Kategorie: Kapital und Arbeit

Moderater Metallabschluss

Mit dem am Dienstag in Stuttgart verkündeten Tarifabschluss für den Bezirk Baden-Württemberg dürfte die diesjährige Tarifbewegung in der deutschen Metall- und Elektroindustrie beendet sein. In dieser Branche mit bundesweit knapp vier Millionen Beschäftigten gelten regionale Tarifverträge.


Üblicherweise wird der erste Abschluss in einem IG Metall-Bezirk als „Pilotabschluss“ in den anderen Bezirken übernommen. Es war die größte bundesweite Streikbewegung in der Industrie seit vielen Jahren. Allein in der zweiten Januarwoche legten im Rahmen der ersten Warnstreikwelle nach IG Metall-Angaben bundesweit insgesamt 960.000 Beschäftigte für mehrere Stunden die Arbeit nieder. Das allein war schon deutlich mehr als in früheren Jahren. Neu war dann die darauffolgende Welle von 24-stündigen Warnstreiks quasi als „zweite Stufe“ und Ampelschaltung auf „Gelb“. Daran nahmen nach Angaben aus der IG Metall insgesamt rund 1,5 Millionen Beschäftigte teil. Die Möglichkeit solcher 24-Stunden-Streiks war erst 2016 unter dem Druck der Basis in der IG Metall-Satzung festgeschrieben worden. „Mal wieder richtig streiken“, sagten sich viele Basisaktivisten. Die Streikkasse der IG Metall war und ist gut gefüllt.

Die Bereitschaft, auch weiter zu gehen und in einem unbefristeten Streik den Druck zur Durchsetzung der Gewerkschaftsforderungen zu erhöhen, war allgemein sehr groß. Viel spricht dafür, dass bei der nächsten Stufe – Urabstimmung über einen unbefristeten Streik – die Beteiligung und Zustimmung der Gewerkschaftsmitglieder sehr stark gewesen wäre. Ein Vollstreik in der größten und Schlüsselbranche der deutschen Wirtschaft hätte der gesamten arbeitenden Klasse ihre Stärke demonstriert und ausgestrahlt. Er hätte den Unternehmen angesichts voller Auftragsbücher, enger Logistikketten und zunehmender Just-in-time-Produktion richtig weh getan und internationale Auswirkungen gezeigt. Er hätte auch das gesellschaftliche und politische Klima entscheidend geprägt und dazu beigetragen, rechten und rassistischen Propagandisten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Er hätte weitergehende Zugeständnisse erzwingen können. Die Lage und Profite der Branche sind glänzend – aus gewerkschaftlicher Sicht eigentlich eine optimale Voraussetzung, um nach mageren Jahren wieder größere Zugeständnisse zu erringen. Doch so weit sollte und durfte es nach dem Willen der IG Metall-Spitze nicht kommen. Faktisch wurde die bestehende hohe Kampfbereitschaft nicht annähernd genutzt, um deutlich mehr herauszuholen und wieder in die Offensive zu gehen.

Keine „normale“ Lohnrunde

In dieser Tarifrunde ging es um viel mehr als die Forderung nach einer Erhöhung der Einkommen um sechs Prozent. Bei einer breiten und durchaus repräsentativen Befragung in zahlreichen Betrieben hatten viele Beschäftigte den Wunsch nach Arbeitszeitverkürzung und mehr Freizeit geäußert. Daraus wurde die Forderung nach einer Option auf eine „kurze Vollzeit“ von 28 Stunden in der Woche für die Dauer von zwei Jahren, wenn die betroffenen Kolleginnen und Kollegen regelmäßig Schichtarbeit leisten und/oder mehr Zeit für Kindererziehung oder die Pflege von Angehörigen wünschen.

Die IG Metall hatte 1984 in einer größeren Streikbewegung zusammen mit der damaligen IG Druck und Papier den Einstieg in die 35-Stunden-Woche erkämpft, die seit den 1990er Jahren im Westen im Tarifvertrag steht. Seither war die Arbeitszeitverkürzung gut zwei Jahrzehnte lang kein Thema mehr für deutsche Gewerkschaften. Dass nun die Option auf 28 Stunden zumindest für die o.g. Beschäftigtengruppen wieder auf der Tagesordnung stand und in den Verhandlungen durchgesetzt wurde, dürfte bei den Betroffenen Appetit auf mehr machen und die Frage einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung über die Metallbranche hinaus wieder auf die Tagesordnung setzen. Die „28“ der IG Metall findet jetzt auch europaweit bei Gewerkschaftsmitgliedern ein positives Echo – das habe ich in den letzten Tagen immer wieder in Gesprächen mit italienischen Gewerkschaftern festgestellt. Schon 1984 hatte der offensive Kampf um die „35“ international ein starkes Echo gefunden.

Doch anders als heute ging es damals – 1984 – um eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung für alle bei vollem Lohnausgleich. Für die Tarifrunde 2018 forderte die IG Metall für die „kurze Vollzeit“ von 28 Stunden nur einen Teillohnausgleich, damit sich auch Beschäftigte in unteren Lohngruppen die „kurze Vollzeit“ überhaupt leisten könnten. Davon ist jetzt nicht mehr viel übrig geblieben. So gibt es laut Vereinbarung ab 2019 jährlich ein tarifliches Zusatzentgelt in Höhe von 27,54 Prozent eines Monatsentgelts und für das ganze Jahr einmalig einen Festbetrag von einheitlich 400 Euro für alle Beschäftigten. Wer Kinder bis acht Jahren hat, Angehörige ersten Grades pflegt und schon seit mindestens 15 Jahren im Betrieb Schichtarbeit leistet, kann statt Zusatzentgelt auch acht freie Tage zusätzlich im Jahr wählen. Sollten allerdings mehr als zehn Prozent aller Beschäftigten „verkürzte Vollzeit“ von 28 Stunden beantragen, so kann dies von der Geschäftsleitung abgelehnt werden.

Im Gegenzug machte die IG Metall allerdings weitere Zugeständnisse, die nach einem komplizierten Quotensystem für andere Beschäftigtengruppen die Arbeitszeit verlängern können. So soll zwar die Quote von maximal 18 Prozent aller Beschäftigten, mit denen 40-Stunden-Verträge vereinbart werden dürfen, beibehalten werden. Doch diese Quote kann per Betriebsvereinbarung auf 30 Prozent angehoben werden, „wenn ein Fachkräftemangel nachgewiesen werden kann“, so der neue Tarifvertrag. Eine Anhebung auf 50 Prozent soll für Technologiebetriebe per Betriebsvereinbarung möglich sein, „wenn im Betrieb mindestens 50 Prozent der Beschäftigten in der Entgeltgruppe 12 oder höher eingestuft sind“, so das Stuttgarter Verhandlungsergebnis. All dies trägt zur weiteren Durchlöcherung der tarifvertraglichen 35-Stunden-Woche auf der betrieblichen Ebene bei, nachdem bereits in vielen Betrieben „flexibel“ damit umgegangen und deutlich länger als 35 Stunden gearbeitet wird. Der „schwarze Peter“ liegt dann möglicherweise in der Hand der einzelnen Betriebsräte und der Teufel steckt im Details des Tarifvertrags.

Dabei wäre es angesichts von zunehmender Digitalisierung und „Industrie 4.0“ sowie der Wahrscheinlichkeit, dass der aktuelle Aufschwung und Exportboom nicht ewig anhalten wird, gerade jetzt wichtig gewesen, eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich für die kommenden Jahre wieder in Angriff zu nehmen, um den drohenden Arbeitsplatzverlust „aufzufangen“. Die Gefahr des individualisierten Risikos ist bei diesem Tarifabschluss hoch. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Belegschaften dadurch nicht auseinanderdividieren lassen. Es bleibt ebenso zu hoffen, dass durch die „28“ für besonders gestresste Personengruppen diese Frage jetzt wieder in den Blickpunkt gerückt ist und nicht wieder Jahrzehnte vergehen werden, bis diese Zielsetzung unter dem Druck der Basis bei Tarifbewegungen auf der Tagesordnung steht.

Auch die vereinbarten Lohnerhöhungen sind nicht so glänzend und üppig, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Die 4,3 Prozent ab dem 1. April 2018 erscheinen auf den ersten Blick hoch. Sie gelten aber für eine Laufzeit von zwei Jahren bis zum 31. März 2020. Eigentlich hatte die IG Metall eine Laufzeit von 12 Monaten gefordert. Damit liegt die Steigerung kaum über der (wahrscheinlichen) Inflationsrate. Dazu gibt es als „Bonbons“ noch Einmalbeträge für alle in Höhe von 100 Euro für das 1. Quartal 2018 und 400 Euro für das gesamte Jahr 2019.

Ungelöst bleibt auch die brennende Frage der Ungleichheit von Löhnen und Arbeitszeiten in Ost und West. Im Osten nämlich wird 28 Jahre nach der Angliederung der DDR immer noch länger gearbeitet und weniger verdient als im Westen, obwohl es sich oft um hochmoderne Betriebe und Niederlassungen westdeutscher Konzerne handelt. Die Tarifrunde 2018 sollte nach einer IG-Metall-Ankündigung vom vergangenen Herbst dazu beitragen, dass der Osten aufholt und die Angleichung absehbar ist. Dies wäre am besten im Rahmen eines gemeinsamen bundesweiten Kampfes vorstellbar gewesen. Der rasche Stuttgarter Pilotabschluss macht genau dies nun schwerer, weil der Westen nun abgeschlossen hat. Im Sommer 2003 war der Streik in der ostdeutschen Metallindustrie für die 35-Stunden-Wochen ergebnislos abgebrochen worden, nicht zuletzt weil die „Betriebsratsfürsten“ westdeutscher Autokonzerne sich im Interesse „ihres“ Konzerns offen davon distanzierten.

Weil in der zurückliegenden Streikbewegung die dritte Stufe – Urabstimmung der Mitglieder über Vollstreik zur Durchsetzung der Forderungen – vermieden wurde, ist laut IG Metall-Satzung jetzt auch keine Abstimmung der Mitglieder über die Annahme des Verhandlungsergebnisses notwendig. So haben die regionalen IG Metall-Tarifkommissionen jetzt das letzte Wort.
Viele Beschäftigte und IG Metall-Mitglieder freuen sich jetzt erst einmal auf die Einmalzahlung von 100 Euro im März und eine Erhöhung der Tariflohns um 4,3 Prozent ab April 2018 und dürften das ausgehandelte Tarifergebnis erst einmal begrüßen. Dennoch bleibt die Frage, ob mit einem unbefristeten Streik nicht deutlich mehr Zugeständnisse möglich gewesen wären. Ein Vollstreik der Metallbranche im Schulterschluss mit der jetzt anlaufenden Tarifbewegung im Öffentlichen Dienst sowie den Protesten gegen die Vernichtung von 7000 Arbeitsplätzen im Siemens-Konzern hätte durchaus das gesellschaftliche Klima verändert, den Klassenkampf und Klassenstandpunkt wieder in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt und den politischen Akteuren in Berlin wie auch der herrschenden Klasse mächtig Dampf gemacht. Doch so weit sollte und durfte es nach dem Willen der IG Metall-Führung nicht kommen.

„Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“ Den tieferen Sinn dieser alten Parole der Arbeiterbewegung haben viele Beschäftigte in den zurückliegenden Warnstreiks praktisch erlebt, als die Produktion in „ihrem“ Betrieb 24 Stunden lang still stand. Diese Erfahrung kann ihnen niemand nehmen. Sie wird für die Auseinandersetzungen in den kommenden Jahren sehr wichtig sein.

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