Kategorie: Deutschland

Ein Gärungsprozess in der SPD

Nachdem es bereits anhand der Vorratsdatenspeicherung und des Freihandelsabkommens TTIP zu politischen Auseinandersetzungen in der SPD gekommen war, wirbt der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel in der Frage einer möglichen Ausweitung des Syrien-Mandats der Bundeswehr nun mit einem Mitgliedervotum über die Haltung der Partei.


Widerstand erntet Gabriel, der als Bundeswirtschaftsminister die Interessen der Bourgeoisie fest im Blick hat, insbesondere aus der eigenen Bürokratie des Parteiapparats sowie der Bundestagsfraktion. Von den 184 Abgeordneten der SPD im deutschen Bundestag stimmten jüngst 28 Parlamentarier des linken Flügels gegen die Vorgaben der Bundesregierung zum bereits begonnenen Kriegseinsatz in Syrien.

Als Karl Liebknecht am 2. Dezember 1914 als einziger Reichstagsabgeordneter der SPD gegen die Bewilligung weiterer Kriegskredite stimmte, kam dies einem fundamentalen Skandal gleich, der anschließend von der Justiz des deutschen Kaiserreichs mit Hochverrat und Zuchthaus beantwortet wurde. Heute können Abgeordnete des Bundestags gemäß § 38 des Grundgesetzes nicht für ihr Abstimmverhalten juristisch oder innerparteilich belangt werden, schließlich ist man nur „seinem Gewissen verpflichtet“. Dieses Privileg wurde in den vergangenen Jahren von Abgeordneten der SPD gerne in Anspruch genommen, da der Klassenkampf in der Bundesrepublik Deutschland über die Jahre hinweg eingefroren und eine natürliche Harmonie innerhalb der SPD zu existieren schien. So konnten programmatische Grundsätze der Sozialdemokratie immer wieder an der Basis vorbei umgangen werden, ohne dass ernsthafte Konsequenzen für das Innenleben der Partei zu befürchten waren. Die in den vergangenen Jahren immer wieder neu angelegten „Mitgliederentscheide“ durch die Parteiführung können nicht darüber hinweg täuschen, dass sie lediglich ein Instrument zur Stimulierung der Basis darstellen. Innerhalb der SPD existieren keine Kontrollstrukturen, die einen Mitgliederentscheid für die Parteiführung bindend machen. Ergo handelt es sich bei den Mitgliederentscheiden in der SPD eher um generell unverbindliche Empfehlungen der Basis an ihre Führung. Dies wird durch führende VertreterInnen der Partei in der aktuellen Frage der militärischen Intervention in Syrien in der deutschen Presse unmissverständlich klargestellt.

Mit diesem Politikstil ist die Parteiführung um Sigmar Gabriel bisher relativ gut gefahren. Umso interessanter ist die gegenwärtige Unruhe innerhalb des Parteiapparats, die über eine tiefe und jahrelang verdrängte Existenzkrise der ältesten deutschen Partei und traditionsreichsten Sozialdemokratie der Welt nicht hinwegtäuschen kann. Nicht nur massive Stimmenverluste machen der Partei aufgrund der bürgerlichen Politik ihrer Führung zu schaffen. Bei Umfragen stagniert sie unaufhörlich um die 25-Prozent-Marke, bei den kommenden Landtagswahlen im März 2016 in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt drohen weitere Rückschläge. Zudem werden auch die seit 25 Jahren unaufhörlich fallenden Mitgliederzahlen allmählich zu einem Problem für die Genossinnen und Genossen. Vereinte die SPD im Jahr 2010 noch über 502.000 Mitglieder unter dem Banner der Sozialdemokratie, so sind es heute nur noch knapp 460.000. Keine politische Partei in Deutschland verzeichnet eine prozentual derart fallende Mitgliederentwicklung. Die aus einer Fusionierung der reformorientierten PDS mit der WASG, einer Linksabspaltung der SPD hervorgegangene Partei DIE LINKE stagniert seit Jahren bei ca. 60.000 Mitgliedern, jedoch kann sie mit 3,8 Millionen Zweitstimmen bei der Bundestagswahl 2013 bundesweit relativ zur Mitgliederzahl gesehen deutlich mehr WählerInnen an der Wahlurne mobilisieren als ihre ideologische Mutterpartei SPD, die bei der Bundestagswahl 2013 auf 11,2 Millionen Stimmen kam. Die fortschrittlichsten Teile der ArbeiterInnenklasse wählen in der Regel DIE LINKE, während der Löwenanteil der deutschen ArbeiterInnen nach wie vor die SPD unterstützt. Dies gilt insbesondere in den Bundesländern Westdeutschlands, wo die SPD angesichts der Schwäche der Partei DIE LINKE weiterhin eine tiefe Verankerung in der ArbeiterInnenklasse besitzt.

Denkzettel für Gabriel

Der SPD-Bundesparteitag vom 11. bis 13. Dezember 2015 markierte einen entscheidenden Einbruch in der Popularität der Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel. Da innerparteiliche Wahlergebnisse ohne Gegenkandidaturen bei weniger als 95% Stimmenanteil in der SPD oftmals als Skandal gelten, dürfte die Wiederwahl Sigmar Gabriels mit gerade einmal 74,3 % der Parteitagsdelegierten eine kosmetische Katastrophe für die Parteibürokratie darstellen, zumal viele Delegierte trotz Kritik aus Loyalität für Gabriel gestimmt haben dürften. Selbst in der politisch deutlich breiter gefächerten Partei DIE LINKE werden Vorsitzende mit stabileren Wahlergebnissen gewählt. So ist es wenig verwunderlich, dass die von Sigmar Gabriel auf selbigem Parteitag plötzlich gemachte Ankündigung einer Befragung der Parteibasis über die zukünftige Positionierung der SPD zum Militäreinsatz in Syrien einerseits eine völlig spontane Notfallidee eines geschwächten Parteivorsitzenden darstellt, andererseits die Bürokratie der SPD wieder einmal der Basisdemokratie eine umgehende Absage erteilte. Selbstverständlich mit dem Verweis auf die Verpflichtung der Bundestagsabgeordneten, ausschließlich ihrem eigenen persönlichen Gewissen zu folgen.

Während die bürgerliche Führung in der deutschen Sozialdemokratie notgedrungen ihre eigenen Interessen durch ständig neuen Allianzen innerhalb des Apparats zu sichern versucht, ist in einigen Teilen der Basis und der Jusos ein halb versteckter, halb offener, auf jeden Fall jedoch interessanter Gärungsprozess zu beobachten. Die Jusos in Bayern und Hessen haben sich bereits vor einigen Monaten in Pressemitteilungen öffentlich von ihrem Parteivorsitzenden distanziert. So schrieb der Landesverband Bayern in einem offenen Brief über die Erpressungen der deutschen Bundesregierung gegenüber der SYRIZA-geführten Regierung Griechenlands im Sommer 2015 an ihren eigenen Parteivorsitzenden und Vize-Kanzler, Zitat:

»Es reicht! Es reicht ganz Europa der deutsche Chauvinismus und die süffisante Überheblichkeit, mit der du und andere VertreterInnen der deutschen Regierung gegenüber Griechenland und anderen krisengebeutelten Staaten auftreten! Es reicht den Menschen in Griechenland die aufgezwungene Sparpolitik der Troika, die jede eigenständige wirtschaftliche Entwicklung verhindert! Es reicht jedem Menschen mit einem Fünkchen internationaler Solidarität im Herzen die ewig gleiche Nummer, bei der die RentnerInnen in Deutschland gegen die RentnerInnen in Griechenland ausgespielt werden, während fröhlich die finanziellen Interessen deutscher Banken in der „Schuldenkrise“ gerettet werden. Und es reicht uns Jusos dein blanker Populismus, mit dem du dich vor den Karren der Griechenlandhetze aus dem Haus Springer spannen lässt. Wir erwarten mehr von einem Vorsitzenden der SPD, als unreflektiert Stammtischparolen zu wiederholen und im trübbraunen Wasser zu fischen. Wir erwarten von dir als sozialdemokratischem Wirtschaftsminister, dass du Menschen Ängste vor der Krise nimmst und rechtspopulistische Kurzschlüsse enttarnst, anstatt mit ihnen zu spielen. Und wir erwarten, dass du auch die eigene Krisenpolitik kritisch hinterfragst, anstatt einfach die Schuld auf die neue griechische Regierung zu schieben.« [1]

Auch der Landesverband Hessen der Jusos, welcher unter anderem eine Kampagne mit dem Hashtag #notmyVorsitzender inizierte, äußerte sich einen Monat später in einem offenen Brief über Sigmar Gabriels Haltung zu innenpolitischen Fragen dahingehend, dass »Die Menschen spüren, ob jemand eine echte „Haltung“ hat. Das Problem ist nur, dass die Sozialdemokratie, zumindest wenn man nach der Bundes-SPD geht, so viele unterschiedliche „Haltungen“, gern auch zum selben Sachverhalt, hat, dass man nicht mehr weiß, wofür wir überhaupt stehen. Bei uns in Nordhessen gibt es dazu einen einfachen Spruch: „Wer für alles offen ist, kann nicht ganz dicht sein.“« [2]

Angesichts dieser eindeutigen Worte bedarf es keiner ausführlichen Analyse, ob es in den radikaleren Teilen des Jugendverbands der SPD einen wachsenden Unmut über die politische Linie der Parteiführung gibt. Es genügt das einfache Verständnis marxistischer Dialektik, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt und dieser Prozess durch subjektive Faktoren beeinflussbar ist. Zweifelsfrei ist in der deutschen Sozialdemokratie keine Persönlichkeit wie der neue Labour-Leader Jeremy Corbyn als neuer Parteichef in Sichtweite, allerdings können nur politische Sekten behaupten, dass die deutsche Sozialdemokratie ein monolithischer Block aus neoliberalen KriegsunterstützerInnen wäre und es keinen objektiven Klassenunterschied zwischen ihr und der CDU von Bundeskanzlerin Angela Merkel gäbe. Doch geht es nicht um das Verständnis von der Dialektik beraubten „marxistischen“ Sekten in der gesellschaftspolitischen Bedeutungslosigkeit. Es geht hier um traditionelle Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse, da sie in gewisser Weise ein Spiegelbild der realen ArbeiterInnenklasse selbst sind. Insofern ist es bemerkenswert, dass Teile des größten deutschen Jugendverbands mit sozialistischem Anspruch eine klare Linie zwischen sich und der bürgerlichen Parteibürokratie einer absterbenden Arbeiterpartei ziehen. Der Widerspruch zwischen Basis und Führung gärt allerdings nicht nur im Jugendverband.

Im Juni 2015 schaffte mit Walter Adam ein kommunal aktives SPD-Basismitglied des linken Flügels beim Landesparteitag in Bayern mit einer Kampfkandidatur zum Landesvorsitz gegen den amtierenden Landesvorsitzenden Florian Pronold aus dem Stand stolze 31,7 % der Delegiertenstimmen und damit einen Achtungserfolg. Pronold hat eine steile Diagonalkarriere von links unten nach rechts oben hinter sich. 2003 war er noch ein Sprecher des innerparteilichen Mitgliederbegehrens gegen die Agenda 2010, das damals immerhin 21.000 Unterschriften kritischer Mitglieder sammelte. Inzwischen ist er Bundestagsabgeordneter und Parlamentarischer Staatssekretär in der Bundesregierung und hat eine rasante Verbürgerlichung hinter sich.

Das verdeutlicht die massiv wachsende Frustration in Teilen der Basis über den anhaltenden Rechtsruck der SPD-Bürokratie und konkretisiert sich insbesondere in der kürzlich ins Leben gerufenen bayerischen SPD-Basisinitiative „Zeit für die Mutigen“ unter dem Motto „Aktion Rammbock“, welche die vielen verbliebenen AnhängerInnen der SPD, die die traditionellen Grundwerte der Sozialdemokratie in Gefahr oder längst verraten sehen, zu vereinen und gegen den Verbürgerlichungsprozess zu mobilisieren versucht. In ihrem politischen Appell heißt unter anderem:

»Deutschland braucht die Sozialdemokratie! Aber bestimmt nicht eine SPD, wie sie sich derzeit präsentiert. Eine SPD, bei der an die Stelle der politischen Ideale und Visionen der faule Konsens der Alternativlosigkeit getreten ist. Eine SPD, deren Führungsriege politisch gezähmt und orientierungslos weder Programm noch Personal als grundlegende Alternative zur Politik der Konservativen bietet. Eine SPD, deren Funktionäre unsere “Grundwerte” zur politischen Verhandlungsmasse machen. Genossinnen und Genossen, so können und dürfen wir nicht weitermachen!« [3]

Die Unterstützung der Vorratsdatenspeicherung, die Bejahung der Freihandelsabkommen TTIP und Ceta sowie die aktuelle Beteiligung der deutschen Bundeswehr an der Intervention in Syrien und die Haltung der SPD zum Militäreinsatz dürften in der SPD weiterhin die Spreu vom Weizen trennen. Es wird vor allem die Aufgabe des revolutionären Marxismus sein, diesen Gärungsprozess solidarisch zu begleiten und ihn durch geduldige Argumentation über die Grenzen des traditionellen Reformismus der deutschen Sozialdemokratie hinaus zu führen. Das gilt für die fortschrittlichen Teile der SPD ebenso für die Partei DIE LINKE. Letztere kämpft bereits jetzt um ihre Identität. In Westdeutschland kann DIE LINKE aus historischen Gründen keine breiten Massen mobilisieren wie in Ostdeutschland, während DIE LINKE in Ostdeutschland durch den Aufstieg in die Verwaltung des bürgerlichen Staates auf kommunaler und Landesebene in gewisser Hinsicht unübersehbare Parallelen mit dem politischen Standard der SPD in Westdeutschland aufzeigt.

Wer über den Marxismus und die Dialektik erhaben ist versteht zwangsläufig, dass sich DIE LINKE und die SPD letzten Endes nur temporär und graduell voneinander unterscheiden. Der viel weiter fortgeschrittenere Verbürgerlichungsprozess der SPD gegenüber der Partei DIE LINKE auf Bundesebene ist lediglich ihrer jahrelangen Teilnahme an Regierungen auf der politischen Grundlage des kapitalistischen Privateigentums geschuldet. Noch sind wesentliche Unterschiede durchaus sichtbar – etwa bei der Militär- und Außenpolitik oder bei der Ablehnung von Agenda 2010, Sozialabbau, Schuldenbremse und Privatisierungen. Ob DIE LINKE politisch da endet, wo die SPD jetzt steht, muss sich zeigen. Geschichte wird von Menschen gemacht. Wie schnell eine linke Partei in Amt und Würden unter dem Druck des Kapitals einknicken kann, zeigt jedoch der abrupte Kurswechsel der Syriza-Regierung in Griechenland.

Faktisch existieren zwei sozialdemokratische Parteien in der Bundesrepublik Deutschland. Und wenn der durchschnittliche Arbeiter die Wahl zwischen zwei reformistischen Parteien hat, so entscheidet er sich oftmals für die größere Partei – im Westen eher die SPD, im Osten eher DIE LINKE. Unsere Aufgabe muss es sein, sektiererische Argumentationen aufgrund von oberflächlichen Parteietiketten auf beiden Seiten zu bekämpfen und eine Einheit aller fortschrittlichen ArbeiterInnen und Jugendlichen in- und außerhalb der Partei DIE LINKE und der SPD auf der Grundlage einer revolutionären sozialistischen Programms herzustellen.

Quellenverweise:
[1]  http://jusos-bayern.de/meldungen/offener-brief-der-jusos-bayern-an-sigmar-gabriel/
[2]  http://hessenjusos.de/blog/2015/07/07/offener-brief-an-sigmar-gabriel/
[3] http://andiemutigen.de/

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