Kategorie: Kapital und Arbeit

155 Tage Streik für Menschenwürde und gegen Sklaverei

Halil Saltan Interview mit Halil Saltan, Betriebsratsvorsitzender bei Gate Gourmet in Düsseldorf und Mitglied der betrieblichen Tarifkommission der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG). Der Betrieb, der Bordverpflegung für die Luftfahrt herstellt, wird seit 7. Oktober bestreikt.



Sie wurden letzte Woche als Spitzenkandidat der Liste „Menschenwürde“ wieder in den Betriebsrat gewählt. Herzlichen Glückwunsch. Welche Auswirkungen hat diese Wahl auf den weiteren Verlauf des Streiks?

Dass unsere Liste fünf von sieben Sitzen errungen hat, ist eine volle Bestätigung dafür, dass der Streik die richtige Antwort ist. Ganz offensichtlich haben wir auch einige Stimmen von Kollegen bekommen, die nicht mitstreiken.

Nun spekuliert aber das Management von Gate Gourmet darauf, dass den Streikenden nach nunmehr 155 Tagen irgendwann die Puste ausgeht?

Genau das Gegenteil ist der Fall. Wir werden durch unsere Erfahrungen noch stärker. Wir haben vor dem Streik im Grunde mit Politik nichts zu tun gehabt. Jetzt wird uns vieles von Tag zu Tag bewußter. Wir wissen durch das starke Interesse der Öffentlichkeit und Medien, dass unser Kampf bundesweit mit Spannung verfolgt wird und eine hohe Symbolkraft besitzt. Auch der härteste Winter seit Jahren hat uns nicht zugesetzt. Viel schlimmer als Minustemperaturen ist die soziale Kälte in diesem Lande.

Die Transparente der Streikenden fordern „Menschenwürde“ und kritisieren die „Sklaverei“ im Betrieb. Was hat es damit auf sich?

Im Grundgesetz steht, dass die Würde des Menschen unantastbar sei. Aber nach der Übernahme von Gate Gourmet durch die US-amerikanische Texas Pacific Group wurde die Arbeitshetze unerträglich und galt die Menschenwürde nichts mehr. Als Betriebsrat erfuhr ich tagtäglich, wie diese Würde mit Füßen getreten wird. Eine Akkordarbeiterin und Mutter hat mir erzählt, wie sie nach einer 48-Stunden-Woche so erledigt war, dass sie am Feierabend zu Hause nicht mal mehr die Kraft aufbrachte, um ihr Kind zur Begrüßung zu umarmen. Nachdem ich im letzten Sommer Betriebsratsvorsitzender wurde, hat man auch mich jeden Tag gemobbt.

Dieser Streik markiert eine neue Qualität von Auseinandersetzungen, zumal Gate Gourmet schon wiederholt ausgehandelte Ergebnisse platzen ließ, an der Findung eines irgendwie gearteten Kompromisses gar nicht interessiert zu sein scheint und mit Hilfe von Leiharbeitern und Streikbrechern alles aussitzen will?

Es drängt sich in der Tat der Eindruck auf, dass hier eine Verschleppungstaktik gefahren wird. Da wurden intensive Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite geführt, und hinterher stellte sich heraus, dass unsere Gesprächspartner von der Konzernspitze gar kein Verhandlungsmandat bekommen hatten.

Ein weiteres Problem besteht aber auch darin, dass Düsseldorf mit über 80 Streikenden bisher alleine kämpft und die anderen deutschen Gate Gourmet-Standorte, die im Organisationsbereich von ver.di liegen, bisher passiv geblieben sind. Hier bahnen sich ähnliche Konflikte wie in Düsseldorf an, weil das Management überall eine rigorose Senkung der Arbeitskosten anstrebt. Doch man will dort offiziell erst mal abwarten, was in Düsseldorf geschieht. Wir erwarten aber konkrete gewerkschaftliche Solidarität.

Fühlen Sie sich etwas alleingelassen?

Durchaus. Warum ziehen die Gewerkschaften in Deutschland nicht an einem Strang? Es kann doch nicht sein, dass die NGG in einen so langen und harten Kampf verwickelt ist und ver.di als Schwestergewerkschaft an anderen Konzernbetrieben nicht einmal Warnstreiks oder andere Maßnahmen einleitet. Wir appellieren an die Kollegen: Kommt raus und stärkt uns den Rücken! Ihr werdet bald vor den gleichen Problemen stehen. Gemeinsam sind wir stärker. Unterstützung muss mehr sein als ein paar Zeilen schreiben. Wenn ich Druck ausüben will, muss dies der Gegenseite auch wirklich ökonomisch wehtun.

Auch Politiker verschiedener Parteien haben sich mit Ihrem Arbeitskampf solidarisiert. Am 8. März besuchte Oskar Lafontaine die Streikenden. Was erwarten Sie von der Politik?

Volksvertreter sollten sich als Vertreter des Volkes betrachten und nicht irgendwelchen Lobbyverbänden verpflichtet sehen und dem Kapital dienen. Immer breitere Bevölkerungsschichten werden an den Rand des Abgrunds gedrängt. Diese Politik der gnadenlosen Umverteilung von unten nach oben spüren wir hier im Kleinen. Oskar Lafontaine hat bei seinem Besuch diese Dinge beim Namen genannt und die Menschen aufgefordert, sich dagegen zu engagieren. Er hat mit seiner Kritik am Raubtierkapitalismus das bestätigt, was wir im Betrieb in den letzten Jahren am eigenen Leib erfahren haben.

Die Streikenden haben in den letzten fünf Monaten über den Tellerrand des eigenen Arbeitskampfes hinausgeschaut und gezielt den Kontakt mit anderen kämpfenden Belegschaften gesucht. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

Wir waren bundesweit zu vielen Veranstaltungen und Kundgebungen eingeladen und haben dabei ein starkes Interesse an unserem Streik vorgefunden. Ich nenne das Missionsarbeit. Viele Zuhörer waren von unserem Engagement fasziniert, haben aber noch Angst davor, selbst zu kämpfen. Wir führten offene Gespräche. Ich kann anderen Arbeitern nur raten: Wartet nicht ab, bis eure Gesundheit ruiniert ist, denn dann ist eure Arbeitskraft nichts mehr wert. Wenn ihr so viel und so flexibel arbeitet, dass die Familie kaputt geht, habt ihr auch nichts davon. Wir wissen, wovon wir reden. Jetzt hat eine neue Streikwelle begonnen. Wir werden auch in den nächsten Tagen und Wochen noch vielen streikenden Kollegen anderer Branchen unserer Erfahrungen vermitteln. Demnächst wollen wir auch die Gate Gourmet-Kollegen in London besuchen, deren Streik im letzten August weltweit Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.

Eine Kurzfassung dieses Interviews erschien auch in der Tageszeitung junge Welt

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