Kategorie: Amerika

Der revolutionäre Prozess in Venezuela

Venezuela war selbst für politisch sehr interessierte Menschen bis vor kurzem ein schwarzer Fleck auf dem Globus. Mittlerweile zählt Venezuelas Präsident Hugo Chávez aber zu den großen Hoffnungsträgern der Linken. Welchen Charakter hat dieser revolutionäre Prozess? Wofür stehen Chávez und die bolivarische Bewegung? Wie stehen MarxistInnen zu den Prozessen in Venezuela?


Als Hugo Chávez Frías 1998 die Präsidentenwahl gewann, war sein Programm alles andere als radikal. Venezuela sollte modernisiert und aus dem alles beherrschenden Abhängigkeitsverhältnis gegenüber dem Imperialismus geführt werden. Das Ziel der nach dem südamerikanischen Unabhängigkeitskämpfer Simon Bolivar (1783-1830) genannten „bolivarischen Revolution“ unter der Führung von Hugo Chávez war nichts anderes als ein Kapitalismus mit menschlichem Antlitz.

Im Dezember 2001 begann die Regierung mit der Durchsetzung der geplanten Reformen: eine Landreform, Maßnahmen zur Armutsbekämpfung, Alphabetisierungsprogramme, ein Gesetz über die Legalisierung von Hausbauten in den Slums,… Es gab erste konkrete Maßnahmen in Richtung Landverteilung. 92.000 neue Wohnungen wurden gebaut. Die Bildungsausgaben wurden verdoppelt, das Zahlen von Schulgeld wurde verboten.

Doch selbst dieses eher bescheidene Reformprojekt war aus der Sicht der alten politischen Elite, der herrschenden Oligarchie, die über den Großgrundbesitz und die wichtigsten Kapitalgruppen verfügt, und des (US-)Imperialismus eine einzige Provokation.

Chávez und die „Bolivarische Revolution“ standen nun vor einem ernsten Problem. Chávez hatte die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse nicht einmal angetastet, und trotzdem sahen diejenigen, die an den Schalthebeln der venezolanischen Wirtschaft sitzen, in ihm eine Gefahr. Schon die kleinsten Reformschritte seiner demokratisch gewählten Regierung lösten in den Reihen der Oligarchie und auf Seiten des Imperialismus erbitterten Widerstand aus. Die geballten Kräfte der venezolanischen Großgrundbesitzer, Kapitalisten und des US-Imperialismus rüsteten folglich gegen die „Gefahr“ Chávez.

Der Putsch im April 2002

In der Folge kam es zu einem engen Bündnis zwischen dem Unternehmerverband, den ultrakonservativen Spitzen der katholischen Kirche und der extrem korrupten Führung des unternehmerfreundlichen Gewerkschaftsverbandes CTV. Ihr gemeinsames Ziel: Chávez stürzen. Die Allianz bekam noch dazu die Rückendeckung der USA.

Im Zuge einer medialen Verleumdungskampagne wurde Chávez jede demokratische Legitimität abgesprochen. In den bürgerlichen Medien wird Chávez seither als gefährlicher Diktator, Venezuela als ein im Chaos versinkendes Land dargestellt.

Im April 2002 sah sich die bürgerliche Opposition stark genug um loszuschlagen. Ausgehend von den Villenvierteln der Hauptstadt Caracas startete ein Demonstrationszug Richtung Präsidentenpalast. Oppositionelle Truppen stürmten den Präsidentenpalast und nahmen Chávez gefangen. Ein Putsch brachte den Vorsitzenden des Unternehmerverbandes an die Macht. Die alte Ordnung schien wieder hergestellt.

Doch die Opposition hatte nicht mit der Kraft der venezolanischen Massen gerechnet. Trotz einer massiven Medienkampagne und starker Repression gingen am Tag nach dem Putsch Millionen Menschen aus den Armenvierteln spontan auf die Straße und forderten die Rückkehr von Chávez ins Präsidentenamt. Selbst innerhalb der Armee gab es eine Reihe von Einheiten, die Chávez loyal unterstützten. Noch am Abend desselben Tages wurde die Junta gestürzt und Chávez befreit.

Der Putsch hatte die Massen aufgerüttelt und zu politischem Leben erweckt. Millionen sehen in Chávez und seiner bolivarischen Bewegung erstmals eine Zukunftsperspektive. Mit Chávez verbinden sie die Hoffnung auf ein besseres Leben. Ihm hatten sie bei den Wahlen das Vertrauen ausgesprochen, damit er es besser mache als Regierungen zuvor, die nur auf das Diktat des IWF und die Wünsche der Konzernzentralen hörten. Wäre der Putsch erfolgreich gewesen, wäre der gesamte Prozess, auf den sie gesetzt hatten, zu Ende gewesen. Zur Verteidigung ihrer Zukunft waren sie auch bereit, politisch aktiv zu werden und sich in Komitees und Basisorganisationen zusammenzuschließen.

Lenin definierte eine revolutionäre Situation einmal als einen Zustand, indem die herrschende Klasse nicht mehr so weiter herrschen kann wie sie will, und die Beherrschten sich nicht länger beherrschen lassen wie bisher. Der fehlgeschlagene Putsch im April 2002 hat deutlich gemacht, dass sich Venezuela in genau so einem Zustand befindet. Der Wahlsieg von Chávez im Jahr 1998, der selbst nur als Resultat des wachsenden Unmuts mit der imperialistischen Offensive zu verstehen ist, hatte einen revolutionären Prozess ausgelöst.

Immer und immer wieder

Nachdem Chávez wieder im Amt war, signalisierte er den Putschisten Verhandlungsbereitschaft und ging so gut wie gar nicht gegen sie vor. Ein schwerer Fehler, wie sich noch herausstellen sollte. Denn die Putschisten denken nicht ans Aufgeben.

Seither versucht die bürgerliche Opposition, wenn auch mit geänderten Methoden, immer wieder ihr Ziel, den Sturz von Hugo Chávez, zu erreichen. Einmal setzt sie auf Sabotageaktionen, die als „Generalstreik“ dargestellt werden und mit denen zentrale Bereiche der Wirtschaft, vor allem der Erdölsektor, lahm gelegt werden sollen. Dann wieder auf offene, von faschistischen Gruppen getragene Gewaltaktionen gegen revolutionäre Basisorganisationen. Die letzte schwere Niederlage erlitt die Opposition im von ihr angestrebten Abwahlreferendum gegen Chávez im August 2004. Auch bei dieser Wahl scheiterte die Opposition kläglich. Auch wenn sie in diesem Fall auf demokratische Mittel setzte (die es übrigens erst seit der Einführung der bolivarischen Verfassung gibt!), so verfolgt die Opposition immer die Strategie, das Land zu destabilisieren und die Bedingungen für einen neuen Putsch zu schaffen.

All diese Versuche scheiterten letztlich, weil es immer zu Massenmobilisierungen zur Verteidigung des revolutionären Prozesses kam. Das Überleben des bolivarischen Projekts ist der aktiven Unterstützung in den Armenvierteln und den Betrieben gedankt. An dieser Kraft sind bisweilen alle Pläne der Oligarchie und des Imperialismus gescheitert.

Wer ist Chávez?


Die venezolanische Gesellschaft steckt seit Ende der 1980er Jahre in einer tiefen Krise, die nach einer gründlichen Veränderung rief. Unter diesen Bedingungen suchten die Massen nach einer Alternative. Chávez und seine bolivarische Bewegung füllten damit das politische Vakuum, das die traditionelle Linke hinterlassen hatte. Die Rolle von „Führern“ wie Chávez ist nur aus der Entwicklung der Bewegung und des Klassenkampfes zu erklären. Die Stärke von Chávez liegt in seiner Unterstützung durch eine soziale Massenbewegung.

Venezuela befindet sich in einem revolutionären Prozess. Die revolutionäre Bewegung hat bisweilen aber den bürgerlichen Staatsapparat intakt gelassen. Und dort sitzen noch unzählige Beamte und Funktionäre, die sich nach der alten Ordnung zurücksehnen. Diese Kräfte stellen für den Prozess eine enorme Gefahr dar. Dazu kommen all jene Teile der bolivarischen Bewegung, die in der Selbstorganisation der Massen eine Bedrohung sehen und die den Prozess in „geordnete“ Bahnen lenken wollen.

Chávez ist als Präsident dem Druck aller kämpfenden Seiten direkt ausgesetzt. Dies drückt sich auch in seinem politischen Kurs aus. Die endgültige Entscheidung über die Zukunft der chávistischen Bewegung wird durch das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen bestimmt werden. Ohne Druck seitens der mobilisierten Massen, an deren Spitze die Arbeiterklasse steht, wäre Chávez ein gewöhnlicher reformistischer Politiker, der innerhalb des Kapitalismus einige kleine Verbesserungen für die Menschen anstreben würde. Auf Dauer wären ernsthafte Reformen nicht durchzusetzen, und er würde vermutlich in Verhandlungen mit der Opposition alle seine Ziele stückweise verraten.

Landreform und Verstaatlichungen


Einem alten Sprichwort zufolge kommt der Appetit mit dem Essen. Die Erfolge im Kampf gegen die Konterrevolution haben das Selbstvertrauen der Massen enorm gestärkt. Momentan steht Chávez daher auch ziemlich unter dem Druck der Basis seiner Bewegung. Das äußerte sich in den letzten Monaten in mehreren entscheidenden Ereignissen: einerseits bei der Vertiefung der Landreform und andererseits bei der Verstaatlichung zweier besetzter Fabriken.

Das Gesetz zur Landreform, das 2001 verabschiedet wurde, gibt der Regierung die Möglichkeit brachliegendes Land zu besteuern und zu verteilen. Der Beginn der Umsetzung der Landreform ist ein entscheidender Schritt um die Macht der Großgrundbesitzer zu brechen. In Venezuela besitzen 5% der Landbesitzer 75% des bebaubaren Landes. Allein zu Beginn der Inspektion der großen Landgüter wurden ungefähr 500 brachliegende Ranchs gefunden. Davon sind mehr als 50 riesige Landgüter (über 10.000 Hektar), die zum Teil ausländischen Konzernen gehören. Die landlosen Bauern und Landarbeiter wollen aber oft nicht länger warten, bis sie von der staatlichen Bürokratie Land zugeteilt bekommen. Landbesetzungen sind daher keine Seltenheit mehr.

Eine Weiterentwicklung der venezolanischen Wirtschaft ist wie in den meisten Ländern des Südens ohne die Lösung der Landfrage unmöglich. Die Landreform aber bringt Chávez nicht nur in Konflikt mit den Großgrundbesitzern, sondern auch mit den Kapitalisten. Zwischen diesen beiden Gruppen besteht traditionell eine enge Verbindung. Der Hauptgrund für deren empfindliche Reaktion ist die Angst, dass die Landreform die „Unantastbarkeit“ des Rechts auf Privateigentum verletzt, was sowohl den Großgrundbesitzern, als auch den Kapitalisten missfällt. Und diese Sorge ist nicht unbegründet, wenn man sich anschaut, welche Dynamik die Debatte um die Verstaatlichung von besetzten Betrieben unter Arbeiterkontrolle ausgelöst hat.

Wohin geht die Revolution?

Das Schicksal der venezolanischen Revolution ist noch nicht entschieden. Es gibt aber drei entscheidende Faktoren, die Chávez vorwärts treiben: der extrem rückschrittliche Charakter der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und der Oligarchie, die Bedrohung durch den Imperialismus und nicht zuletzt die Massenbewegung, die ihn trägt.

Chávez ist aber nicht nur ein Getriebener, sondern auch selbst ein aktiver Teil des Prozesses. Schon vor mehreren Monaten sagte er: “Ich bin überzeugt, dass der Weg, um eine neue und bessere Welt aufzubauen, nicht der Kapitalismus ist. Der Kapitalismus führt uns geradewegs in die Hölle. (…) Der Weg heißt Sozialismus.“

Diese Aussage macht Chávez natürlich nicht zum Marxisten, aber er hat erkannt, dass eine Entwicklung der venezolanischen Wirtschaft und Gesellschaft innerhalb des Kapitalismus nicht möglich ist. Er hat damit eine breite Debatte darüber ausgelöst, wohin die bolivarische Revolution gehen solle und wie eine sozialistische Perspektive aussehen könne.

Was als national-demokratische Befreiungsbewegung begonnen hat, ist programmatisch und praktisch dabei, die engen Grenzen einer solchen Bewegung zu durchbrechen. In Venezuela selbst ist immer mehr die Rede von der Notwendigkeit einer „Revolution in der Revolution“. Diese Debatte ist dadurch geprägt, dass rund um die Fragen der Landreform und der Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle in der klassenunspezifischen bolivarischen Bewegung und auf der Grundlage der Selbstorganisation der Massen sozialistische Elemente immer stärker werden.

Dabei ist vor der Vorstellung zu warnen, dass der Übergang zum Sozialismus graduell verlaufen könnte. Die weitere Existenz des bürgerlichen Staatsapparates ist Quelle ständiger Sabotage und das größte Hemmnis für die Dynamik der Revolution. Auch das „Co-Management“ der Beschäftigten in den verstaatlichen Betrieben bleibt nur eine halbe Maßnahme, wenn die Betriebe ihre Waren weiter über den kapitalistischen Markt austauschen und es nicht zur Errichtung einer demokratisch organisierten Planwirtschaft kommt.

Vera Kis

slider unten de rev

bdk slider unten

veranstaltungen 2

werde aktiv 2

button deutsche rev homepage

Modulblock Shop

Modulblock DefenceMarxism