Kategorie: 1917

Klasse, Partei und Führung - Warum wurde das spanische Proletariat besiegt?

In einer seiner letzten Schriften ging der 1940 ermordete russische Revolutionär Leo Trotzki auf das Verhältnis zwischen Arbeiterklasse, revolutionärer Partei und Führung ein. Dabei unterstrich vor dem Hintergrund der Niederlage des spanischen Proletariats 1939, dass der Sieg der sozialistischen Revolution keine spontane, automatische Angelegenheit sein kann, sondern eine lange gründliche Vorbereitungsarbeit und Entwicklung von Kadern erfordert.



In welchem Ausmaß die Bewegung der Arbeiterklasse zurückgeworfen worden ist, lässt sich nicht nur am Zustand der Massenorganisationen ablesen, sondern auch der ideologischen Gruppierungen und der theoretischen Untersuchungen, mit denen sich so viele Gruppen beschäftigen. In Paris erscheint eine Zeitschrift Que faire (Was tun), die sich aus irgendeinem Grunde für marxistisch hält, in Wirklichkeit aber völlig im Rahmen des Empirismus der linken bürgerlichen Intellektuellen und jener isolierten Arbeiter bleibt, die all die Laster der Intellektuellen angenommen haben.

Wie alle Gruppen, denen eine wissenschaftliche Grundlage fehlt, ohne Programm und ohne jede Tradition, versuchte diese kleine Zeitschrift, sich an die Rockschöße der POUM zu hängen — die den kürzesten Weg zu den Massen und zum Sieg zu eröffnen schien. Das Resultat dieser Bindungen an die spanische Revolution erscheint zunächst völlig unerwartet: die Zeitschrift hat sich nicht weiterentwickelt, sondern ist im Gegenteil verkümmert. Tatsächlich aber liegt das ganz in der Natur der Dinge. Die Widersprüche zwischen kleinbürgerlichem Konservatismus und den Anforderungen seitens der proletarischen Revolution haben sich aufs äußerste zugespitzt. Es ist nur natürlich, dass die Verteidiger und Interpreten der Politik der POUM theoretisch und politisch weit zurückgeworfen wurden.

Die Zeitschrift Que faire ist an und für sich ohne jede Bedeutung. Sie ist aber von symptomatischem Interesse. Aus diesem Grunde scheint es uns nützlich, bei der Würdigung der Ursachen für das Scheitern der spanischen Revolution zu verweilen, wie sie von dieser Zeitung gegeben wird, da diese Würdigung sehr plastisch die heutigen Grundzüge am linken Flügel des Pseudo-Marxismus aufzeigt.

„Was tun“ erklärt

Wir beginnen mit einem wörtlichen Zitat aus einer Besprechung (in Que faire) der Broschüre Verratenes Spanien unseres Genossen Casanova:

Warum wurde die Revolution niedergeschlagen? „Weil“, erwidert der Verfasser (Casanova), „die Kommunistische Partei eine falsche Politik betrieben hat, der die revolutionären Massen unglücklicherweise folgten.“ Ja, und warum, in Teufels Namen, scharten sich die revolutionären Massen, die ihre bisherige Führung verlassen hatten, um das Banner der Kommunistischen Partei? „Weil keine echte revolutionäre Partei existierte.“ Uns wird eine reine Tautologie geliefert. Eine falsche Politik der Massen, eine unreife Partei zeigen entweder einen bestimmten Zustand der gesellschaftlichen Kräfte an (Unreife der Arbeiterklasse, Rückständigkeit der Bauern), was von den Tatsachen her, die unter anderem von Casanova selbst geliefert werden, erklärt werden muss, oder es ist das Produkt der Handlungen gewisser bösartiger Individuen oder Gruppen von Individuen — Handlungen, denen die Anstrengungen „ernsthafter Individuen“, die allein fähig sind, die Revolution zu retten, nicht gewachsen sind. Nachdem Casanova den ersten und marxistischen Weg flüchtig angesprochen hat, beschreitet er den zweiten. Wir werden in ein von Dämonen allein beherrschtes Reich geführt. Der für die Niederlage Verantwortliche ist der Obersatan Stalin, umringt von den Anarchisten und all den anderen kleinen Teufeln: der Gott der Revolutionäre schickte unglücklicherweise keinen Lenin oder Trotzki nach Spanien, wie er es im Jahre 1917 in Russland tat.“

Dann kommt die Schlussfolgerung:

„Das passiert, wenn man mit aller Macht die verknöcherte Orthodoxie einer Sekte den Tatsachen aufzwingen will.“

Dieser theoretische Hochmut ist umso bemerkenswerter, als es fast unvorstellbar ist, wie so viele abgedroschene, platte und falsche, für einen konservativen Philister charakteristische Bemerkungen in so wenig Zeilen untergebracht werden konnten.

Der Verfasser des oben angeführten Zitats hütet sich, auch nur die geringste Erklärung für die Niederlage der spanischen Revolution zu geben; er begnügt sich damit, man müsse auf grundlegendere Erklärungen wie den „Zustand der gesellschaftlichen Kräfte“ zurückgreifen. Es ist kein Zufall, dass jede Erklärung vermieden wird. Die Kritiker des Bolschewismus sind allesamt theoretische Feiglinge, aus dem einfachen Grund, weil sie keinen festen Boden unter ihren Füßen spüren. Um ihren Bankrott nicht anzumelden, jonglieren sie mit Tatsachen und stöbern in den Meinungen anderer herum. Sie beschränken sich auf Andeutungen und Halbwisserei, als ob sie nur nicht die Zeit hätten, ihre ganze Weisheit abzuladen. In Wirklichkeit jedoch besitzen sie überhaupt keine Weisheit. Ihr Hochmut ist gepaart mit intellektueller Scharlatanerie.

Analysieren wir einmal nacheinander die Andeutungen und Halbheiten unseres Autors. Nach ihm kann eine falsche Politik der Massen nur dadurch erklärt werden, dass sie „einen bestimmten Zustand der gesellschaftlichen Kräfte anzeigt“, namentlich die „Unreife der Arbeiterklasse“ und die „Rückständigkeit der Bauern“. Wer auf Tautologien aus ist, könnte nirgends eine seichtere finden. Eine „falsche Politik der Massen“ wird, erklärt durch die „Unreife“ der Massen. Aber was bedeutet „Unreife“ der Massen? Offensichtlich ihre Empfänglichkeit für falsche Politik. Worin nun die falsche Politik bestand, und wer sie initiierte: die Massen oder die Führer — das wird schweigend von unserem Autor übergangen. Mit Hilfe einer Tautologie schiebt er die Verantwortung auf die Massen. Besonders empörend ist dieser klassische Trick aller Verräter, Deserteure und deren Anwälte in Verbindung mit dem spanischen Proletariat.

Die Sophistik der Verräter

Im Juli 1936 – um nicht noch weiter zurückzugreifen – wehrten die spanischen Arbeiter den Angriff der Offiziere ab, die ihre konspirativen Pläne unter dem Deckmantel der Volksfront geschmiedet hatten. Die Massen improvisierten Milizen und errichteten Arbeiterkomitees, die Grundfesten ihrer zukünftigen Diktatur. Ihrerseits halfen die führenden Organisationen des Proletariats der Bourgeoisie, diese Komitees zu zerstören, die Angriffe der Arbeiter auf das Privateigentum zu liquidieren und die Milizen unter das Kommando der Bourgeoisie zu stellen, wobei sich die POUM überdies an der Regierung beteiligte und damit die direkte Verantwortung für das Werk der Konterrevolution auf sich nahm.

Was bedeutet „Unreife“ des Proletariats in diesem Fall? Offenbar doch nur, dass es den Massen, obwohl sie die richtige Linie gewählt hatten, nicht gelang, die Koalition der Sozialisten, Stalinisten, Anarchisten und der POUM mit der Bourgeoisie zu zerbrechen. Dieses Stück Sophistik geht von der Vorstellung etwa einer absoluten Reife, d.h. einem perfekten Zustand der Massen aus, in welchem sie nicht nur keine korrekte Führung brauchen, sondern auch darüber hinaus — entgegen ihrer eigenen Führung — siegreich sein können. Eine solche Reife gibt es nicht und kann es nicht geben.

Unsere Weisen geben zu bedenken: „Aber warum sollen sich Arbeiter, die einen so sicheren revolutionären Instinkt und so hervorragende Kampfeigenschaften zeigen, einer verräterischen Führung unterordnen?“ Unsere Antwort lautet: nicht einmal andeutungsweise gab es eine derartige Unterordnung. Die Marschlinie der Arbeiter wich immer von der Linie der Führung in einem gewissen Winkel ab, und in den kritischsten Momenten betrug der Winkel 180 Grad. Die Führung hat dann bei der gewaltsamen Niederwerfung der Arbeiter direkt oder indirekt Hilfe geleistet.

Im Mai 1937 erhoben sich die Arbeiter Kataloniens nicht nur ohne ihre eigene Führung, sondern gegen sie. Die anarchistischen Führer – pathetische und verächtliche Bourgeois, oberflächlich als Revolutionäre getarnt – haben in ihrer Presse hunderte Male wiederholt, die CNT hätte ohne Schwierigkeit die Macht im Mai ergreifen und ihre Diktatur errichten können, wenn sie nur gewollt hätte. Diesmal sagen die Anarchisten die reine Wahrheit. Die POUM-Führung befand sich in Wirklichkeit im Schlepptau der CNT, nur dass sie ihre Politik mit einer anderen Phraseologie verdeckte. Es war dieser Tatsache und nur ihr allein zuzuschreiben, dass es der Bourgeoisie gelang, den Maiaufstand des „unreifen“ Proletariats niederzuwerfen.

Man muss schon absolut gar nichts auf dem Gebiet der gegenseitigen Beziehungen zwischen der Klasse und Partei, zwischen den Massen und der Führung begriffen haben, um die leere Phrase nachzuplappern, die spanischen Massen seien einfach ihren Führern gefolgt. Sie versuchten zu jeder Zeit, auf den richtigen Weg zu gelangen. Das einzige, was gesagt werden kann, ist, dass es über die Kraft der Massen ging, mitten im Kampf eine neue Führung aufzubauen, die den Erfordernissen der Revolution entsprochen hätte. Wir stehen vor einem zutiefst dynamischen Prozess, wo die verschiedenen Stadien der Revolution sehr schnell auf einander folgen, wo die Führung oder verschiedene Teile der Führung plötzlich zum Klassenfeind überlaufen — und da ergehen sich unsere Weisen in einer rein statischen Diskussion: warum folgte die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit einer schlechten Führung?

Wie man an diese Frage dialektisch herangeht

Es gibt einen alten Spruch, der die evolutionäre und liberale Auffassung von der Geschichte widerspiegelt: jedes Volk hat die Regierung, die es verdient. Die Geschichte zeigt jedoch, dass ein- und dasselbe Volk innerhalb einer relativ kurzen Epoche sehr verschiedene Regierungen haben kann (Russland, Italien, Deutschland, Spanien usw.) und dass darüber hinaus die Reihenfolge der Regierungen sich keineswegs in ein- und dieselbe Richtung bewegt: vom Despotismus zur Freiheit, wie sich das die evolutionären Liberalen vorstellen. Das Geheimnis liegt darin, dass ein Volk sich aus feindlichen Klassen zusammensetzt und die Klassen selbst sich in verschiedene und teilweise antagonistische Schichten gliedern, die eigene Führungen besitzen; überdies ist jedes Volk den Einflüssen anderer Völker ausgesetzt, die auch wieder aus Klassen bestehen. Regierungen drücken nicht die systematisch wachsende „Reife“ eines „Volkes“ aus, sondern sie sind ein Produkt des Kampfes zwischen verschiedenen Klassen und den verschiedenen Schichten innerhalb ein und derselben Klasse, und schließlich der Einflüsse äußerer Kräfte – Bündnisse, Konflikte, Kriege usw. Außerdem muss noch hinzugefügt werden, dass eine Regierung, wenn sie erst einmal am Ruder ist, sich viel länger halten kann als das Kräfteverhältnis, dem sie entstammt. Genau aus diesem historischen Widerspruch gehen Revolutionen, Staatsstreiche, Konterrevolutionen usw. hervor.

Die gleiche dialektische Methode muss bei der Behandlung des Problems der Führung einer Klasse angewandt werden. Unsere Weisen imitieren die Liberalen und akzeptieren stillschweigend das Axiom, dass jede Klasse die Führung hat, die sie verdient. In Wirklichkeit ist die Führung durchaus nicht die „einfache Widerspiegelung“ einer Klasse oder das Produkt ihrer eigenen schöpferischen Kraft. Eine Führung wird vielmehr im Prozess der Zusammenstöße zwischen den verschiedenen Klassen oder der Reibung zwischen den verschiedenen Schichten einer gegebenen Klasse geformt. Einmal aufgestiegen, erhebt sich die Führung stets über die Klasse und wird dadurch den Einflüssen und dem Druck anderer Klassen ausgesetzt. Das Proletariat kann für lange Zeit eine Führung „dulden“, die schon eine vollständige innere Degeneration durchgemacht hat, die jedoch noch nicht die Gelegenheit hatte, dies angesichts großer Ereignisse zu zeigen.

Ein großer historischer Schock ist notwendig, um in aller Schärfe die Widersprüche zwischen der Führung und der Klasse zu enthüllen. Die mächtigsten historischen Schocks sind Kriege und Revolutionen. Genau aus diesem Grunde wird die Arbeiterklasse oft unversehens von Krieg und Revolutionen überrascht. Aber sogar dann, wenn die alte Führung ihre innere Korruption offenbart hat, kann die Klasse sich nicht aus dem Stegreif eine neue Führung schaffen, zumal wenn sie nicht aus der vorangegangenen Periode starke revolutionäre Kader ererbt hat, die fähig sind, sich den Zusammenbruch der alten führenden Partei zunutze zu machen. Die marxistische, d.h. dialektische und nicht scholastische Interpretation der gegenseitigen Beziehungen zwischen einer Klasse und ihrer Führung lässt von der legalistischen Sophistik unseres Autors keinen Stein auf dem anderen.

Wie der russische Arbeiter heranreifte

Er denkt sich die Reife des Proletariats als etwas rein Statisches. Dabei ist während einer Revolution die Entwicklung des Bewusstseins einer Klasse der dynamischste Prozess, der direkt den Verlauf der Revolution bestimmt. War es im Januar 1917 oder sogar im März, nach dem Sturz des Zarismus, möglich, die Frage zu beantworten, ob das Proletariat in acht bis neun Monaten genügend für die Machtergreifung „gereift“ sein würde?

Zu dieser Zeit war die Arbeiterklasse sozial wie politisch höchst heterogen. In den Kriegsjahren hatte sie sich zu 30 bis 40 Prozent erneuert, aus den Reihen des vielfach reaktionären Kleinbürgertums, aus den zurückgebliebenen Bauern, den Frauen und der Jugend. Im März 1917 folgte der Bolschewistischen Partei nur eine unbedeutende Minderheit der Arbeiterklasse, und darüber hinaus wurde die Partei selbst von inneren Unstimmigkeiten beherrscht. Die überwiegende Mehrzahl der Arbeiter unterstützte die Menschewiki und die „Sozialrevolutionäre“, also konservative Sozialpatrioten. In Bezug auf die Armee und die Bauernschaft war die Situation noch ungünstiger. Dazu kamen noch das allgemein niedrige Niveau im Lande und das Fehlen politischer Erfahrungen unter den breitesten Schichten des Proletariats, besonders in der Provinz, ganz zu schweigen von der Bauernschaft und den Soldaten.

Was war der „Aktivposten“ des Bolschewismus? Am Anfang der Revolution hatte nur Lenin eine klare und konsequent durchdachte revolutionäre Konzeption. Die russischen Kader der Partei waren verstreut und zu einem beträchtlichen Grade verwirrt. Aber die Partei genoss Autorität unter den fortschrittlichen Arbeitern. Lenin hatte große Autorität bei den Parteikadern. Lenins politische Konzeption entsprach der tatsächlichen Entwicklung der Revolution und wurde durch jedes neue Ereignis bekräftigt. Diese Vorteile wirkten Wunder in einer revolutionären Situation, das heißt unter den Bedingungen eines erbitterten Klassenkampfes. Die Partei richtete ihre Politik rasch nach Lenins Konzeption aus, d.h. nach dem tatsächlichen Verlauf der Revolution. Dadurch gelang es ihr, die feste Unterstützung von Zehntausenden von fortschrittlichen Arbeitern zu gewinnen. Auf die Entwicklung der Revolution gestützt, war es der Partei möglich, innerhalb weniger Monate die Mehrheit der Arbeiter von der Richtigkeit ihrer Parolen zu überzeugen. Da die Mehrheit in Sowjets organisiert war, war sie imstande, die Soldaten und Bauern anzuziehen.

Wie kann dieser dynamische, dialektische Prozess durch eine Formel der „Reife“ oder „Unreife“ des Proletariats erschöpft werden? Ein kolossaler Faktor für die Reife des russischen Proletariats im Februar oder März 1917 war Lenin. Er war nicht vom Himmel gefallen. Er verkörperte die revolutionäre Tradition der Arbeiterklasse. Damit Lenins Parolen ihren Weg zu den Massen finden konnten, mussten Kader existieren, selbst wenn es anfangs nur wenige waren; die Kader mussten Vertrauen in die Führung haben, ein Vertrauen, das auf der gesamten Erfahrung der Vergangenheit basierte. Diese Elemente aus seinen Berechnungen auszuklammern, bedeutet einfach, die lebendige Revolution zu ignorieren, sie durch eine Abstraktion, das „Kräfteverhältnis“, zu ersetzen. Denn die Entwicklung der Revolution besteht gerade darin, dass sich das Kräfteverhältnis unaufhörlich und plötzlich verändert: unter dem Einfluss der Veränderungen im Bewusstsein des Proletariats, der Anziehung rückständiger Schichten durch die fortgeschrittenen, die wachsende Zuversicht der Klasse in ihre eigene Stärke. Das wichtigste, lebendige Element in diesem Prozess ist die Partei, genau wie im Mechanismus der Partei das wichtige und lebendige Element die Führung ist. Die Rolle und die Verantwortung der Führung in einer revolutionären Epoche ist enorm.

Die Relativität der „Reife“

Der Oktober-Sieg ist ein ernstes Zeugnis für die „Reife“ des Proletariats. Aber diese Reife ist relativ. Wenige Jahre später ließ dasselbe Proletariat zu, dass eine Bürokratie, die aus seinen eigenen Reihen heranwuchs, die Revolution erwürgte. Ein Sieg ist keineswegs die reife Frucht der „Reife“ des Proletariats. Der Sieg ist eine strategische Aufgabe. Die günstigen Umstände einer revolutionären Krise müssen dazu genutzt werden, die Massen zu mobilisieren; der gegebene Stand ihrer „Reife“ muss als Ausgangspunkt genommen werden, um sie weiter vorwärts zu treiben, um ihnen klarzumachen, dass der Feind keineswegs allmächtig ist, dass er von Widersprüchen zerrissen ist, dass hinter der imponierenden Fassade Panik herrscht. Hätte die Bolschewistische Partei gegenüber dieser Aufgabe versagt, so hätte vom Sieg der proletarischen Revolution nicht einmal die Rede sein können. Die Sowjets wären von der Konterrevolution hinweggefegt worden, und die kleinen Weisen aller Länder hätten Artikel und Bücher geschrieben mit dem Grundtenor, dass nur entwurzelte Schwärmer in Russland von der Diktatur des Proletariats träumen könnten, das doch zahlenmäßig so schwach und so unreif ist.

Die Hilfestellung der Bauern

Genau so abstrakt, pedantisch und falsch ist der Hinweis auf die „Rückständigkeit“ der Bauernschaft. Wann und wo hat unser Weiser in der kapitalistischen Gesellschaft je eine Bauernschaft mit einem unabhängigen revolutionären Programm oder mit der Fähigkeit zu unabhängiger revolutionärer Initiative beobachtet? Die Bauernschaft kann eine sehr große Rolle in der Revolution spielen, aber eben nur Hilfestellung geben.

Die spanische Bauernschaft hat in vielen Fällen kühn gehandelt und mutig gekämpft. Um aber die gesamte Bauernschaft aufzuwiegeln, hätte das Proletariat mit einer entschiedenen Erhebung gegen die Bourgeoisie ein Beispiel geben und unter den Bauern den Glauben an die Möglichkeit des Sieges schüren müssen. Währenddessen wurde die revolutionäre Initiative des Proletariats selbst bei jedem Schritt durch seine eigenen Organisationen gelähmt.

Die „Unreife“ des Proletariats, die „Rückständigkeit“ der Bauernschaft sind weder endgültige noch grundlegende Faktoren bei historischen Ereignissen. Hinter dem Bewusstsein der Klassen stellen die Klassen selbst, ihre zahlenmäßige Stärke, ihre Rolle im wirtschaftlichen Leben. Hinter den Klassen steht ein spezifisches Produktionssystem, das wiederum durch den Entwicklungsstand der Produktivkräfte bestimmt ist. Warum dann nicht erklären, die Niederlage des spanischen Proletariats wäre durch den niedrigen Stand der Technologie bestimmt?

Die Rolle der Persönlichkeit

Unser Autor ersetzt die dialektische Bedingtheit des historischen Prozesses durch einen mechanischen Determinismus. Daher auch die billigen Albereien über die Rolle von – guten und schlechten – Individuen. Die Geschichte ist ein Prozess von Klassenkämpfen. Aber die Klassen bringen ihr volles Gewicht nicht automatisch und gleichzeitig zum Tragen. Im Verlauf des Kampfes entwickeln die Klassen verschiedene Organe, die eine wichtige und unabhängige Rolle spielen und Deformationen unterworfen sind. Das bildet auch die Grundlage für die Rolle von Persönlichkeiten in der Geschichte. Es gibt natürlich gewaltige objektive Ursachen für die autokratische Herrschaft Hitlers, aber nur stumpfsinnige Pedanten des „Determinismus“ können heute Hitlers enorme historische Rolle leugnen. Die Ankunft Lenins in Petrograd am 3. April 1917 brachte die rechtzeitige Wendung der Bolschewistischen Partei und befähigte sie, die Revolution zum Siege zu führen.

Unsere Weisen mögen behaupten, dass, wäre Lenin Anfang 1917 im Ausland gestorben, die Oktoberrevolution „genauso“ stattgefunden hätte. Dem ist aber nicht so. Lenin repräsentierte eines der lebendigen Elemente des historischen Prozesses. Er verkörperte die Erfahrung und die Einsicht des aktivsten Teils des Proletariats. Sein zeitiges Erscheinen in der Arena der Revolution war notwendig, um die Avantgarde zu mobilisieren und ihr eine günstige Gelegenheit zu verschaffen, die Arbeiterklasse und die Bauernschaft um sich zu sammeln. In den entscheidenden Momenten historischer Wendungen kann die politische Führung ein genauso entscheidender Faktor werden wie das Oberkommando in den kritischen Momenten eines Krieges. Geschichte ist kein automatischer Prozess. Warum sonst Führer? Warum Parteien? Warum Programme? Warum theoretische Auseinandersetzungen?

Der Stalinismus in Spanien

„Aber warum, zum Teufel“, fragte der Autor, wie wir schon gehört haben, „scharten sich die revolutionären Massen, die ihre alten Führer verlassen hatten, um das Banner der Kommunistischen Partei?“ Die Frage ist falsch gestellt. Es stimmt nicht, dass die revolutionären Massen all ihre alten Führer verließen. Die Arbeiter, die vorher mit bestimmten Organisationen verbunden waren, blieben weiterhin Anhänger dieser Organisationen, während sie beobachteten und prüften. Arbeiter brechen gewöhnlich nicht ohne weiteres mit der Partei, die sie zum bewussten Leben erweckt hat. Überdies lullte sie das System gegenseitiger Schonung innerhalb der Volksfront ein: da jeder einverstanden war, musste alles in Ordnung sein. Die neuen und frischen Massen wandten sich selbstverständlich der Komintern zu als der Partei, welche die einzige siegreiche proletarische Revolution zustandegebracht hatte, und von der man erwartete, dass sie Spanien mit Waffen versorgen könnte.

Außerdem war die Komintern der eifrigste Verfechter der Idee der Volksfront; das flößte den unerfahrenen Schichten der Arbeiter Vertrauen ein. Innerhalb der Volksfront war die Komintern der eifrigste Vertreter des bürgerlichen Charakters der Revolution; das weckte das Vertrauen der Klein- und teilweise der Mittelbourgeoisie. Darum „scharten sich die Massen um das Banner der Kommunistischen Partei.“

Unser Autor stellt die Sache so dar, als ob das Proletariat in einem gut sortierten Schuhgeschäft wäre und ein neues Paar Stiefel auszusuchen hätte. Selbst diese einfache Operation läuft nicht immer erfolgreich ab, wie man weiß. In Bezug auf eine neue Führung ist die Auswahl sehr begrenzt. Nur schrittweise, nur auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrung durch mehrere Stadien hindurch können die breiten Schichten der Massen sich schließlich davon überzeugen, dass eine neue Führung entschlossener, verlässlicher, ergebener ist als die alte. Freilich, in einer Revolution, d.h. wenn sich die Ereignisse überschlagen, kann eine schwache Partei rasch zu einer mächtigen heranwachsen, falls sie klar den Verlauf der Revolution begreift und zuverlässige Kader besitzt, die sich nicht an Phrasen berauschen und nicht durch Verfolgungen einschüchtern lassen. Aber eine solche Partei muss schon vor der Revolution bestehen, weil der Erziehungsprozess der Kader eine beträchtliche Zeit in Anspruch nimmt, und die Revolution diese Zeit nicht gewährt.

Der Verrat der POUM

Links von all den anderen Parteien in Spanien stand die POUM, welche zweifellos revolutionäre proletarische Elemente umfasste, die nicht vorher fest mit dem Anarchismus verbunden gewesen waren. Aber gerade diese Partei spielte in der Entwicklung der spanischen Revolution eine verhängnisvolle Rolle. Sie konnte keine Massenpartei werden, denn dazu wäre es notwendig gewesen, erst einmal die alten Parteien zu zerbrechen, und das hätte nur durch einen unversöhnlichen Kampf, durch erbarmungsloses Anprangern ihres bürgerlichen Charakters erreicht werden können.

Während die POUM jedoch die alten Parteien kritisierte, unterwarf sie sich ihnen gleichzeitig in allen Grundfragen. Sie beteiligte sich am „Volks“-Wahlblock, trat einer Regierung bei, die Arbeiterkomitees liquidierte, kämpfte für die Wiederherstellung dieser Regierungskoalition, kapitulierte immer wieder vor der anarchistischen Führung, betrieb in diesem Zusammenhang eine falsche Gewerkschaftspolitik und nahm eine schwankende und nichtrevolutionäre Haltung gegenüber dem Mai-Aufstand von 1937 ein.

Vom Standpunkt des Determinismus im allgemeinen kann man natürlich erkennen, dass die Politik der POUM keine zufällige war. Jedes Ding auf dieser Welt hat seine Ursache. Jedoch die Reihe von Gründen, die den Zentrismus der POUM erzeugten, sind auf keinen Fall eine bloße Widerspiegelung des Zustandes des spanischen oder katalanischen Proletariats. Zwei Reihen Ursachen bewegten sich in einem Winkel aufeinander zu, und in einem bestimmten Moment kollidierten sie.

Es ist möglich, politisch und psychologisch zu erklären, warum sich die POUM als zentristische Partei entfaltete, wenn man vorherige internationale Erfahrungen, den Einfluss Moskaus, den Einfluss einer Anzahl von Niederlagen usw. in Betracht zieht. Aber das ändert nichts an ihrem zentristischen Charakter, noch an der Tatsache, dass eine zentristische Partei stets zu einer Bremse der Revolution wird, sich jedes Mal ihren Kopf einrennen muss und den Zusammenbruch der Revolution herbeiführen kann. Es ändert nichts an der Tatsache, dass die katalanischen Massen weit revolutionärer waren als die POUM, und diese wiederum revolutionärer als ihre Führung. Unter diesen Bedingungen die Verantwortung für die falsche Politik auf die „Unreife“ der Massen abzuwälzen, ist eine Scharlatanerie, zu der politische Bankrotteure gewöhnlich Zuflucht nahmen.

Die Verantwortung der Führung

Die historische Verfälschung besteht darin, die Verantwortung für die spanische Niederlage den arbeitenden Massen aufzuladen und nicht den Parteien, die die revolutionäre Bewegung der Massen gelähmt oder einfach zerbrochen haben. Die Anwälte der POUM leugnen einfach die Verantwortung der Führer, um sich damit vor ihrer eigenen Verantwortung drücken zu können. Diese Philosophie der Ohnmacht, die versucht, Niederlagen als notwendige Glieder in der Kette überirdischer Entwicklungen hinzunehmen, ist total unfähig, Fragen nach solch konkreten Faktoren wie Programmen, Parteien, Persönlichkeiten, die die Organisatoren der Niederlagen waren, überhaupt aufzuwerfen, und weigert sich, dies zu tun. Diese Philosophie des Fatalismus und der Schwäche ist dem Marxismus als der Theorie der revolutionären Aktion diametral entgegengesetzt.

Der Bürgerkrieg ist ein Prozess, in dem politische Ziele mit militärischen Mitteln erreicht werden. Wäre der Ausgang dieses Krieges durch den „Zustand der Klassenkräfte“ bestimmt, dann wäre der Krieg selbst nicht notwendig. Der Krieg hat seine eigene Organisation, seine eigene Politik, seine eigenen Methoden, seine eigene Führung, durch welche sein Schicksal unmittelbar bestimmt wird. Natürlich liefert der „Zustand der Klassenkräfte“ die Grundlage für alle anderen politischen Faktoren; aber genau wie das Fundament eines Gebäudes nicht die Bedeutung der Wände, Fenster, Türen, Dächer herabsetzt, genauso wenig verringert der „Zustand der Klassenkräfte“ die Wichtigkeit von Parteien, ihrer Strategie, ihrer Führung. Indem sie das Konkrete im Abstrakten auflösten, machten unsere Weisen tatsächlich auf halbem Wege halt. Die „gründlichste“ Lösung des Problems wäre die Feststellung gewesen, die Niederlage des spanischen Proletariats sei der ungenügenden Entwicklung der Produktivkräfte zuzuschreiben. Eine solche Erklärung versteht jeder Schwachkopf.

Durch die Reduzierung der Bedeutung der Partei und der Führung auf Null leugnen unsere Weisen die Möglichkeit eines revolutionären Sieges überhaupt. Denn es gibt nicht den geringsten Grund, günstigere Bedingungen zu erwarten. Der Kapitalismus hat aufgehört, Fortschritte zu machen, nicht das Proletariat wächst zahlenmäßig, sondern das Arbeitslosenheer: was die Kampfkraft des Proletariats nicht erhöht, sondern verringert und negative Auswirkungen auf sein Bewusstsein hat. Es gibt gleichermaßen keinen Grund, zu glauben, dass die Bauernschaft unter dem kapitalistischen Regime ein höheres revolutionäres Bewusstsein erlangen kann. Die Schlussfolgerung aus der Analyse unseres Autors ist also vollständiger Pessimismus, ein Abgehen von jeder revolutionären Perspektive. Um ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muss jedoch gesagt werden: sie verstehen selbst nicht, was sie sagen.

Im Grunde genommen sind die Ansprüche, die sie an das Bewusstsein der Massen stellen, absolut phantastisch. Die spanischen Arbeiter wie die spanischen Bauern gaben das Maximum dessen, was diese Klassen in einer revolutionären Situation zu geben imstande sind: wir meinen damit gerade eine Klasse, die sich aus Millionen und Abermillionen solchen Individuen zusammensetzt.

Que faire repräsentiert nur eine dieser winzigen Schulen oder Kirchen oder Sekten, die sich aus Angst vor dem Verlauf der Klassenkämpfe und den Schlägen der Reaktion in eine Ecke verkrümeln, und von dort aus ihre kleinen Zeitschriften und theoretischen Studien veröffentlichen, auf entlegenen Pfaden abseits der tatsächlichen Entwicklung des revolutionären Denkens, ganz zu schweigen von der Bewegung der Massen.

Die Unterdrückung der spanischen Revolution

Das spanische Proletariat fiel einer Koalition von Imperialisten, spanischen Republikanern, Sozialisten, Anarchisten, Stalinisten und – auf der linken Flanke – der POUM zum Opfer. Sie alle lähmten die sozialistische Revolution, die das spanische Proletariat schon zu realisieren begonnen hatte. Es ist nicht einfach, mit der sozialistischen Revolution fertig zu werden. Niemand hat dafür bisher andere Methoden gefunden als skrupellose Unterdrückung, Massaker der Avantgarde, Hinrichtung der Führer usw. Natürlich wollte die POUM das nicht. Einerseits wollte sie an der republikanischen Regierung teilnehmen und als loyale friedliebende Opposition dem allgemeinen Block der herrschenden Parteien beitreten; und sie wollte andererseits friedlich kameradschaftliche Beziehungen in einer Zeit unversöhnlichen Bürgerkriegs unterhalten. Genau deswegen fiel die POUM den Widersprüchen ihrer eigenen Politik zum Opfer.

Die konsequenteste Politik im herrschenden Block wurde von den Stalinisten betrieben. Sie waren die kämpfende Avantgarde der bürgerlich-republikanischen Konterrevolution. Sie wollten den Bedarf nach dem Faschismus beseitigen, indem sie der spanischen und der Weltbourgeoisie bewiesen, dass sie selbst fähig waren, unter dem Banner der „Demokratie“ die proletarische Revolution zu erwürgen. Das war die Substanz ihrer Politik. Die Bankrotteure der spanischen Volksfront versuchen heute, die Schande auf die GPU abzuwälzen. Ich glaube, wir können nicht gerade der Nachsichtigkeit gegenüber den Verbrechen der GPU bezichtigt werden. Aber wir sehen klar und sagen den Arbeitern, dass die GPU in diesem Falle nur die entschlossenste Abteilung im Dienste der Volksfront war. Darin lag die Stärke der GPU, darin lag die historische Rolle Stalins. Nur ignorante Philister können das mit dummen kleinen Witzen über den „Obersatan“ beiseite wischen.

Diese Herren geben sich nicht einmal mit der Frage nach dem sozialen Charakter der Revolution ab. Moskaus Lakaien tauften die spanische Revolution zugunsten Englands und Frankreichs in eine bürgerliche Revolution um. Auf diesem Betrug wurde die niederträchtige Politik der Volksfront errichtet, eine Politik, die selbst dann total falsch gewesen wäre, wenn es sich bei der spanischen Revolution wirklich um eine bürgerliche gehandelt hätte. Dabei drückte die Revolution von Anfang an viel deutlicher ihren proletarischen Charakter aus als die Revolution von 1917 in Russland. In der Führung der POUM sitzen heute Herren, die meinen, die Politik Andres Nins sei zu „linksradikal“ gewesen, das einzig richtige war dagegen, die linke Flanke der Volksfront geblieben zu sein. Das einzige Unglück bestand darin, dass Nin, der sich hinter der Autorität Lenins und der Oktoberrevolution verbarg, sich nicht dazu entschließen konnte, mit der Volksfront zu brechen.

Victor Serge, der schnell dabei ist, sich durch eine leichtfertige Haltung gegenüber ernsten Fragen bloßzustellen, schreibt, Nin wollte sich nicht Befehlen aus Oslo oder Coyoacan unterordnen. Kann ein ernsthafter Mensch wirklich imstande sein, die Probleme des Klassengehalts einer Revolution auf kleinlichen Klatsch zu reduzieren? Die Weisen von Que faire wissen absolut keine Antwort auf diese Frage. Sie verstehen nicht einmal die Bedeutung dieser Frage. Denn von welcher Bedeutung ist nun schon die Tatsache, dass das „unreife“ Proletariat sich seine eigenen Machtorgane schuf, die Produktion zu regeln versuchte, nachdem es die Betriebe übernommen hatte – während die POUM mit aller Kraft versuchte, einen Bruch mit den bürgerlichen Anarchisten zu vermeiden, die, im Bündnis mit den bürgerlichen Republikanern und den nicht minder bürgerlichen Sozialisten und Stalinisten, die proletarische Revolution angriffen und abwürgten! Solche „Lappalien“ können augenscheinlich nur für Vertreter einer „verknöcherten Orthodoxie“ von Interesse sein. Die Weisen von Que faire besitzen stattdessen ein Spezialinstrument, um die Reife des Proletariats und das Kräfteverhältnis unabhängig von allen Fragen revolutionärer Klassenstrategie messen zu können…

Aus dem Buch: Leo Trotzki, Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931-1939, Band 2
(unvollendet, 20. August 1940)

 

 

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