Kategorie: Asien

Bedeutung und Perspektiven der Iranischen Revolution

Welchen Charakter hat die gegenwärtige Protestbewegung im Iran? Welche Perspektive schlagen MarxistInnen jetzt vor? Alle von Lenin beschriebenen objektiven Bedingungen für eine Revolution sind im Iran herangereift. Die Ereignisse der vergangenen Tage markieren den Beginn der iranischen Revolution, die sich über eine ganze Periode entfalten wird, was dem Fehlen einer revolutionären Massenpartei geschuldet ist, die fähig wäre, die Massen nun zu führen. ArbeiterInnen und Jugendliche im Iran werden nach den wirklichen Ideen des revolutionären Sozialismus, nach dem Marxismus, Ausschau halten.



Gestern schrieb ich, dass die iranische Revolution begonnen hat. In welchem Sinne stimmt das? Lenin legte die Bedingungen für eine revolutionäre Situation dar: Erstens, die herrschende Klasse muss in sich gespalten sein und nicht mehr in der Lage sein, weiter so zu regieren wie bisher. Diese Bedingung ist im Iran eindeutig erfüllt. Zweitens, die Mittelklasse sollte zwischen Revolution und Konterrevolution schwanken. Das ist jetzt im Iran der Fall, wo entscheidende Schichten der Mittelklasse auf die Seite der Revolution gewechselt haben und in den Straßen demonstrieren. Drittens, die ArbeiterInnen müssen bereit sein zu kämpfen. Sogar vor den Wahlen gab es eine wachsende Welle an Streiks im Iran.

Nur die letzte Bedingung ist nicht vorhanden: Die Existenz einer revolutionären Partei mit einer revolutionären Führung, wie die bolschewistische Partei im Jahr 1917. Die Präsenz einer solchen Partei würde der Massenbewegung die Führung und die Organisation geben, die sie braucht, um erfolgreich zu sein. Das würde einen raschen und relativ schmerzlosen Sieg ermöglichen. In Ermangelung einer solchen Partei wird die Revolution sich über eine längere Periode von Monaten, vielleicht Jahren, entfalten, mit Aufs und Abs.

Eine Revolution ist kein Theaterstück mit nur einem Akt. 1917 erstreckte sich die Revolution über eine Periode von neun Monaten. In diesem Zeitraum gab es Momente des gewaltigen Aufschwungs, wie im Februar, aber es gab auch Zeiten der Ermüdung, der Niederlagen, ja sogar der Reaktion, wie in der Periode, die auf die Julitage folgte. Von Juli bis Ende August gab es eine Zeitspanne der Reaktion, in der die Bolschewiki in den Untergrund gedrängt und ihre Druckerpressen zerstört wurden, Trotzki im Gefängnis saß und Lenin gezwungen war nach Finnland zu fließen.

Die spanische Revolution, die möglicherweise das Bessere Beispiel für das ist, was im Iran passieren wird, begann mit dem Sturz der Monarchie (der durch die Regionalwahlen herbeigeführt wurde) im April 1931. Das eröffnete eine Periode der Revolution, die mit verschiedenen Aufs und Abs sieben Jahre dauerte, bis zur Niederlage der ArbeiterInnen von Barcelona in den Maitagen 1937. In dieser siebenjährigen Zeitspanne hatten wir die zwei schwarzen Jahre („Bienio Negro“), die auf die Niederschlagung der Asturischen Kommune folgten und bis zur Wahl der Volksfront 1936 dauerten.

Durch das Fehlen einer revolutionären Partei kann die iranische Revolution so wie die spanische Revolution über einige Jahre ausgedehnt werden und wird durch einen turbulenten und krampfartigen Charakter, den Aufstieg und Fall unterschiedlicher Regierungen, Führer und Parteien gekennzeichnet sein, bis schließlich die Machtfrage gestellt wird. Aber die Ereignisse, die sich vor unseren Augen entfalten, markieren deutlich eine Änderung in der gesamten Situation. Der Geist wurde aus der Flasche gelassen, wo er drei Jahrzehnte lang eingesperrt war. Und es wird unmöglich sein ihn wieder in sein Gefängnis zurück zu zwingen.

Viele Beobachter haben Erstaunen über eine Bewegung gezeigt, die aus heiterem Himmel zu kommen schien. Aber in Wirklichkeit wurde diese Explosion über eine lange Zeitspanne hindurch vorbereitet. Der Zorn der Bevölkerung reflektiert die über drei Jahrzehnte lang angestaute Frustration und Wut. Außerdem spiegelt er die Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation und den fallenden Lebensstandard wider. Die Wirtschaft war zentrales Thema der Wahlkampagne und bleibt nach vier Jahren der steigenden Inflation und Arbeitslosigkeit Kern der Sorgen der meisten IranerInnen.

Obwohl unter Ahmadineschad die ärmeren Teile der Bevölkerung von Geldgeschenken, die aus Irans Öleinnahmen finanziert wurden, profitiert haben, beschweren sich viele andere, dass die gestiegene Liquidität die Preise verdoppelt oder verdreifacht hat. Das Parlament hat bislang die Kürzung von Subventionen mit der Begründung blockiert, dass das die Inflation weiter anheizen könnte, die schon jetzt 24% beträgt. Aber die Wirtschaftskrise bedeutet Kürzungen und einen Sparkurs und der Wirtschaftsminister Hosseini sagte gestern, dass die Privatisierung von Staatsbetrieben die „Rahmenbedingung“ der künftigen iranischen Wirtschaftspolitik sein wird.

Das erklärt teilweise den militanten Charakter des Zorns und die entschlossene Oppositionsbewegung, die im 68-jährigen Mir-Hossein Mussawi, der Teil des iranischen Establishments war und es auch noch ist, ein Symbol gefunden hat. Wenn die Menschen beginnen ihre Angst zu verlieren und bereit sind, sich in einem Land wie dem Iran den Polizeigewehren entgegenzustellen, ist es der Anfang vom Ende. Die wunderbare Massenbewegung ist umso unglaublicher, da sie unorganisiert und führerlos ist.

Der Heldenmut der Massen

Der entscheidende Faktor war der plötzliche Durchbruch der Massen auf die Bühne der Geschichte. Der enorme Heroismus der Massen zeigt sich in der gigantischen Demonstration von gestern, abgehalten trotz der Warnungen des Regimes dieser mit Kugeln zu begegnen. Mindestens eine Million Protestierende nahmen keine Notiz von den Drohungen und forderten Freiheit im Iran. Acht Menschen starben gestern und es gibt eine unbekannte Anzahl an Verletzten. Und trotzdem geht die Bewegung unvermindert weiter.

Robert Fisk, einer der scharfsinnigsten britischen Journalisten war Zeuge dessen, was er den iranischen Schicksalstag nennt und schickte einen lebendigen Bericht der Ereignisse:

„Eine Million Menschen marschierte vom Engelob-Platz zum Azadi-Platz, vom Platz der Revolution zum Platz der Freiheit unter den Augen von Teherans brutaler Bereitschaftspolizei. Die Menge sang, schrie, lachte und schmähte den iranischen Präsidenten als Staub. Ein Student scherzte: ‚Ahmadineschad bezeichnete uns als Staub und wir ließen ihn den Sandsturm sehen!’“

Fisk weiter:

„Seit den Tagen der 1979er Revolution sind keine solchen Massen an Protestierenden mit einer derartig überwältigen Popularität durch die Boulevards dieser ausgedörrten und verzweifelten Stadt gezogen. Sie drängten, schubsten, quetschten sich enge Fahrstreifen entlang, um die wichtigste Autobahn zu erreichen und trafen dann auf die Bereitschaftspolizei, die mit Stahlhelmen und Schlagstöcken alle Seiten flankierte. Die Leute ignorierten sie alle. Und die Polizisten, zahlenmäßig von den Zehntausenden entsetzlich übertroffen, lächelten kleinlaut und nickten - zu unserem Erstaunen - mit den Köpfen in Richtung der Freiheit fordernden Männer und Frauen. Wer hätte geglaubt, dass die Regierung diesen Marsch untersagt hat?“

Hier sehen wir das wahre Gesicht einer Revolution. Die Massen sind mit der verschreckten Bereitschaftspolizei konfrontiert und ignorieren sie einfach. Die Polizei, mit einer Massenbewegung konfrontiert, zögert und gibt „kleinlaut lächelnd“ den Weg frei, in Einverständnis nickend. Dieser Vorfall ist eine beinahe exakte Wiederholung dessen, was Trotzki in seiner „Geschichte der Russischen Revolution“ beschreibt:

„Die gesamte Belegschaft von Erikson, einem der fortgeschrittensten Betriebe des Wyborger Stadtteils, zog nach einer am frühen Morgen abgehaltenen Versammlung in Stärke von 2500 Mann zum Sampsonjewski-Prospekt und stieß an einer engen stelle auf Kosaken. Mit der Brust der Pferde sich den Weg bahnend, dringen zuerst die Offiziere in die Menge ein. Hinter ihnen, in der ganzen Breite der Straße reiten die Kosaken. Ein entscheidender Augenblick! Aber behutsam, in schmalem Bande, folgen die Reiter durch den von den Offizieren gebahnten Korridor. ‚Einige von ihnen lächeln’, erinnert sich Kajurow ‚und der eine zwinkerte den Arbeitern gut zu.’ Nicht umsonst hat der Kosak gezwinkert. Die Arbeiter sind kühner geworden, von einer den Kosaken freundlichen und nicht feindlichen Kühnheit, und stecken damit ein wenig die letzteren an. Der Zwinkernde fand Nachahmer. Trotz der erneuten Versuche der Offiziere schlängelnden sich die Kosaken durch die Menge, ohne offen die Disziplin zu verletzen, aber auch ohne die Menge mit Nachdruck auseinanderzutreiben. Das wiederholte sich drei-, viermal und brachte die Parteien einander noch näher. Die Kosaken begannen einzeln auf Fragen der Arbeiter zu antworten und sogar flüchtige Gespräche anzuknüpfen. Von der Disziplin blieb nur eine dünne, durchsichtige Hülle übrig, die bald, gar bald zu reißen drohte. Die Offiziere beeilten sich, den Zug von der Menge zu lösen, ließen den Gedanken, die Menge auseinanderzutreiben, fallen und stellten die Kosaken als Sperre quer über die Straße auf, um die Demonstranten nicht in das Zentrum durchzulassen. Aber auch das half nicht: wie befohlen am Platze stehend, hinderten die Kosaken die Arbeiter nicht, unter die Pferde zu ‚tauchen’. Die Revolution wählte ihre Wege nicht willkürlich: bei ihren ersten Schritten rückte sie zum Siege vor unter dem Bauche des Kosakenpferdes. Eine bemerkenswerte Episode!“

Der Mut der iranischen Protestierenden war umso beeindruckender, weil viele von ihnen bereits von der grausamen Ermordung von fünf Iranern auf dem Campus der Universität Teheran wussten, die durch das Pistolenfeuer der Basij-Milizmänner niedergestreckt wurden. Fisk beschreibt die Szene:

„Als ich gestern Morgen die Tore der Hochschule erreichte, weinten viele StudentInnen hinter dem eisernen Zaun des Campus. Sie schrien ‚Massaker’ und warfen schwarze Tücher über den Zaun. Das war als die Bereitschaftspolizei zurückkehrte und noch einmal auf das Universitätsgelände drängte.“

Hier noch einmal Fisk:

„Zeitweise drohte Mussawis Siegesmarsch uns zwischen Wänden von skandierender Männern und Frauen zu zerquetschen. Diese fielen in Kanäle, stolperten über umgeknickte Bäume und versuchten mit seinem Fahrzeug Schritt zu halten, unermessliche Banner aus grünem Leinen reihten sich vor dem Auto ihres politischen Führers auf. Einstimmig sangen sie immer und immer wieder dieselben Worte: ‚Panzer, Gewehre, Basij-Miliz - ihr habt jetzt keine Wirkung.’ Als die Regierungshubschrauber über den Köpfen aufheulten, schauten diese Tausenden aufwärts und brüllten über das Knattern der Rotorblätter hinweg: ‚Wo ist meine Stimme?’ Während solch titanischer Tage drängen sich Klischees leicht auf, aber es war wahrlich ein historischer Moment.“

Jene BürgerInnen, die sich nicht an der Demonstration beteiligten, drückten ihre Solidarität von den Fenstern und Dächern aus, wie Fisk beschreibt:

„[…] Ein Mann kollabierte auf der Straße, sein Gesicht blutüberströmt. Aber die große Masse an Leuten bewegte sich weiter, ihre grünen Fahnen schwingend und vor Freude hinauf zu den Tausenden von IranerInnen rufend, die die Dächer entlang standen.

Zur Rechten sahen alle ein Altersheim und die Alten und Kranken kamen hinaus auf den Balkon, die sich noch an die Regierungszeit des verhassten Schahs erinnern mussten, vielleicht sogar an dessen gruseligen Vater Reza Khan. Eine Frau, die ungefähr 90 sein musste, schwang ein grünes Taschentuch und ein noch älterer Mann erschien auf den engen Balkon und schwang seine Krücken in der Luft. Die Tausenden unter ihnen schreien ihre Freude zu dem alten Mann zurück.

Neben dieser unermesslichen menschlichen Flut wandelnd, nahm eine seltsame Furchtlosigkeit von uns allen Besitz. Wer würde es wagen sie jetzt anzugreifen? Welche Regierung könnte sich über ein so großes und entschlossenes Volk hinwegsetzen? Gefährliche Fragen.“

Fisk betont, dass die Protestierenden nicht nur Mittelklasse und StudentInnen waren:

„Dies waren nicht bloß die schmucken, jungen Ladies aus dem Norden von Teheran mit ihren Sonnenbrillen. Die Armen waren auch da, die Straßenarbeiter und Frauen mittleren Alters in komplettem Tschador. Einige sehr wenige hielten Babys auf ihren Schultern oder Kinder im Arm, ab und zu mit ihnen redend, die Bedeutung dieses Tages einem Gedächtnis zu erklären versuchend, das sich in den kommenden Jahren nicht daran erinnern wird, dass es an diesem Tag der Tage hier war.“

Die Massendemonstrationen sind eine exakte Wiederholung jener der 1979er Revolution, die schließlich durch Ayatollah Khomenei und seine reaktionäre Gang vom Weg abgebracht wurde. Der Schah besaß einen kolossalen Repressionsapparat, aber als die Massen sich ihm entgegenstellten, zerbröckelte er wie die Sandburg eines Kindes. In der Früh hatten die verhassten Basij-Milizen die StudentInnen attackiert, am Abend aber wurden die Basij selbst von Hunderten Protestierenden im Westen der Stadt gejagt. Nach dem Hereinbrechen der Dunkelheit brachen Schießereien in den Vorstädten aus. Jene, die verhängnisvoll spät den Azadi-Platz verließen, wurden beschossen. Die endgültige Zahl der Toten betrug acht, mit einer unbekannten Menge an verwundeten.

Das Regime schwankt

Diese hervorragende Massenbewegung hat binnen 24 Stunden alles verändert. Die Arroganz der Macht, wie sie Mahmoud Ahmadineschad unmittelbar nach seinem “Wahlsieg” an den Tag legte, ist Vergangenheit. Jetzt sehen wir ein Regime, das von Panik erfasst ist. Am vergangenen Wochenende herrschte die Repression. Doch schon am Montag müssen die Behörden von dem Gefühl überkommen worden sein, dass sie im Jahre 1979 aufgewacht sind. Auf genau diese Art und Weise wurde der Schah vor 30 Jahren gestürzt, mit Massendemos und der Möglichkeit eines Generalstreiks.

Das Regime fürchtet nun einen Bürgerkrieg, wobei es keine Sicherheit hat, dass sie diesen auch gewinnen könne. Wenn die herrschende Klasse Angst hat alles zu verlieren, dann ist sie zu Zugeständnissen bereit. Jetzt bieten die Behörden eine teilweise Neuauszählung der Stimmen, aber keine Neuwahlen. Der oberste Geistliche Führer, die tatsächliche Macht im Staat, hat diesen Weg vorgeschlagen, obwohl er kurz davor noch das Wahlergebnis gutgeheißen hat.

Doch diese Zugeständnisse sind zu gering und sie kommen zu spät. Damit wird sich die Protestbewegung nicht beruhigen lassen, ganz im Gegenteil. Solche Schritte werden als Zeichen der Schwäche gedeutet und die Bewegung weiter anstacheln.

Die Ernsthaftigkeit dieser Krise wirkt sich auch auf die Ökonomie aus. Die Bürgerlichen stimmen mit ihren Beinen ab. Das Wahlergebnis hat unter Wirtschaftstreibenden eine regelrechte Panik ausgelöst. Die Financial Times berichtete von einem Einbruch der Teheraner Börse und von der Drohung der einflussreichen Basaris aus Protest ihre Geschäfte zu schließen.

Die Basaris stellten früher eine wichtige soziale Basis des Regimes dar. Die Tatsache, dass diese Schicht immer mehr die Proteste unterstützt, ist ein wichtiger Beweis für die Möglichkeiten einer Ausweitung der Bewegung. Doch das Fehlen einer politischen Führung bedeutet, dass die Entscheidungsschlacht erst noch hinausgezögert wird. Die Financial Times, das scharfsinnigste Organ des internationalen Kapitals, schreibt dazu:

“Die Welle des Protests könnte bald schon ausebben, vor allem wenn die Repression noch brutaler wird. Doch Analysten sind der Meinung, dass dies stattdessen Kampagnen zivilen Ungehorsams auslösen könnte, die von Teilen der Gesellschaft ausgehen könnten, die jetzt Mussawi unterstützt haben – einschließlich Geschäftsleute in den Basaren, die heute mit einem Streik drohen, Gewerkschaften und die Studierenden – oder Proteste von Teilen des Klerus, die ebenfalls Mussawis Kandidatur unterstützt haben.
‚Von nun an werden wir viele sporadische Unruhen zu den verschiedensten Fragen sehen, denn die Menschen werden denken, dass es ohnedies keinen friedlichen Wandel geben könne’, so ein Analyst.”

Schwäche der Führung

Diese Perspektive ist sehr ähnlich jener, die ich in meinem gestrigen Artikel aufgestellt habe. Selbst die stürmischsten Streiks und Straßendemos können die zentrale Frage nicht lösen: die Frage der Staatsmacht. Es reicht nicht, dass einige Polizisten die DemonstrantInnen anlächeln. Solange die Polizei und die Armee sich nicht auf die Seite der Bevölkerung stellen, verbleiben die schärfsten Waffen der Islamischen Republik in den Händen von Präsident Ahmadineschad und seiner klerikalen Schutzherren. Die Frage der Führung ist noch immer von größter Bedeutung.

Im Jahr 1999 konnte das Regime die damalige Welle von Studierendenprotesten binnen weniger Tage unterdrücken. Dieses Mal erscheint die Protestbewegung willensstärker. Die Versuche, die Bewegung mit staatlicher Repression im Keim zu ersticken, hatten den gegenteiligen Effekt. An der Uni in Teheran herrscht nach den brutalen Übergriffen durch bewaffnete Schlägertrupps von Ahmadineschad eine zornerfüllte Stimmung vor. Über 400 reformfreundliche Studierende, von denen sich viele mit grünen Masken vermummten, versammelten sich zuvor bei einer Moschee an der Uni und forderten den Rücktritt von Ahmadineschad. Einige erzählten, Mitglieder einer religiösen Miliz hatten ihr Studentenheim attackiert. “Sie haben unsere Freunde geschlagen und mindestens 100 Studierende verschleppt. Wir haben keine Informationen über ihren Verbleib”, sagte einer. 120 Universitätsrektoren haben aus Protest ihr Amt niedergelegt.

Vom Mut der DemonstrantInnen könnte sich die Führung der Bewegung eine Scheibe abschneiden. Männer wie Mussawi sind weniger geborene Führer als vielmehr Ausdruck des historischen Zufalls. Kerenski und der Priester Gapon gehörten ebenfalls zu dieser Kategorie. Solche Individuen können plötzlich von der Flut großer historischer Ereignisse nach oben gespült werden und für kurze Zeit große Berühmtheit erlangen, und dann verschwinden sie genauso schnell wie sie gekommen sind. Mussawi war in den 1980ern Ministerpräsident, dann verschwand er aus der Öffentlichkeit und widmete sich seinem liebsten Freizeitvergnügen, der abstrakten Malerei. Jetzt hat ihn die Geschichte am Kragen gepackt und auf die Hauptbühne geworfen, wo er ein ziemlich waghalsiges Spektakel zum Besten geben soll.

Mussawi hat zwar die Innen- und Außenpolitik des Regimes kritisiert, doch er war nie ein Gegner der Islamischen Republik. Vielmehr präsentiert er sich als jemand, der zu den wahren Werten und Prinzipien der Islamischen Revolution von 1979 zurückkehren möchte. Doch er verband seine Botschaft mit Forderungen nach mehr demokratischer Freiheit und einer pragmatischeren Wirtschaftspolitik.
Seine Kandidatur kam außerdem recht zufällig zustande. Eigentlich wollte er gar nicht kandidieren, doch er wurde immer und immer wieder von Mohammad Chatami, dem ehemaligen Reformer im Präsidentenamt, dazu gedrängt. Als er sein Antreten bekanntgab, erhielt er sehr schnell die Unterstützung durch Akbar Hashemi Rafsandschani, ein führender Politiker aus dem konservativen Lager und Mitglied des Gremiums, welches den nächsten Geistlichen Führer bestimmen wird.

Während beide erwartet haben, dass Mussawi ein Zentrist sei, übernahm dieser im Zuge seiner Wahlkampagne immer deutlicher die Losungen der Reformkräfte. Er appellierte dabei vor allem an die gebildeteren städtischen Mittelschichten, kritisierte auf das Schärfste den Extremismus des bisherigen Amtsinhabers und machte sich über dessen populistische Wirtschaftspolitik lustig.

Die jungen Reformer, die jetzt auf die Straße gehen, erhoffen von Mussawi einen grundlegenden Wandel, doch Mussawi selbst hat andere Vorstellungen. Der britische Journalist Robert Fisk porträtierte Mussawi bei seinem überraschenden Auftritt auf der ersten Massendemo in Teheran so: “Es kam ihm kein Lächeln über die Lippen, er war völlig perplex und wusste nicht womit er es hier zu tun hatte”. Er ist wie der Zauberlehrling, der die Kräfte, die er rief nicht mehr zu kontrollieren weiß. Die bürgerliche Presse hat seinen Wankelmut längst erkannt. So schrieb die Financial Times, dass er anfänglich die angeraumte Großdemo absagte und seine AnhängerInnen dazu aufrief, zu Hause zu bleiben, weil er gewaltsame Zusammenstöße befürchtete, dass er sich dann aber doch an der Demo beteiligte. Sein Dilemma sei, dass diese Demos den größten öffentlichen Aufschrei seit der Islamischen Revolution von 1979 darstellen. Die Menschen hörten nicht auf ihren politischen Führer und gingen trotzdem auf die Straße.

In der Tat ist die Gefahr blutiger Zusammenstöße ständig präsent. Angesichts des Volkszorns, der ein unvorstellbares Ausmaß erlangt hat, kann die Repression ihre Zwecke nicht mehr erfüllen. Ein einzelner blutiger Zusammenstoß kann das Fass zum Überlaufen bringen. Die Idee eines Generalstreiks ist bereits in Diskussion. Staatlicher Terrorismus im großen Stil würde eine Welle von Streiks und weiteren Protesten auslösen, was sehr leicht zu einem Aufstand nach dem Beispiel der Revolution von 1979 werden könnte. Mussawi will das mit allen Mitteln verhindern. Er wird mit folgenden Worten zitiert: „Als jemand, der die Polizei liebt, empfehle ich ihr harsche Reaktionen gegen die selbstmotivierten Aktionen von Teilen der Bevölkerung zu vermeiden. Die Menschen dürfen ihr Vertrauen in dieses wertvolle Organ nicht verlieren.“

Was wir vorhergesagt haben

Die MarxistInnen haben bereits vor geraumer Zeit die Perspektive aufgestellt, dass es im Iran über kurz oder lang zu einem Ausbruch von Massenprotesten kommen wird. Schon vor nahezu zehn Jahren stellten wir die Behauptung auf, dass die damaligen Studentenproteste die “ersten Vorboten der Iranischen Revolution” seien. Der Iran nahm seither immer einen zentralen Platz in den Perspektiven der Internationalen Marxistischen Strömung (IMT) ein. In einer Rede auf dem Weltkongress der IMT im August 2008 sagte ich folgendes:

“Der Iran ist reif für eine Revolution. Wir sehen dort alle Bedingungen für eine Revolution, wie sie Lenin definiert hat: eine Spaltung der herrschenden Klasse, Gärungsprozesse unter den Mittelschichten, eine mächtige Arbeiterklasse mit revolutionären Traditionen, eine Welle von wichtigen Streiks usw. Der einzige Faktor, der bisweilen fehlt, ist der subjektive Faktor – die revolutionäre Partei. Die Arbeit der iranischen GenossInnen ist daher von größter Bedeutung für die IMT. Wir müssen ihnen unsere vollste Unterstützung zukommen lassen.
Die Situation im Iran ist sehr ähnlich mit jener in Russland vor 1905. Ihr werdet schauen, wenn die Massen im Iran erst einmal in Bewegung geraten sind. Die kommende Revolution kann verschiedene Wege einschlagen, aber eins ist sicher: es wird kein fundamentalistischer Aufstand sein! Nach 28 Jahren der Mullah-Herrschaft sind diese in den Augen der Lohnabhängigen und der Jugend völlig diskreditiert. Die Mehrheit der Bevölkerung ist jung und wird offen sein für revolutionäre Ideen und den Marxismus. Die Iranische Revolution wird die ganze Lage im Nahen Osten auf den Kopf stellen und wird zeigen, dass wirklicher Antiimperialismus nicht fundamentalistisch ist. Das wird Auswirkungen auf die ganze Region haben.”

Diese Worte wurden durch die jüngsten Ereignisse voll bestätigt. Die Iranische Revolution brauchte lange Zeit, um heranzureifen, dafür ist sie umso explosiver an die Oberfläche getreten. Bisherige Rebellionen der heroischen StudentInnen im Iran wurden blutig unterdrückt, die Köpfe dieser Proteste wurden verhaftet. Doch wie wir in diesen Fällen vorhergesagt haben, sind diese Rückschläge von temporärem Charakter. “Mangels einer politischen Führung kann die Repression den Effekt haben, dass die Bewegung sich zeitlich verzögert, aber dies wird das Regime insofern bezahlen als die Explosion zu einem späteren Zeitpunkt umso gewaltiger und unkontrollierbarer sein wird.” (The First Shots of the Iranian Revolution, 17. Juli 1999) Genau das sehen wir jetzt. Der Kampf wird weitergehen, mit unvermeidlichen Auf- und Abschwüngen, bis es zu einer entscheidenden Auseinandersetzung kommt.
Zu den dringlichen Aufgaben der revolutionären Bewegung schrieb ich damals:

“Die ArbeiterInnen und die Jugendlichen im Iran haben schon mehrfach großes revolutionäres Potential an den Tag gelegt. Was es jetzt braucht, ist, dass der Bewegung eine organisierte Form und ein klares Programm und eine klare Perspektive gegeben wird. Mit Kompromissen und einer Politik der Klassenkollaboration gibt es keinen Ausweg aus der Sackgasse. Die Grundvoraussetzung ist eine unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse, gemeinsam mit ihren natürlichen Verbündeten, und ein entschiedener Bruch mit den bürgerlichen Liberalen. Es ist notwendig Aktionskomitees aufzubauen, um die Bewegung auf lokaler, regionaler und landesweiter Ebene zu organisieren und zu koordinieren. Es wird auch notwendig sein, die Selbstverteidigung gegen konterrevolutionäre Schlägerbanden vorzubereiten und gleichzeitig an die normalen Soldaten zu appellieren, damit diese sich auf die Seite der Bevölkerung stellen.“

“Vor allem ist es notwendig, ein konkretes Programm auszuarbeiten, um den Kampf für demokratische Rechte mit Forderungen zur Lösung der drückendsten Probleme der Arbeiterklasse, der Bauernschaft, der Arbeitslosen, der Frauen und der Jugend zu verbinden. Solch ein Programm wird notwendigerweise einen radikalen Bruch mit dem Kapitalismus implizieren und den Kampf für eine Arbeitermacht und eine Bewegung Richtung Sozialismus auf die Tagesordnung setzen. Die Grundvoraussetzung für den Erfolg dieses Kampfes liegt in der aktiven Teilnahme der Arbeiterklasse, dies gilt vor allem für die ArbeiterInnen in der Erdölindustrie, die im Iran von entscheidender Bedeutung ist. Sobald die arbeitenden Menschen im Iran einmal die Macht in ihren Händen halten, wird das den Beginn einer Bewegung markieren, die sich wie ein Lauffeuer in der gesamten Region ausbreiten wird. Eine solche Bewegung hätte wohl einen größeren Effekt als die Russische Revolution von 1917, vor allem wenn an ihrer Spitze einer bewusste revolutionär-marxistische Partei stehen würde. Der Aufbau einer solchen Partei ist daher die dringlichste Aufgabe für die Avantgarde der iranischen ArbeiterInnen und Studierenden. Bewaffnet mit den korrekten Ideen, einem Programm und einer klaren Strategie wird die iranische Arbeiterklasse unbesiegbar sein.”

Dem ist nicht viel hinzuzufügen. Wir diskutieren jetzt nicht mehr länger abstrakte Perspektiven, sondern Fakten. Die wunderbare Bewegung der ArbeiterInnen und der StudentInnen im Iran liefert einmal mehr eine Antwort an all die Skeptiker, die der Arbeiterklasse die Fähigkeit absprechen, die Gesellschaft zu verändern. Die Revolution im Iran hat ihren Anfang genommen und sie wird durch eine Reihe von Etappen gehen. Doch wir sind guter Hoffnung, dass sie siegreich enden wird. Wenn dies der Fall ist, dann würde das explosive Nachwirkungen im ganzen Nahen Osten, in ganz Asien und auf der ganzen Welt haben.

Wir rufen die ArbeiterInnen weltweit dazu auf, ihre iranischen Brüdern und Schwestern zu unterstützen.
  • Nieder mit der Tyrannei und der Repression!
  • Lang lebe die Iranische Revolution!
  • ArbeiterInnen aller Länder, vereinigt Euch!
London, 16. Juni 2009

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