Kategorie: Amerika

Bernie Sanders und der Sozialismus

Die USA werden von einem politischen Erdbeben heimgesucht. Senator Bernie Sanders (74) aus dem Bundesstaat Vermont, der sich selbst als „demokratischen Sozialisten“ bezeichnet, kandidiert für das Amt des Präsidenten.


Mit seinen Forderungen nach einer „politischen Revolution gegen die Klasse der Milliardäre“ mobilisiert er Millionen US-AmerikanerInnen hinter sich, die einen Ausweg aus Armut und Perspektivlosigkeit suchen. Doch welche Perspektive bietet Bernie Sanders?

„US-Politics gets interesting!“

Nachdem der amtierende Barack Obama im Jahr 2008 zum ersten schwarzen Präsidenten gewählt wurde, musste die ArbeiterInnenklasse schnell feststellen, dass die Hautfarbe tatsächlich nichts über die politischen Qualitäten von Personen aussagt. Galt er zunächst als Hoffnungsträger gegen Kriegseinsätze und Vorkämpfer für mehr soziale Rechte, insbesondere der unterdrückten schwarzen und hispanischen Teile der US-amerikanischen Gesellschaft, die vor allem unter seinem Amtsvorgänger George W. Bush zu leiden hatten. Nun steht mit Bernie Sanders ein Herausforderer im Ring, der einer „politischen Revolution gegen das Establishment“ und einer Kampfansage an die „Klasse der Milliardäre“ deutlich radikalere politische Qualitäten vorweisen kann als alle anderen Kandidaten.

Der ökonomische Crash von 2008 verwandelte den American Dream in einen American Nightmare. Nicht nur die US-amerikanische ArbeiterInnenklasse, sondern vor allem die amerikanische und europäische Linke verfolgen deswegen gespannt den Werdegang von Bernie Sanders. Der von 1991 bis 2007 als unabhängiger Kandidat im Repräsentantenhaus sitzende Unterstützer der Democratic Party ist seit 2007 Senator des kleinen Bundesstaates Vermont, in dem er mit seinem Programm beim Super Tuesday vom 1. März 2016 einen überragenden 86-Prozent-Wahlsieg mit einfahren konnte. Noch niemals in der Geschichte der USA konnte ein sich selbst als Sozialist bezeichnender Kandidat derartige Wahlergebnisse auf bundesstaatlicher Ebene einfahren.

Manche Linken mögen sagen, dass der Ruf nach einer „politischen Revolution“ von Bernie Sanders eine relativ oberflächliche und nichtssagender Slogan sei. Das mag sogar stimmen – für die Strategen des US-Kapitals ist diese Losung allerdings mehr als eindeutig. Würde er tatsächlich zum Präsidenten der USA gewählt werden, wäre er mit einem ihm feindlich gesinnten Kongress konfrontiert, in dem die Demokraten alles versuchen würden, um Bernie Sanders zurück auf die eingefahrenen politischen Bahnen der Democratic Party zu lenken. Eine erhöhte Aufmerksamkeit, wenn nicht sogar Alarmbereitschaft macht sich in der herrschenden Klasse und der Democratic Party breit. Die nicht näher definierten Slogans von Bernie Sanders bieten immerhin einen enormen Spielraum für eine klassenbewusste Polarisierung in der Gesellschaft, was keineswegs im Interesse der herrschenden Klasse liegt.

Damit einhergehend wächst auch das Interesse an sozialistischen Ideen in den USA. In einer Umfrage von YouGov wurde die Bevölkerung gefragt, ob sie wohlwollend oder ablehnend gegenüber den Ideen des Kapitalismus oder des Sozialismus stehen. Während noch immer 52 Prozent der Befragten sich für eine auf Konkurrenz basierende Wirtschaft aussprechen, favorisieren inzwischen 29 Prozent ein sozialistisches System. Dabei halten Republikaner, Familien mit einem Jahreseinkommen von über 100.000 Dollar und Personen im Alter von über 65 Jahren deutlich stärker am Kapitalismus fest als andere Teile der Gesellschaft. Anhänger der Demokraten bewerteten den Kapitalismus und Sozialismus mit jeweils 42% Zustimmung gleichermaßen zustimmend. Bei den unter 30-Jährigen fallen die Sympathien schon deutlicher aus: 43% wollen ein sozialistisches System, während 32% am Kapitalismus festhalten.

Eine radikalisierte Jugend

Viele Jahre lang zeigte ein Großteil der US-amerikanischen Jugend kein sonderliches Interesse an der Politik ihres Landes. Das ist nicht verwunderlich, denn immerhin bestand die US-amerikanische Politik seit Jahrzehnten daraus, dass Demokraten und Republikaner gegenseitig Ämter und Mandate austauschten, ohne dass wirkliche Unterschiede in der Innen- oder Außenpolitik wahrnehmbar waren. Warum also sollte die Jugend Interesse für etwas zeigen, was seit Jahrzehnten ein routinierter Standard ist?

Dieser Status Quo hat sich mit dem Aufstieg von Bernie Sanders schlagartig verändert. Der absolute Großteil der Jugend misstraut der etablierten Politik und dem bürgerlichen Block aus Republikanern und Demokraten. Dafür gibt es viele Gründe. Niedrige Löhne und Jugendarbeitslosigkeit von über 40% in bevölkerungsreichen Bundesstaaten wie Nevada, Illinois, Mississippi, Kalifornien und North Carolina sowie in über 25 weiteren Bundesstaaten, in denen die Jugendarbeitslosigkeit bei über 30% liegt, haben inzwischen eine massive Frustration und Demoralisierung hervorgerufen.

Zum Vergleich lag die Jugendarbeitslosigkeit im Jahr 2008, als die bis heute anhaltende schwerste Krise des Kapitalismus seit über 200 Jahren noch in den Kinderschuhen steckte, lediglich in drei Bundesstaaten bei über 30%. Seitdem ist die Jugendarbeitslosigkeit um über 50% gestiegen, von geschätzten 23,8% (2008) auf 34,6% (2012), Tendenz bis heute steigend. Dies ist eine direkte Folge der weltweiten Überproduktion. Die produzierten Waren können am übersättigten Markt nicht mehr abgesetzt werden. Insbesondere die USA, deren Wirtschaft zu über 80% aus Dienstleistungen und Handel und nur noch zu einem geringen Teil aus produzierender Industrie besteht, sind somit unweigerlich der Krise ausgesetzt.

Die Unfähigkeit und -willigkeit der bürgerlichen Ökonomie und etablierten Politik, also der Republikaner und Demokraten, einen Ausweg aus der Krise ohne Verluste im Lebensstandard für die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung zu formulieren, entlädt sich vor allem beim jüngsten Teil der Gesellschaft. Warum auch sollten sie massive Verarmung und Perspektivlosigkeit akzeptieren, wenn sie selbst keinerlei Schuld an der wirtschaftlichen Entwicklung der USA haben?

Es ist nicht verwunderlich, dass über 69% der unter 30jährigen US-AmerikanerInnen die Kandidatur von Bernie Sanders für das einflussreichste politische Amt der Welt euphorisch unterstützen. Mit seinen Forderungen wie kostenlosem Zugang zu Colleges, einem Mindestlohn von 15 Dollar (umgerechnet ca. 13,80 Euro, Stand 02.03.2016, Anm. d. Autors), Grundrecht auf medizinische Versorgung unabhängig vom Einkommen usw. positioniert er sich auf der Seite der ArbeiterInnenklasse, beziehungsweise er agiert gegen den ungehemmten Einfluss des Privatkapitals. Hier wird der fundamentale Widerspruch zwischen ihm und Hillary Clinton deutlich.

Während Clinton in das Jahr 2016 mit einem Kampfbudget von über 100 Millionen US-Dollar von privaten Konzernen startete, konnte Bernie Sanders durch Spenden aus der Bevölkerung auf 3,5 Millionen US-Dollar zurückgreifen. Ende Januar 2016 stieg das Budget von Bernie Sanders allerdings schon auf über 20 Millionen US-Dollar – im Durchschnitt 27 Dollar pro Spende. Clinton beteuert zwar inständig, dass die Spenden der Banken und Konzerne für ihren Wahlkampf keinerlei Einfluss auf ihre politischen Präferenzen hätten – allerdings würden die Banken und Konzerne nicht solche Summen aufbringen, wenn die Politik von Hillary Clinton nicht in ihrem Interesse wäre. Sie personifiziert eindeutig das Establishment der USA, während Bernie Sanders auch durch sein unbekümmertes äußeres Auftreten als authentischer Vertreter der ArbeiterInnenklasse wahrgenommen wird.

Das spießige Auftreten seiner KonkurrentInnen und ihr ewiger Populismus um Nation und Familie bewirken enorme Sympathien für Bernie Sanders. Bei den Vorwahlen im Bundesstaat New Hampshire wählten über 85% der 18- bis 29-Jährigen und insgesamt 55% der Frauen den demokratischen Sozialisten.

Die Democratic Party & die Gewerkschaften

Von insgesamt 240 Millionen US-AmerikanerInnen sind etwa 14 Millionen in Gewerkschaftsverbänden organisiert. Die Bürokratien der Gewerkschaften pflegen zwar enge Verbindungen zu den Spitzen der Democratic Party, allerdings basiert die Democratic Party keineswegs auf den Gewerkschaften oder der ArbeiterInnenklasse. Anders als die europäischen Sozialdemokratien, die zwar bürgerliche Politik betreiben, aber historisch aus der ArbeiterInnenklasse entstanden sind und bis heute noch eine relative soziale und organische Verbindung zur ArbeiterInnenbewegung besitzen, trifft dies nicht auf die Democratic Party zu, welche von Anfang an ihre Wurzeln im US-amerikanischen Bürgertum hatte. Zwecks Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse werden Gewerkschaftsfunktionäre systematisch von den Demokraten „gekauft“.

Viele große Gewerkschaftsverbände wie der SEIU, die AFSCME und der UFCW fordern schon seit einigen Jahren einen flächendeckenden Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde und die Besteuerung von hohen Einkommen. Bernie Sanders und viele linke KommunalpolitikerInnen übernehmen im Grunde genommen lediglich die Forderungen der Gewerkschaften. Dies war auch 2014 in Seattle der Fall, als eine linke Stadtratsabgeordnete jene Forderung der Gewerkschaften auf ihre Agenda setzte. Hinterher wurde aber der Beschluss leider durch Kompromisse mit den Bürgerlichen im Stadtrat und mit dem Bürgermeister zu Lasten der ArbeiterInnenklasse abgeschliffen. Die nationale und internationale Presse berichtete über den durchgesetzten Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde in Seattle, der nur schrittweise in einem Zeitraum von über sieben Jahren eingeführt wird und sogar Teile der ArbeiterInnenklasse vom Mindestlohn ausnimmt.

Der wesentliche Unterschied zwischen Bernie Sanders und diesen kommunalpolitischen Linken ist nicht nur seine überregionale Popularität, sondern die beachtliche Tatsache, dass Bernie Sanders hingegen öffentlich vom Sozialismus spricht. Das verdeutlicht, dass, auch wenn die USA die Hochkultur des bürgerlichen Antikommunismus sind, SozialistInnen ihre Gesinnung und Ziele nicht verheimlichen und sich auf populäre Positionen zu beschränken sollten. An der Gewerkschaftsbasis kommt er damit gut an. Während die überregionalen höherenGewerkschaftsfunktionäre natürlich überwiegend Hillary Clinton unterstützen, erhält Bernie Sanders vor allem Unterstützung von regionalen Gewerkschaftsführungen und lokalen AktivistInnen.

Entgegen der britischen Labour Party kann die Democratic Party niemals reformiert werden, weil ihr politischer Kern und ihre soziale Basis aus dem Bürgertum und nicht der ArbeiterInnenklasse besteht. Es gibt einen objektiven Unterschied zwischen einer degenerierten ArbeiterInnenpartei mit bürgerlicher Führung und einer von Grund auf bürgerlichen Partei. Darum müssen die Gewerkschaften mit der Democratic Party brechen und sich für den Aufbau einer Massenpartei der ArbeiterInnenklasse einsetzen. Die Apparate müssen von korrupten Bürokraten gesäubert werden. Die Gewerkschaften brauchen neue demokratisch gewählte Funktionäre, die uneingeschränkt für die Interessen der ArbeiterInnenklasse arbeiten anstelle für die Democratic Party und die jederzeit rechenschaftspflichtig gegenüber der Mitgliedschaft sind.

Das Verhalten der herrschenden Klasse

Ist Bernie Sanders das rote Schreckgespenst, dass das Bürgertum erzittern lässt? Genauer genommen haben die bürgerlichen Parteien und Kapitalisten weniger Angst vor Bernie Sanders selbst, als vielmehr vor der politischen Wut, die sein Auftreten bei Millionen US-AmerikanerInnen geweckt hat. Bernie Sanders ist somit lediglich ein subjektiver Faktor, der einer seit Jahren zuspitzenden gesellschaftlichen Tendenz einen politischen Ausdruck verleiht. Die bürgerlichen Medien in Europa reagieren indessen relativ gelassen auf die Erfolge von Bernie Sanders. So schreibt die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) in der Wochenendausgabe vom 26./27. Februar 2016 auf Seite 22, Zitat:

„Bernie Sanders' politisches Programm verspricht ein mittelschweres Wirtschaftswunder für die Vereinigten Staaten. Seine Gegner nahmen das lange nicht weiter ernst, bis sie feststellten, dass Sanders' Versprechen große Anziehungskraft haben. Gerade die Millennials [Menschen geboren zwischen 1980 und 1999, Anm. d. Autors] stören sich nicht an Sanders' demokratischen Sozialismus. Und die umsorgenden skandinavischen Sozialstaaten, die der Mann aus Vermont unablässig propagiert, finden sie prima.“ [1]

Interessanterweise werden drei von vier skandinavischen Staaten mittlerweile von Mitte-Rechts-Regierungen geführt, in denen regelmäßige Angriffe auf den Lebensstandard der Bevölkerung zum Alltag gehören. Auch die liberale Süddeutsche Zeitung verlautbart vergleichsweise milde Töne über Bernie Sanders, denn „Viele seiner Forderungen könnten im Programm jeder sozialdemokratischen Partei in Europa stehen. […] Was Sanders nur eben nicht liefert, ist ein glaubwürdiges Konzept der Finanzierung.“ [2]

So richtig die Feststellung eines erhöhten Klassenbewusstseins und einer wirklich großartigen neuen Kampfbereitschaft der US-amerikanischen ArbeiterInnenklasse ist, so unwahr ist die Behauptung, dass die herrschende Klasse angeblich in völliger Panik versinke. Neuartig sind nicht die politischen Losungen von Bernie Sanders, welche auch von VertreterInnen der kleinen „Sozialistischen Partei der USA“ (SPUSA) in einigen Stadtparlamenten und Bürgermeisterämtern propagiert werden, sondern vielmehr die plötzliche Popularität dieser Losungen auf nationaler Ebene. Die Gefahr besteht für die herrschende Klasse letztlich jedoch nicht unmittelbar darin, dass sich diese politischen Positionen einfach national weiter ausbreiten, sondern dass sich diese Positionen durch die Wut in der Bevölkerung ausbreiten und radikalisieren.

Bernie Sanders greift zurecht die Macht der Wall Street und der Großkonzerne an und fordert eine Umverteilung des Vermögens von oben nach unten. Er lässt allerdings die aus sozialistischer Sicht zentrale Eigentumsfrage offen und verlangt auch nicht eine Vergesellschaftung der Großbanken, sondern lediglich eine Entflechtung. Das läuft im Grunde darauf hinaus, die Uhr der Monopolisierung im Kapitalismus um Jahrzehnte zurückzudrehen. Zweifellos sind Steuern auf große Kapitalanlagen ein richtiger Angriff auf die Privilegien der herrschenden Klasse. Das Repertoire der US-amerikanischen Politik und Wirtschaft könnte diese Kapitalsteuern allerdings auch als Zugeständnisse an die ArbeiterInnenklasse verkraften. So beginnen bereits bürgerliche Senatoren, die den Kapitalismus vollumfänglich verteidigen, mit öffentlichen Aufrufen zur Unterstützung von Bernie Sanders. Damit sollen die Massen besänftigt und eine Radikalisierung verhindert werden, zum anderen soll das Image und die Unterstützung für die Demokraten aufrechterhalten werden. Am 28. Februar 2016 veröffentlichte Senatorin Tulsi Gabbard von den Demokraten in einer Videobotschaft auf YouTube ihre Unterstützung für Bernie Sanders.

Die direkte Unterstützung für Bernie Sanders seitens der Bürgerlichen bedeutet ebenso, dass das US-amerikanische Establishment die Möglichkeit sieht, seine politischen Forderungen im Senat und Repräsentantenhaus entweder zu blockieren, sie aufzuweichen oder notfalls sich mit diesem Programm auch zu arrangieren, falls der gesellschaftliche Druck steigen und zu hoch würde. Angesichts der Kräfteverhältnisse in den beiden Kammern des Kongresses der Vereinigten Staaten würde ein Präsident Bernie Sanders mit hoher Wahrscheinlichkeit einfach gänzlich blockiert werden. Unter dem massiven Druck der Partei der Demokraten kann eine langsame Abkehr von seinen eigenen Wahlversprechen leider ebenfalls nicht ausgeschlossen werden.

Nicht nur in den USA sind bereits vielversprechende Persönlichkeiten und Positionen durch den bürgerlichen, staatlichen Druck unweigerlich zerbrochen, sondern auch in Europa. Dies erlebten wir im vergangenen Jahr in Griechenland mit der SYRIZA-Führung um Alexis Tsipras. Dies veranschaulicht die Begrenztheit des Reformismus und die Notwendigkeit, mit dem bürgerlichen Staat zu brechen und die Macht- und Eigentumsfrage in allen Bereichen der Gesellschaft zu stellen, wenn eine sozialistische Demokratie nicht nur ein idealistisches Fernziel bleiben soll. Hierfür ist letztlich der Aufbau einer sozialistischen Massenpartei zur Organisierung der ArbeiterInnenklasse in den USA notwendig, denn die beiden bürgerlichen Parteien Demokraten und Republikaner verteidigen den bürgerlichen Staat und seine Ausbeutungsordnung mit allen Mitteln. Aber eine sozialistische Massenpartei gibt es in den USA nicht – und solange es sie nicht gibt, hat die herrschende Klasse auch keinen Grund zur Panik.

Verwirrung in der Linken

Wenn wir über Bernie Sanders diskutieren, dann diskutieren wir letztlich um die Administration des mächtigsten politischen Amtes der Welt. Ein Fehler in der politischen Bewertung dieses Phänomens, eine falsche Orientierung im aktuellen Klassenkampf oder eine zu idealistische Einschätzung der Kandidaten können fatale Folgen nicht nur für die sozialistischen Kräfte, sondern für Millionen Menschen der US-amerikanischen und internationalen ArbeiterInnenklasse bedeuten. In der amerikanischen und europäischen Linken wird daher breit diskutiert, welche Haltung gegenüber dem Phänomen Bernie Sanders eingenommen werden sollte. Konkret stellt sich die Frage, ob revolutionäre Sozialisten in der aktuellen Situation einen reformistischen Kandidaten auf der Liste der Democratic Party unterstützen sollten.

Bernie Sanders hat den Sozialismus in den USA wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Das verdient besondere Anerkennung, denn zuvor wurden sämtliche Forderungen nach Ausbau des Sozialstaats als immanente Angriffe auf die hoch gepriesene Freiheit des Individuums gebrandmarkt. Die Ausgangsposition für sozialistische Theorie und Praxis in den USA wurde damit um ein vielfaches verbessert. In den Geschichtsbüchern wird Bernie Sanders zweifellos ein entscheidender Einfluss auf die Popularität sozialistischer Ideen in den Staaten zuteil kommen. Der Handlungsspielraum für revolutionär-sozialistische Ideen, die weit über den „demokratischen Sozialismus skandinavischer Prägung“ von Bernie Sanders hinausgehen, hängt auch mit dem durch ihn vorgenommenen Tabubruch in den USA zusammen.

Eine direkte, uneingeschränkte und bedingungslose Unterstützung für Bernie Sanders birgt jedoch Risiken. Neben vielen progressiven Positionen hat Bernie Sanders auch rückschrittliche Ansichten. Anders als der neue linke Labour-Leader Jeremy Corbyn in Groß Britannien hat der Senator aus Vermont keine Arbeitermassenpartei im Rücken, sondern hält an der bürgerlichen Democratic Party fest. Eine Unterstützung für Bernie Sanders bedeutet also unweigerlich eine Unterstützung für die Democratic Party, welche er für reformierbar hält. Während Jeremy Corbyn eine strikt antimilitaristische Haltung einnimmt und teilweise Verstaatlichungen von Konzernen fordert, möchte Bernie Sanders lediglich die Besteuerung von großen Kapitalanlagen. In der Frage von imperialistischen Kriegen nimmt Bernie Sanders sogar eine ambivalente Haltung ein. So schreibt er auf seiner offiziellen Website zur Frage von Krieg und Frieden, Zitat:

„As President and Commander-in-Chief, I will defend this nation, its people, and America’s vital strategic interests, but I will do it responsibly. America must defend freedom at home and abroad, but we must seek diplomatic solutions before resorting to military action. While force must always be an option, war must be a last resort, not the first option. […] I supported the use of force to stop the ethnic cleansing in the Balkans. And, in the wake of the attacks on September 11, 2001, I supported the use of force in Afghanistan to hunt down the terrorists who attacked us.“ [3]

In deutscher Sprache: "Als Präsident und Oberbefehlshaber verteidige ich diese Nation, ihr Volk und Amerikas strategische Interessen, aber auf verantwortungsbewusste Weise. Amerika muss seine Freiheit zuhause und im Ausland verteidigen, aber wir müssen diplomatische Lösungen in Betracht ziehen, bevor wir auf militärische Aktionen zurückgreifen. Während Gewalt immer eine Option bleiben muss, so ist es immer die letzte anstelle der ersten Option. [...] Ich unterstützte den Militäreinsatz im Balkan, um die ethnischen Säuberungen zu stoppen. Und in Folge der Anschläge vom 11. September 2001 unterstützte ich die Militäreinsätze in Afghanistan, um die Terroristen zu jagen, die uns angriffen."

Die imperialistischen Interventionen in Ex-Jugoslawien waren die ersten Kriegshandlungen der Neuzeit, die mit der „Verteidigung der Menschenrechte“ gerechtfertigt wurden. Als Bomben über Belgrad von Flugzeugen der NATO abgeworfen wurden, kamen hunderte ZivilistInnen ums Leben. Der imperialistischen Einmischung fielen tausende ZivilistInnen zu Opfer. Die Bevölkerung der Balkanstaaten leidet bis heute unter den wirtschaftlichen, politischen und sozialen Folgen des Krieges. In Afghanistan ist die Zerstörung von Infrastruktur und Versorgung so groß, dass das Land in manchen Regionen de facto in die Steinzeit zurück gebombt wurde. Der Einfluss islamistischer Terrororganisationen ist durch die Verzweiflung der Bevölkerung seit jeher massiv angestiegen.

Bernie Sanders stellt fest, dass die USA zwar „nicht länger die Weltpolizei sein dürfen“, gleichzeitig rechtfertigt er jedoch Interventionskriege, bei denen militärische Eingriffe seiner Meinung nach unabwendbar wären. Heutzutage werden fast ausnahmslos alle Interventionen unter dem Deckmantel der Verteidigung der Menschenrechte durchgeführt. Nach welchen Kriterien urteilt Bernie Sanders also, wenn es um die Frage nach Kriegseinsätzen geht? Wir können diese Frage nicht beantworten. Es lässt sich aber festhalten, dass weitere imperialistische Kriege für Bernie Sanders leider kein Tabu darstellen. Die Aufrechterhaltung der NATO ist eines seiner zentralen Anliegen, um den „gemeinsamen Kampf gegen den Terror mit Amerikas Alliierten“ fortzusetzen. Das gilt insbesondere für den Krieg gegen Al Quaida und den IS in Syrien und Irak.

Hillary Clinton wird tatsächlich von der in einer stalinistischen Tradition stehenden Communist Party USA (CPUSA) unterstützt, welche bereits 2012 für eine Wiederwahl von Barack Obama eintrat. Die wenige hundert Mitglieder zählende Partei führt die absurde Begründung an, dass bei einem „nüchternen Blick auf die Präsidentschaftswahlen“ erkennbar wäre, dass der ärmste Teil der Bevölkerung Hillary Clinton anstelle von Bernie Sanders unterstützen würde. [4] Ob diese Vorgehensweise lediglich eine Fortsetzung der stalinistischen Volksfront-Strategie bedeutet, oder aber auf schlecht recherchierte Gesellschafts- und Wahlanalysen zurück zu führen ist, wird das Geheimnis der CPUSA bleiben. In jedem Falle ist eine Unterstützung für eine offene Vertreterin des Kapitalismus und der Kriegsführung der politische Selbstmord für diese ohnehin kaum überlebensfähige Partei. Eine nähere Erläuterung über die Unsinnigkeit dieser Position ist unnötig.

In einer direkten Unterstützung für Bernie Sanders sind sich hingegen die reformistischen Linken, Senatorin Tulsi Gabbard und die Sozialistische Alternative (SAV) einig. Deren US-amerikanische Schwesterorganisation, welche auch die oben erwähnte Stadtratsabgeordnete in Seattle stellt, hat im Dezember 2015 mit „Movement4Bernie“ eine eigene Kampagne für Bernie Sanders ins Leben gerufen. [5] Bernie Sanders besitzt zwar längst seine eigene Kampagne, die von Millionen US-AmerikanerInnen getragen wird, doch das „Movement4Bernie“ kann bislang ganze 315 Follower (Stand: 16.03.2016) auf Twitter vorweisen kann. In der Erklärung heißt es unter anderem:

„The Democratic Party establishment and corporate media are working overtime to defeat Bernie Sanders and his democratic socialist program. This political revolution means far more than just showing up to vote. We need to build a mass #Movement4Bernie in our communities, schools, and workplaces to win this election and defeat the billionaire class. Sign up below to get involved.“ [6]

In deutscher Sprache: „Das Establishment der Demokratischen Partei und die Konzernmedien arbeiten Tag und Nacht um Bernie Sanders und sein demokratisches sozialistisches Programm zu besiegen. Diese politische Revolution bedeutet weit mehr als die Abgabe von Wahlstimmen. Wir müssen eine Massenbewegung für Bernie in unseren Gemeinden, Schulen und Arbeitsplätzen aufbauen, um diese Wahlen zu gewinnen und die Milliardärs-Klasse zu besiegen. Trage dich unten ein und werde aktiv.“

Die Verlautbarung, dass mit einer erfolgreichen Wahl von Bernie Sanders zum Präsidenten der Vereinigten Staaten die Großbourgeoisie besiegt werden könnte, verkennt nicht nur die gesamte Realität der korrupten US-amerikanischen Staatsbürokratie. Sie verkennt auch die Begrenztheit des reformistischen Programms von Bernie Sanders und trägt zudem die gefährliche Vorstellung in die ArbeiterInnenklasse hinein, dass sein Programm tatsächlich den US-amerikanischen Kapitalismus einen schweren Schlag versetzen würde. Wir haben weiter oben bereits analysiert, warum dies nicht der Fall sein wird. Die Enttäuschung der ArbeiterInnenklasse wird unendlich hoch sein, wenn sie nicht über das begrenzte Programm und die Möglichkeiten der Person Bernie Sanders hinauswächst.

Andere Strömung wie das Netzwerk Marx21 in der Partei DIE LINKE haben in Verbindung mit einem Artikel zum Super Tuesday eine nähere Positionierung zum Phänomen Sanders offen gelassen. Auf eine Nachfrage in einem entsprechenden Posting auf Facebook antwortete die Administration des offiziellen Accounts von Marx21: „Die aufgeworfene Frage, wie es Sozialistinnen und Sozialisten in den USA gelingen kann, ein konstruktives Verhältnis zu Sanders Kampagne aufzubauen, ohne ihre Unabhängigkeit aufzugeben, bleibt in dem Artikel unbeantwortet. Wir sehen es aber auch nicht als unsere primäre Aufgabe der US-Linken eine fertige Strategie zu empfehlen, sondern eine Analyse der Situation in den USA für unser deutschsprachiges Publikum zu liefern.“ und weiter: „Wir brauchen keine Sektion in den USA.“, antwortete ein mutmaßliches Mitglied auf die Frage, ob das Netzwerk einen Ableger in den USA habe, nachdem die Administration des Accounts dies verneinte. [7]

Der Grund für absolute Neutralität oder aber direkte Unterstützung für Bernie Sanders liegt auf der Hand. Die US-amerikanische ArbeiterInnenklasse spricht zum ersten Mal seit der Kommunistenverfolgung in den 1950er Jahren offen über den Sozialismus und unterstützt mit Bernie Sanders einen seiner erklärten Vertreter. Die Hoffnungen in Bernie Sanders sind unendlich groß. Umso schwerwiegender wäre die Frustration und Demoralisierung für ArbeiterInnenbewegung, wenn das reformistische Programm von Bernie Sanders an die Grenzen der Realität des bürgerlichen Staates stieße. Sollte Sanders letztlich Hillary Clinton bei der Nominierung für die Präsidentschaftskandidatur unterliegen und danach loyal zu Hillary Clinton stehen, so könnte dies bereits negative Auswirkungen auf die Psychologie der ArbeiterInnenklasse haben. Die einen verpassen durch politische Passivität die Chancen, die zum Greifen nahe sind. Die anderen hingegen reißen gleich den ganzen Arm ab.

Welche Herangehensweise für Marxisten?

Die Situation ist also kompliziert. Einerseits könnte eine Wahlniederlage von Bernie Sanders eine enorme Demoralisierung hervorrufen, aber auch ein Wahlerfolg von Bernie Sanders könnte die Erwartungen der ArbeiterInnenklasse aufgrund der Begrenztheit des Reformismus aller Voraussicht nach nicht erfüllen. Die politische Linke darf weder passiv und abseits der Massenbewegung für Bernie Sanders stehen, noch darf sie durch einen Blankoschkeck und direkte unkritische Unterstützung für Sanders Illusionen schüren. Abgesehen davon ist es ebenso eine politische Frage, ob Marxisten einen (wenn auch milden) Befürworter von imperialen Militäreinsätzen unterstützen sollten – vor allem dann, wenn er Oberbefehlshaber der stärksten Militärmacht der Welt würde.

Es widerspräche aber ebenso den politischen Prinzipien des revolutionären Marxismus, Bernie Sanders wegen seines reformistischen Programms innerhalb der ArbeiterInnenklasse zu verunglimpfen. Damit würden wir die ArbeiterInnenklasse selbst demoralisieren, denn alle ihre Hoffnungen setzen ihre aktivsten Schichten derzeit auf den Senator aus Vermont. Seine Forderungen wie die nach flächendeckendem Mindestlohn von 15 Euro, staatlicher Krankenversicherung, gebührenfreier Bildung müssen begrüßt und gegen jede Kritik von rechts verteidigt werden. Wir müssen aber mit entsprechender Sensibilität erklären können, warum das Programm von Bernie Sanders leider nur ein Tropfen auf den heißen Stein des Kapitalismus ist. Insbesondere müssen wir aber erklären, dass sich die Klasse der Milliardäre letztlich nicht vor der Person Bernie Sanders fürchtet, sondern vor einer massenhaften und radikalen Jugend- und ArbeiterInnenbewegung. Sie fürchtet sich vor Millionen Menschen, die sich ihrer Macht bewusst werden, sich organisieren und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.

Die aktuelle Massenbewegung in den USA bietet in Verbindung mit Bernie Sanders' Losungen nach einem „demokratischen Sozialismus“ die Grundvoraussetzung zum Aufbau einer sozialistischen Massenpartei der Arbeiterklasse. Eine Bewegung kann aber nur ein Mittel zum Zweck, nicht aber das Ziel sein, denn auch sehr revolutionäre Bewegungen können ohne ihre konsequente Festigung und Organisierung schnell desorientiert und von der herrschenden Klasse in konterrevolutionäre Bahnen gelenkt werden. Das ist nicht nur die Lehre aus dem Arabischen Frühling von 2011, der in einer schrecklichen Niederlage endete, sondern die Lehre aus allen revolutionären Bewegungen der letzten 150 Jahre. Das Ziel muss eine revolutionäre Partei der ArbeiterInnenklasse sein und nicht nur eine Kampagne für eine radikale Bewegung.

Marxisten stehen auf dem Boden der internationalen Jugend- und ArbeiterInnenbewegung. Unser Augenmerk liegt nicht auf den Institutionen des bürgerlichen Staates oder gar seiner Verwaltung. Es gilt das Klassenbewusstsein und die Kampfmoral der Jugend- und ArbeiterInnen zu fördern und an allen sozialen Kämpfen teilzunehmen. Wenn der Parlamentarismus nur die Bühne des Klassenkampfes darstellt und Sozialisten nicht dazu da sind, in die Regierung den bürgerlichen Staat und das kapitalistische Profitsystem besser zu verwalten, dann sollten wir auch erklären, warum ein vitaler Oppositionskurs für die Moral der ArbeiterInnenklasse besser sein kann als eine Rallye auf das Präsidentenamt.

Die Workers International League, unsere Schwesterorganisation und Sektion der International Marxist Tendency (IMT) in den USA, kämpft in den aktuellen Massenbewegungen solidarisch an der Seite der Jugend und ArbeiterInnenklasse, verteidigt ihre Interessen und wirbt für den Aufbau einer sozialistischen ArbeiterInnenmassenpartei in den USA. Bernie Sanders muss zum Bruch mit den Demokraten bewogen werden. Dies könnte dann der Beginn einer Massenpartei der ArbeiterInnenklasse mit Millionen Mitgliedern sein. Aus diesem Grund kämpfen wir …

• gegen die Demokraten und Republikaner!
• gegen Rassismus, Sexismus und Homophobie!
• gegen imperialistische Kriege und den Kapitalismus!
• für einen kompromisslosen Kampf der Jugend und ArbeiterInnenklasse für ihre Interessen!
• für demokratische Gewerkschaften unter Kontrolle der Basis!
• für eine ArbeiterInnenmassenpartei in den USA!
• für die Entmachtung der KapitalistInnen statt nur ihrer Besteuerung!
• für eine demokratische Planwirtschaft unter ArbeiterInnenkontrolle!
• für die Sozialistischen Staaten von Amerika und weltweit!

Verweise:
[1] Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 27.02.2016: „Sanders und das Wirtschaftswunder“, Wirtschaft, Seite 22
[2] Süddeutsche Zeitung vom 27./28. Februar 2016: „Rechts, links, egal“, Wirtschaft, Seite 23)
[3] https://berniesanders.com/issues/war-and-peace/
[4] http://www.cpusa.org/taking-a-sober-look-at-the-2016-election/
[5] https://twitter.com/movement4bernie
[6] http://www.movement4bernie.org/splash?next=%2F
[7] https://www.facebook.com/marx21.de/posts/10154631244576562

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