Kategorie: Wirtschaft

Der Staat und das Haushaltsdefizit

Wenn über den Haushalt oder Haushaltspolitik diskutiert wird, geht es in erster Linie um Umverteilungseffekte. In diesem Artikel soll es mehr um jene Institution gehen, die die Haushaltserstellung bzw. die gesamte Finanzaufbringung erst möglich macht - um den Staat. Die zentralen Fragen dabei sind: "Wie handelt er?" und "Wieso handelt er wie er handelt?" 


Was ist der Staat?

Ein zentrales Unterscheidungsmerkmal zwischen MarxistInnen und allen anderen Strömungen in der Arbeiterbewegung ist die Einschätzung des Staates. Die unterschiedlichen Analysen des Staates drücken sich auch und ganz besonders in der Haushaltsdebatte aus. Die Sozialdemokratie und reformistische Strömungen im allgemeinen sprechen dem Staat den Klassencharakter ab. Ihrer Auffassung nach ist der Staat prinzipiell neutral und als Schiedsrichter im Klassenkampf (so fern man nicht auch schon diese Realität leugnet) zu gebrauchen. In weiterer Folge gilt es ihn für progressive Zwecke nutzbar zu machen. Das deutsche Modell der Sozialpartnerschaft oder der berühmte "Marsch durch die Institutionen", um staatliche Strukturen von innen heraus zu verändern, sind nur zwei unterschiedliche Ausflüsse dieser Theorie.
MarxistInnen sehen das etwas anders. Friedrich Engels hat den Staat einmal als eine Formation bezeichnet, die in letzter Instanz aus bewaffneten Menschen" besteht - bewaffnet um gewisse Interessen, die der jeweils politisch und ökonomisch Herrschenden, zu verteidigen. Der Staat ist keine unabhängige, außerhalb der Gesellschaft entstandene Struktur, sondern er ist ein Produkt der Gesellschaft. Wie staatliche Strukturen letztlich aussehen, hängt entscheidend von der ökonomischen Basis ab. Die grundlegende Aufgabe des bürgerliche Staates ist der Schutz des Privateigentums. Das kann auf unterschiedliche Art und Weise geschehen. Es gibt daher nicht nur Unterscheidungen zwischen dem feudalistischen bzw. absolutistischen Staat und dem kapitalistischen, sondern auch Unterschiede und Veränderungen innerhalb des kapitalistischen Staates selbst.
Wenn wir die Problematik Staatsverschuldung behandeln, reicht es aber nicht aus, den Staat als "Formation bewaffneter Menschen" zu sehen. Wir müssen dabei vor allem auch seine zentrale Rolle in der kapitalistischen Akkumulation betrachten.

Der Staat und die Akkumulation

Diese Aufgabe des Staates - den kapitalistischen Produktionsprozess voran zu treiben - ist nichts Neues. Sie gilt bereits für vorkapitalistische Gesellschaften - so z.B. für den Staat in der "Asiatischen Produktionsweise", der Bewässerungsanlagen und Kanäle finanzierte und instand hielt oder das Rom der Spätantike, das die Sicherung des Transports der Nahrungsmittelvorräte gewährleistete. Das Gleiche gilt für den absolutistischen Staat. Er spielte eine unverzichtbare Rolle in der ursprünglichen Akkumulation, und zwar durch folgende Maßnahmen:
Als Großabnehmer industrieller Produkte (vor allem für die Textilfabrikanten war das von zentraler Bedeutung, schließlich musste die neu geschaffene Armee versorgt werden), durch Anlagemöglichkeiten für Kapital in Form von Staatspapieren, durch Militär- und Kolonialpolitik, durch merkantilistische Wirtschaftspolitik (Schutz des nationalen Kapitals durch Zölle etc.), durch staatliche Förderungen des Manufaktursystems, durch die gesetzliche Ausdehnung des Normalarbeitstages, durch die Sicherung eines stabilen Geldsystems u.v.m.
Eine wichtige Unterscheidung zwischen dem Kapitalismus und anderen Gesellschaftssystemen ist, dass sich ersterer nicht auf außerökonomische Zwangsverhältnisse gründet, sondern auf ökonomische Abhängigkeiten. Darum ist der klassische Staat des expandierenden, vorimperalistischen Kapitals eher schwach. Es kommt zu einem Abbau der staatlichen Intervention in die Wirtschaft. Eine Ausnahme bildet die Infrastruktur.
In der Geschichte des Kapitalismus kann man eine Tendenz festhalten: Die Macht und die Aufgaben des Staates wachsen stetig (mit außerordentlichen Höhepunkten durch Krieg und Faschismus). Die Überbaustrukturen fressen immer mehr Mehrwert und haben die Tendenz, sich bis zu einem gewissen Grad zu verselbständigen (ein Phänomen, welches man in der Geschichte auch bei anderen Gesellschaftsformen beobachten kann). Sie werden dabei gleichzeitig eine Grundbedingung und ein Hemmnis für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte. Die Tätigkeit des Staates dehnt sich jedenfalls aus und wird zusehends komplexer. Beide großen bürgerlichen ökonomischen Theorien, Neoliberalismus und Keynesianismus, erkennen diese Tendenz vollständig an - bei beiden kommt es zu keinem Abbau der Staatsfunktionen.

Die Haushaltsproblematik

Trotz gegenteiliger Propaganda kommt es bei der Reduktion der Defizite nicht zu einer Reduzierung der Aufgaben des Staates. In den meisten Fällen gibt es nur eine Verschiebung der Ausgaben. Trotzdem lautet das Ziel weltweit "gesunde Finanzen". Dieses Ziel ist nicht völlig willkürlich, sondern spiegelt reale Tendenzen im Kapitalismus wider - einerseits die Internationalisierung und andererseits die steigende Bedeutung des Finanzkapitals. Damit ist nicht irgendein Flügel des Kapitals, vielleicht im Gegensatz zum Realkapital, gemeint, sondern die Notwendigkeit für die Kapitalbesitzer, den aufgrund der in der "Realwirtschaft" sinkenden Profitraten immer mehr Kapital auf Finanzmärkten anzulegen.
Das Kapital tendiert nicht zuletzt aufgrund der Verwertungsschwierigkeiten im jeweiligen Heimatland zu Aktivitäten auf den internationalen Märkten. Das Exportkapital (vor allem der starken Länder, wie z.B. Deutschland) hat ein Interesse an relativ stabilen Wechselkursen - dadurch sollen unliebsame Abwertungen, die die Exporte gefährden verhindert werden. Ein Mittel, um das zu erreichen, sind "gesunde Finanzen" und nicht zuletzt ein System fester Wechselkurse - wie im Euroraum.
Riesige Mengen an Kapital sind an den Finanzmärkten angelegt. Spekulatives Kapital spielt dabei eine Rolle und sorgt für die dementsprechende Instabilität. Die Mehrheit des "Finanzkapitals" sucht aber nicht, oder nicht nur, kurzfristige Währungsspekulationsgewinne, sondern hat ein gewisses Interesse an Stabilität. Eine wichtige Anlagemöglichkeit sind Staatsanleihen zur Finanzierung der Staatsdefizite. So halten japanische Anleger 5% der Staatsschulden der USA. In diesem Zusammenhang muss auch auf die Gegnerschaft Euro-Dollar-Yen verwiesen werden. Die USA können ihr Handelsbilanzdefizit nur deshalb finanzieren, weil ausländische Anleger bereit sind, Dollar zu halten. Sollten sich Euro oder Yen als interessantere Anlagemöglichkeit herausstellen, bringt das gewaltige Probleme für die USA. Die US-Finanzpolitik wandelt daher auf einem schmalen Grad. Einerseits will man keinen zu schwachen Euro oder Yen, um die Stabilität der Weltwirtschaft nicht zu gefährden - zu stark sollten sie aber auch nicht werden. Diese Anleger haben im Regelfall kein Interesse an Inflation und an Währungszusammenbrüchen. Es ist schließlich auch ihr Kapital, das dabei entwertet wird, auch wenn der IWF versucht, in ihren Sinne zu intervenieren. Die großen imperialistischen Länder halten sich Satelliten, wo sie ihren Kapitalüberschuss ohne all zu großes Risiko anlegen können. Deutschland hat den Euro-Raum, Japan hat (hatte) Südostasien, und die USA haben Lateinamerika, wo in einigen Ländern der Dollar bereits die offizielle Währung ist - in der Hoffnung, dadurch zukünftige Währungskrisen zu verhindern.
Das Weltwirtschaftssystem ist voller Widersprüche - das "Management" dieser Widersprüche ist ohne den zentralen Einfluss der einzelnen Staaten nicht möglich. Das heißt, auch das Finanzkapital braucht den Staat!

Auf nationaler und internationaler Ebene ist die Rolle des Staates so groß wie noch nie in Friedenszeiten!

Die Rolle des Staates muss vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung gesehen werden. Der lange Nachkriegsaufschwung neigte sich Ende der 60er Jahre dem Ende zu. Das manifestierte sich in sinkenden Profitraten. Während sie in den 50er und 60er Jahren noch etwa 20% betragen, fallen sie in den 70er Jahren auf rund 13%. Obwohl diese bis heute natürlich nicht kontinuierlich fielen, ist doch eindeutig eine Tendenz nach unten fest zu stellen. Selbst in Hochkonjunkturen können die hohen Profiraten der "Goldenen Ära" des Kapitalismus in den 50er und 60er Jahren nicht mehr erreicht werden. Es versteht sich von selbst, dass die Anforderungen, die von den Kapitaleignern an den Staat gestellt werden, in einer Krisensituation steigen. Heute kann man von einer strukturellen Krise des Kapitalismus sprechen (im Gegensatz zu einer zyklischen) - das bewirkt, dass die Staatsaufgaben nicht nur konjunkturell, sondern dauerhaft vergrößert werden. Das stellt den bürgerlichen Staate in erster Linie vor finanzielle Probleme.
Der Staat ist in allen wichtigen Industrieländern trotz verzweifelter Einsparungsmaßnahmen de facto bankrott. In Deutschland belaufen sich 2003 die Staatschulden auf 1.300 Mrd. Euro (ergibt 38 Mrd. Euro Zinsen im Jahr!). In Deutschland machten Zinszahlungen 1952 1% der Gesamtausgaben des Bundeshaushaltes aus. 1997 waren es bereits 22%. Für diesen Bankrott gibt es im wesentlichen zwei gängige Erklärungen:

  1. Die Erklärung der Gewerkschaften: Hauptursache sei die Steuerpolitik im Interesse der Unternehmer. Geld ist prinzipiell genug da. Es muss nur für staatliche Infrastrukturprogramme und zur Stärkung der Binnennachfrage ausgegeben werden - eine richtige Politik könnte das erreichen.
  2. Die Erklärung des Kapitals: durch Abgaben und Gewinnsteuern, die für den Sozialstaat verwendet werden, werden Investitionen erdrückt - dadurch kommt es zu einer Schwächung der Wirtschaft.  

Beide Erklärungen beinhalten richtige Elemente - sie bleiben aber doch im Politischen und damit an der Oberfläche hängen.

 

Staatliche Reaktionen auf die sinkenden Profitraten

Eine wichtige, weltweit angewandte Strategie ist die Senkung der Gewinnsteuer. Das führt de facto zu einer Abschaffung der Steuerprogression. Der Anteil der Gewinnsteuern am Gesamtsteueraufkommen in Deutschland betrug 1950 immerhin 22,2%, 1960 sogar 32,6% und 1998 nur noch 12,3%.
Diese Steuersätze verbergen nichtversteuerte Gewinne (und die existieren reichlich) und staatliche Rückflüsse an das Kapital. In Deutschland gab es 1997 "Transfers zur Förderung unternehmerischer Aktivität" (also Subventionen für Unternehmen) in der Höhe von 184 Mrd. DM. Allgemein kann man sagen, dass die Transfers des Staates an die Unternehmer im Regelfall höher sind als die Rückflüsse aus der Gewinnsteuer. Das heißt in seiner Gesamtheit zahlt das Kapital in den fortgeschrittenen Industriestaaten keine Steuern!
Staatliche Subventionen haben aber nicht nur den Sinn, dem Fall der Profitrate entgegenzuwirken. Es geht vor allem auch um die permanente Abschwächung des Wertgesetztes, d.h. dass Kapital immer in den Sektor investiert wird, wo die Profitrate über der Durchschnittsprofitrate liegt. Um Kapital in jenen Sektoren zu halten, die aus Unternehmersicht nicht profitbringend genug sind, wird subventioniert. Das gilt zum Beispiel teilweise für den Bergbau, die Werftindustrie in Deutschland oder die Landwirtschaft. Fest zu stellen ist aber, dass diese Subventionen den Niedergang nicht aufhalten - sie sorgen nur für geordnete Verhältnisse beim Kapitalsrückzug und verhindern dadurch potenzielle Verluste für die Kapitalbesitzer. Folglich sind diese Subventionen keine ungerechtfertigte Subventionierung der Löhne, sondern eine Profitsubventionen. Durch die Subventionen sollen auch soziale Verwerfungen, die durch ein ungehindertes Wüten des Wertgesetzes entstehen würden, verhindert werden. Das Prinzip ist also denkbar einfach und allgemeingültig für den Kapitalismus: Gewinne werden privatisiert, Verluste und soziale Kosten werden sozialisiert.
Subventionen gibt es aber nicht nur in niedergehenden Industrien. Im Gegenteil, ohne Subventionierung gäbe es keine Weiterentwicklung der Produktivkräfte. Technische Entwicklungen wären ohne staatliche Subventionen auf privatwirtschaftlicher Basis nicht möglich. Vor allem und gerade im High-Tech Bereich. Investitionsförderung ist generell die Normalität. Wobei vom Kapital die Förderung von Investitionen verlangt wird, ohne dass wirklich investiert wird.

Ankurbelung der Nachfrage und des Wachstums durch Staatsverschuldung

Das funktioniert in erster Linie über den Sozialstaat. Der ist ein durchaus widersprüchliches Wesen, was bereits aus seiner geschichtlichen Entstehung heraus resultiert. Einerseits gab es ein Interesse der herrschenden Eliten, ein gewisses Mindestmaß an sozialen Standards zu gewährleisten, einfach um die Reproduktion der Arbeitskräfte zu sichern, andererseits war es auch der Versuch, die stärker werdende und sich teilweise radikalisierende Arbeiterbewegung in das bürgerlich-kapitalisitische System zu integrieren. Nach dem 1. Weltkrieg war der Sozialstaat nicht zuletzt ein Produkt der revolutionären Bewegungen in ganz Europa. Nach dem 2.Weltkrieg. war es der Wirtschaftsaufschwung, der sozialstaatliche Leistungen möglich machte.
Der Sozialstaat hat aber immer auch eine andere Funktion: Der Staat agiert dabei ganz im Sinne eines "ideellen Gesamtkapitalisten", er übernimmt die Aufgabe, Nachfrage zu schaffen, da die Einzelkapitalisten dazu nicht nur nicht in der Lage sind, sondern die Nachfrage durch Lohnkürzungen, Arbeitslosigkeit etc. permanent beschränken. Dieser Mechanismus wirkte auch im Nachkriegsaufschwung, aber ganz besonders in Krisen. In Deutschland kam es in den Krisenjahren 1973-75 zum Ausbau sozialstaatlicher Leistungen. Wobei das ein "besonderer" Keynesianismus war. Er wurde nicht aus höheren Gewinnsteuern finanziert, sondern einerseits durch gestiegene Lohnsteuern (d.h. die Beschäftigten zahlten sich ihre Nachfragesteigerung selbst), andererseits durch Staatsverschuldung. Auch hier ist das übliche Argument gerade umgekehrt richtig - nicht der Sozialstaat verursacht Verschuldung, sondern niedrige Profitraten, sprich eine krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus erhöhen die Notwendigkeit sozialstaatlicher Maßnahmen.
Die Ausweitung sozialstaatlicher Leistungen ist dabei nur eine theoretische Notwendigkeit. Denn in der Realität bleiben die Sozialausgaben - gemessen am BIP - konstant. Auch in dieser Frage gibt es wieder einen Widerspruch: Einerseits wird der Sozialstaat vom Kapital benötigt, andererseits wollen sie einen weiteren Abbau, um ihre Gewinnsteuern noch weiter zu reduzieren. Sozialstaatliche Leistungen werden auch deshalb immer wichtiger, weil die Löhne die Tendenz haben, unter die Reproduktionskosten zu fallen. Das heißt: objektiv gesehen sind immer mehr staatliche Leistungen notwendig, um die Reproduktion der Arbeitskraft zu gewährleisten.
Ein Vehikel dafür sind direkte und indirekte Lohnsubventionen.
Unter indirekten Lohnsubventionen versteht man eine Verbilligung verschiedener Elemente der Reproduktion. Zum Beispiel durch staatliches Kindergeld, durch Mietsubvention oder Wohngeld, durch staatliche Zuschüsse zur Sozialversicherung (sie sind ein Mittel, um die Bruttolöhne zu drücken), außerdem werden Kinder während der Arbeitszeit der Eltern durch gesellschaftliche Mittel (und nicht durch Geld des Unternehmers) versorgt.
Ein klassisches Beispiel für indirekte Lohnsubventionen ist der Wohnungsbau. Ohne staatliche finanzielle Unterstützung gäbe es keinen sozialen Wohnungsbau - der Grund ist einfach. Marktkonforme Mieten wären für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung nicht leistbar. In den Produktionskosten der Ware Wohnung stecken nämlich die Profite von Bauunternehmen, Bauinvestoren, Grundeigentümern, Banken (80% des Wohnungsbaus sind kreditfinanziert) und Maklern. Es gibt daher in allen Industriestaaten üppige Wohnbauförderungen. Was also normalerweise als Mietsubvention bezeichnet wird (und als Sozialleistung verbucht wird), sind wieder Profitsubventionen. Der Staat, bzw. die Lohnabhängigen bezahlen also den privaten Wohnimgsbau, Kontrolle darüber haben sie freilich keine.
Direkte Lohnsubventionen finden dann statt, wenn Löhne staatlich aufgestockt werden. Sei es in Form von finanziellen Förderungen für Unternehmen, die Lehrlinge ausbilden oder in Form von Lohnsubventionen für ältere Arbeitnehmer. Wenn es ein Unternehmer geschickt anstellt, übersteigt die Förderung, die er für die Anstellung eines Arbeitnehmers bekommt, den Lohn, den er bezahlen muss.

Der Staat gewährt Anlagemöglichkeiten für überschüssiges Kapital

Dafür gibt es im wesentlichen zwei Möglichkeiten:

  1. Förderung der Aktienspekulation:
    Die Besteuerung von Finanzkapital ist niedriger als jene von Realkapital. Damit erkennt der Staat die Notwendigkeit des Kapitals, an mit Hilfe spekulativer Finanzgeschäfte den Fall der Profitrate entgegenzuwirken. Die Börse erfüllt dabei eine ähnliche Funktion wie die "Permanente Inflation" der 70er Jahre. Dadurch wurde und wird die Produktion permanent über die Grenzen des Marktes ausgedehnt - mit den bekannten Folgen eines späteren, umso tieferen Einbruchs.
  2. Privatisierung von Staatsbetrieben:
    Diese dient als Anlagemöglichkeit für brachliegendes Kapital. Es spiegelt gleichzeitig auch die kapitalistische Tendenz wider, alles zur Ware zu machen, von der Literatur bis hin zur ehedem kommunalen Wasserversorgung. Darüber hinaus dienen Privatisierungen dem Privatkapital dazu, seinen Markteinfluss auszudehnen, indem ehemalige staatliche Konkurrenten zuerst billig übernommen und später nicht selten vernichtet werden.

Auch bei Privatisierungen gilt das gleiche Prinzip wie bei anderen wirtschaftlichen Tätigkeiten. Es gibt keine privatwirtschaftlichen Investitionen ohne staatliche Subventionen. Und die sehen folgendermaßen aus. Um die Privatisierung zu ermöglichen, übernimmt der Bund die Schulden des öffentlichen Unternehmens (bei der Deutschen Post übernimmt der Staat allein aus dem Pensionsfonds Verbindlichkeiten in der Höhe von 75 Mrd. DM). Der Staat hat vor der Privatisierung für die nötige Modernisierung der Unternehmen zu sorgen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Telekom - vor der Privatisierung wurde ein ehrgeiziges Modernisierungsprogramm, finanziert mit dem Geld der unselbstständig Beschäftigten, durchgezogen. Am Ende dieses "Modernisierungsprozesses" steht der Verkauf - die neuen Besitzer setzten sich in ein gemachtes Bett. Und selbst nach der erfolgten Privatisierung hört die Subventionsvergabe nicht auf. Das bekannteste Beispiel ist die privatisierte englische Eisenbahn - die erhält jetzt mehr staatliche Subventionen als ihr staatlicher Vorgänger British Rail.
Zwei weitere Aspekte sind in der Frage der öffentlichen Haushalte noch hervorzuheben, vor allem auch deshalb, weil sie plastisch zeigen, wie falsch diverse Globalisierungstheoretiker liegen, wenn sie von einem Bedeutungsverlust des Staates reden. Zumindest was den Staat in den entwickelten Industrieländern betrifft - in der "Dritten Welt" stellt sich die Sache ein wenig anders dar:

  1. die stärkere Regulierung des öffentlichen Lebens - die sogenannte "Gesetzesflut"
  2. die personelle Ausdehnung der Staatsbehörden selbst.

Bürgerliche Kommentatoren beklagen sich regelmäßig über Überregulierung und Gesetzesflut. Und tatsächlich gibt es eine Fülle von vor allem Wirtschaftsgesetzen. Das ist allerdings nicht Ausdruck der Regulierungswut des Wohlfahrtstaates, sondern eine Widerspiegelung widersprüchlicher privater Einzelinteressen. Viele verschiedene Kapitalfraktionen wollen jeweils für sich das Beste herausschlagen und betreiben dementsprechend eine Lobbypolitik, die den Staat zu den gewünschten Maßnahmen veranlassen soll. Ein weiterer Grund für die gerade im Bereich Steuerrecht extrem komplizierte Gesetzgebung ist natürlich der Wunsch des Kapitals nach einer möglichst freizügigen Gestaltung der Steuerverhältnisse. Unzählige Abschreibungsmöglichkeiten und Ausnahmen eröffnen bereits auf legaler Basis den Spielraum, enorme Summen an Steuern einzusparen. Es gibt aber in diesem Bereich durchaus auch einen Widerspruch zwischen den Interessen der Aktionäre und den einzelnen Konzernen. Was nicht heißt, dass das unbedingt zwei voneinander unabhängige Akteure sein müssen. Im Gegenteil, oftmals prallen da die unterschiedlichen Interessen ein und desselben Konzerns aufeinander. Einmal handelt er als Aktionär, ein anderes mal als jemand, der versucht, die Gewinnsteuer in seinem Bereich zu sparen. Börsenkurse und Dividenden steigen nämlich im Regelfall mit steigenden Gewinnen. Dann besteht auch eher ein Interesse an einer höheren Gewinnbekanntgabe.
Ein zweiter Bereich mit zunehmend komplizierten Regelwerk ist der Sozialbereich - einerseits muss immer mehr Armut verwaltet werden, auf der anderen Seite gibt es zahlreiche Einschränkungen, Ausnahmen, Schikanen und Sonderregelungen, die einzig und allein den Zweck haben, Anspruchsberechtigte auszutricksen. Dieses System führt dazu, dass in Deutschland 50% der Anspruchsberechtigten keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen.
Besonders plastisch lässt sich die Bedeutung des Staates in der Steigerung seiner Personalressourcen ablesen. Dabei geht es nicht um den kleinen oder mittleren Beamten - die werden bekanntlich fleißig abgebaut und ausgelagert, sondern in erster Linie um die oberen Etagen des Staatsapparates. Dort findet ein starkes personelles Wachstum statt. Das hängt damit zusammen, dass der Staat nicht nur immer mehr Aufgaben zu bewältigen hat, sondern auch immer mehr gesellschaftliche Widersprüche lösen sollte. Im deutschen Verteidigungsministerium arbeiten heute 5000 Ministerialbeamte -vor dem Überfall auf Polen 1939 waren es ganze 400!
All diese Entwicklungen führen dazu, dass die Staatsquote Mitte der 90er Jahre überall höher lag als in den 70er Jahren.

Schlussfolgerungen und Ausblick

Der Staat ist ein enorm komplexes Gebilde. War es schon im 19. Jahrhundert für die Arbeiterbewegung nicht möglich, den bürgerlichen Staat einfach zu übernehmen und für ihre Belange in Gang zu setzen, so ist dies heute noch viel weniger möglich und denkbar. Gerade in der heutigen Periode offenbart der Staat ganz besonders deutlich die Richtigkeit der marxistischen Analyse. Weder verschwindet er, noch verhält er sich im Klassenkampf neutral. Der Kapitalismus hat sich mit dem modernen Staat vielmehr ein Instrument geschaffen, das ihn künstlich am Leben erhält.
Es gab in letzter Zeit wieder verstärkte Diskussion über ein europäisches Steuersystem. Damit soll verhindert werden, dass das Kapital die Steuervergünstigungen von diversen Staaten ausnützen kann. Teilweise wird die Diskussion auch aus einem gewissen Selbsterhaltungstrieb des Staates heraus geführt. Klar ist aber: sollte es wirklich zu Absprachen und Vereinbarungen kommen, so würde dies nicht zu einer substantiell höheren Besteuerung von Kapital führen als dies jetzt der Fall ist. Es würde höchstens zu einer Verschiebung der Steuerleistung kommen. Darüber können solche Absprachen und Vereinbarungen bei ökonomischen Schwierigkeiten tendenziell wieder zerbrechen. Ähnliches gilt für die Debatte über die Einschränkungen der Subventionen. Keiner denkt ernsthaft daran, "seinem" Kapital die Subventionen zu streichen. Vielmehr drücken solche Debatten die Interessenskonflikte zwischen den einzelnen Nationalstaaten und Wirtschaftsblöcken aus.
Fakt ist, dass jene Interessen, die die beschriebene Entwicklung vorangetrieben haben, tendenziell stärker werden. Aufgrund dieser ökonomischen Entwicklung ist letztlich jeder Versuch, das Kapital zu Investitionen in die Realwirtschaft zu zwingen, zum Scheitern verurteilt. Die Geschichte Japans der letzten 12 Jahre ist dafür nur ein weiterer Beweis.
Die strukturelle Krise des Kapitalismus zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass das Kapital ohne die Unterstützung des Staates nicht lebensfähig ist, sondern auch dadurch, dass das Kapital immer weniger daran denkt, jenes Geld, das es der Gesellschaft Tag für Tag stiehlt, produktiv einzusetzen.
Wir können feststellen, dass alle reformistischen Maßnahmen scheitern müssen, weil sie sich auf den Staat beschränken. Der Staat ist aber nicht in der Lage, die Probleme des Kapitalismus zu lösen. Im Gegenteil, in ihm spiegeln sich sämtliche Widersprüche, die dieses Wirtschaftssystem produziert, wider. Reformistische Maßnahmen stimmen schlichtweg nicht mit den ökonomischen Realitäten überein. Ganz egal, ob es Vorschläge für eine Kontrolle der Finanzmärkte sind, niedrigere Zinsen oder die Hoffnung, eine Vereinheitlichung/Erhöhung der Kapitalsteuern ohne das Mittel des Klassenkampfes erreichen zu können.
Die Krise der Staatsfinanzen ist untrennbar mit der allgemeinen Krise des Kapitalismus verbunden - diese Krise ist nicht das Produkt einer falschen Wirtschaftspolitik und unvorsichtiger Spekulanten, sondern Ausdruck der unlösbaren Widersprüche, die diesem System innewohnen. Weder der Neoliberalismus noch eine Neuauflage des Keynesianismus können daran etwas ändern. Die entscheidende Frage, vor der unserer Gesellschaft und die Arbeiterbewegung steht, ist nicht die Frage von hohen oder niedrigen Zinsen und der Regulierung der Finanzmärkte. Es geht vielmehr um die Frage, wer Kapital investiert und zu welchem Zweck er das tut. Erst wenn der Zweck darin liegt, die Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen, und wenn das Mittel die demokratische Kontrolle des Wirtschaftsprozesses durch die Lohnabhängigen ist, erst dann werden wir die Sackgasse, in der wir uns gegenwärtig befinden, verlassen haben.

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