Kategorie: Theorie

Verteidigung des Marxismus: Oder: Was meint „permanente Revolution“?

Unsere Zeitschrift/Strömung steht in der Tradition des sogenannten „Trotzkismus“. Oft wird gesagt, dass die Kernaussage dieser politischen Strömung die „Theorie“ der permanenten Revolution sei. In der Tat war es der kommunistische Revolutionär Leo Trotzki, der diesen Begriff im Jahre 1906 geprägt und ihn später, im Kampf der damaligen MarxistInnen gegen die bürokratische Verformung des jungen sowjetischen Staates, als zentrales Unterscheidungskriterium zwischen revolutionärem Marxismus einerseits und der aufstrebenden stalinistischen Herrschaft/Herrschaftsideologie andererseits herausgestellt hat.

 


Dialektik von Theorie und Praxis

Trotzki saß 1906 im Gefängnis. Dort wartete er auf seinen Prozess, der ihm wegen seiner Aktivitäten während der gescheiterten russischen Revolution von 1905 gemacht werden sollte. Der 27jährige Sozialist nutzte die erzwungene Auszeit einerseits, um die Ereignisse der vergangenen Monate als Marxist zu analysieren, andererseits um, als Resultate dieser Analyse, die inzwischen gängig gewordene Version der Marxschen Theorie wieder auf die Höhe der Zeit zu bringen. Die führenden MarxistInnen dachten damals, proletarische Revolutionen könnten sich nur in hochindustrialisierten, „fortgeschritten“-kapitalistischen Ländern ereignen. In den rückständigen Ländern hingegen falle der proletarischen Bewegung zunächst nur die Aufgabe zu, die Fesseln des Feudalismus zu brechen, um das „historisch-notwendige“ Stadium einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung herbeizuführen. Die sozialistische Revolution würde dann ebenso „notwendig“ zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. Am bekanntesten dürfte die in der UdSSR entwickelte „Stadientheorie“ geworden sein. Doch auch sie hatte ihre Vorläufer u.a. in jenen schematischen Marxismen, die um die vorletzte Jahrhundertwende herum entstanden waren.

Seit der Pariser Kommune von 1871 hatte das Proletariat keinen größeren Versuch mehr unternommen, sich zur Gebieterin über die kapitalistische Gesellschaft zu erheben. Die Revolution von 1905 platzte in diese relative Ruhe der Gesellschaften und Köpfe hinein wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Es war ungeheuerlich: Der heilige Thron des Zaren, eines der wichtigsten und zugleich reaktionärsten Monarchen Europas, kam durch die gebieterische Machtentfaltung der werktätigen Massen vollkommen ins Wanken. Als Vorsitzender des Petersburger Sowjets hatte Trotzki tiefgreifende praktisch-politische Erfahrungen gemacht, die ihn schlussfolgern ließen, dass die gängig gewordene marxistische Theorie einiger weniger entscheidender Korrekturen bedurfte, um dem tatsächlichen Geschehen gegenüber weiterhin als angemessen betrachtet werden zu können.

 

Russland am Beginn des 20. Jahrhunderts

Die städtischen Arbeiter hatten die Revolution von 1905 ausgelöst und sich an die organisatorische und politische Spitze der Bewegung gestellt. Diese Tatsache beruhte nicht zuletzt darauf, dass sich das junge Proletariat zunächst aus der „überschüssigen“ bzw. verarmten Landbevölkerung zusammensetzte. Viele Bauernsöhne und -töchter zogen in die industriellen Zentren des Landes, weil sie sich vom beginnenden Aufschwung der kapitalistischen Produktion ein besseres Leben versprachen, als sie auf dem rückständigen Lande jemals erreichen konnten. Die Realität des Fabrikalltags musste um so erschreckender auf das Bewusstsein der jungen KollegInnen gewirkt haben. Gleichzeitig hatten die meisten dieser ArbeiterInnen ihre Beziehungen zu den Menschen in ihren Herkunftsdörfern noch aufrecht erhalten.

Die industrielle Revolution samt „sozialer Frage“ hatte Russland also längst erreicht und durchdrang das gesellschaftliche Leben.

Demgegenüber hatte es im Zarenreich jedoch keine bürgerliche Revolution gegeben und das Kapital verdiente gut am russischen Arbeiter (der Zar betrieb seit Jahrzehnten „innovative“ Wirtschaftspolitik), so dass es auch keinen Grund gab davon auszugehen, dass das russische Bürgertum einen ernsthaften Versuch in dieser Richtung unternehmen würde. Zudem war der Kapitalismus auf russischem Boden von Beginn an wesentlich mit ausländischen Investitionen durchtränkt worden, so dass es noch nicht einmal ein nationales Bürgertum im eigentlichen Sinne gab, das der Träger einer bürgerlichen Revolution hätte sein können.

Der Kapitalismus überging die politisch-rechtliche Revolution des Bürgertums ganz einfach und machte sich – ohne sich „theoretisch-notwendig“ an irgendeinen Zwischenschritt zu halten – praktisch und unmittelbar daran, sich massenhaft seine eigenen Totengräber – die Klasse der LohnarbeiterInnen – zu schaffen.

Weiterentwicklung der Theorie 

In den rückständigen Ländern der Welt, so Trotzki, komme der Kapitalismus einerseits zu spät, andererseits genau richtig an: Die Mächte des Feudalismus, z.B. der Zar, hatten nämlich inzwischen die prinzipielle Überlegenheit der kapitalistischen Produktionsweise anerkannt und sich mit ihm und den neuen Herrschaften (Kapitalisten) zu arrangieren verstanden.

Trotzki zog aus der Tatsche, dass der Petersburger Arbeitersowjet 1905 faktisch die Herrschaft übernommen hatte den Schluss, dass es in einem Land wie Russland die Aufgabe des Proletariats ist, auch jene demokratische und rechtliche Revolution durchzuführen, zu der das „zu spät und gerade richtig“ gekommene Bürgertum nicht mehr in der Lage ist.

Das Proletariat steht bei einer Revolution in einem rückständig-feudalen aber doch bereits durchkapitalisierten Land vor einer komplizierten, doppelten Aufgabe: Es muss einen Kampf gegen zwei Produktionsweisen aufnehmen, um seine eigene zu errichten.

Der Kampf gegen die überlebten feudalen Verhältnisse wird, so Trotzki, dabei mit den Forderungen der erstmaligen Demokratisierung des Staates bzw. den rechtlichen Forderungen der Aufklärung geführt. Der Kampf gegen die kapitalistischen Verhältnisse werde hingegen mit den Forderungen des Sozialismus und der Enteignung des Privateigentums an den Produktionsmitteln gefochten.

Diese doppelte Aufgabenstellung der Revolution in einem, gemessen am Industrialisierungsstand der USA und Westeuropas, rückständigen Land bezeichnete Trotzki sogar als „die zentrale Idee der Theorie (der permanenten Revolution, d.Verf.)“.

Der zweite Gesichtspunkt der „Theorie“ besteht in der Ansicht, dass eine sozialistische Revolution keine einmalig durch ein paar spektakuläre Aktionen sich vollziehende Angelegenheit ist.

Der Hang zum Bürokratismus, zur gewaltsamen Lösung von Konflikten, der antrainierte Egoismus, traditionelle Familienvorstellungen, die Trennung von Hand- und Kopfarbeit, nationalstaatliche Denkweisen – diese und viele andere Erblasten verschwinden nicht an einem einzigen, zauberhaften Tag, den man „Revolution“ nennen könnte. Die sozialistische Umgestaltungsarbeit muss also einen permanenten Kampf gegen die Laster der umgestürzten Verhältnisse führen. Mit dem (sehr wichtigen) Akt der Verstaatlichung der Produktionsmittel ist es eben nicht getan.

Obwohl in der jungen Sowjetrepublik ganz massiv Elemente der Arbeiterdemokratie eingeführt wurden, konnten insbesondere die eben genannten, ererbten Verhaltensweisen „unter der Hand“ wieder Oberwasser gewinnen und die weitere Entfaltung der Arbeiterdemokratie von innen heraus erdrosseln.

 

Der internationale Charakter der sozialistischen Revolution

 

Der dritte Gesichtspunkt der „Theorie“ erschien Trotzki im Jahre 1906 noch eher banal zu sein. In den Kämpfen um den „Neuen Kurs“ der KPdSU 1923/24 wurde er jedoch zum „Markenzeichen“ des sogenannten Trotzkismus.

Angesichts der Entfaltung des Kapitalismus im Weltmaßstab schrieb schon Engels in seinen „Grundsätzen des Kommunismus“ von 1847, dass die sozialistische Revolution nur international erfolgreich sein könne.

Dort lesen wir als Antwort auf die „19. Frage“ - „Wird die (Arbeiter-)Revolution in einem einzigen Lande allein vor sich gehen können?“:

„Nein. Die große Industrie hat schon dadurch, dass sie den Weltmarkt geschaffen hat, alle Völker der Erde (...) in eine solche Verbindung miteinander gebracht, dass jedes einzelne Volk davon abhängig ist, was bei einem anderen geschieht. (...) Die kommunistische Revolution wird daher keine bloß nationale, sie wird eine in allen zivilisierten Ländern (...) vor sich gehende Revolution sein.“

Das Ausbleiben der erfolgreichen Arbeitererhebung in Westeuropa paarte sich sehr unglücklich mit der Erschöpfung der Massen im Gefolge der russischen Revolutionskriege (1918-1921) einerseits und mit den Interessen der „unter der Hand“ entstandenen Sowjetbürokratie andererseits, als deren Repräsentant nun Stalin in Erscheinung trat.

In diesen revolutionsfeindlich gesinnten Kreisen traf die „Theorie vom Sozialismus in einem Land“, die Stalin kurz nach Lenins Tod 1924 als Parteiparole ausgab, auf breite Zustimmung. Die Bürokraten hatten kein Interesse mehr an der ernsthaften Durchführung des sozialistischen Programms. Gleichzeitig konnten diese Kräfte die sozialistische Basis und den marxistischen Anspruch des jungen Staatswesens nicht einfach abstreifen, da ihre Überbau-Existenzen auf diesen Pfeilern ruhten. In Worten sprach man sich also für „Sozialismus“ aus, im politischen Alltag setzte man alles daran, sozialistischen Tendenzen entgegenzuwirken. 1943 löste Stalin höchst persönlich sogar die Kommunistische Internationale auf.

Die Hymne der Sowjetrepublik war seit Oktober 1917 die „Internationale“. Ebenfalls 1943 wurde die „Internationale“ durch eine bombastische National(!)hymne ersetzt. Das Gerede vom „Sozialismus in einem Land“ war in offenen Antimarxismus umgeschlagen. 

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