dem Kampfplatz der Hauptstadt aufgetaucht – sofort seine Generation um Haupteslänge zu überragen.

So hatte sich zwischen der Hinrichtung des Bruders und der Übersiedlung nach Petersburg, in diesen kurzen und langen sechs Jahren unermüdlicher Arbeit, der künftige Lenin geformt. Er wird noch manchen Aufbruch zu vollziehen haben, nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich; in seiner weiteren Entwicklung kann man einige scharf umrissene Etappen unterscheiden. Aber alle Grundzüge des Charakters, der Weltanschauung und Handlungsweise hatten sich schon in der Zeitspanne zwischen seinem siebzehnten und dreiundzwanzigsten Lebensjahr herausgebildet.

Das Buch kann hier bestellt werden.

[Video] Wer war Lenin?


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