Kategorie: Theorie

Zum 75. Todestag von Leo Trotzki

trotzkibunthpVor 75 Jahren, am 20. August 1940, wurde der russische Revolutionär Leo Trotzki in Mexiko von einem stalinistischen Agenten ermordet. Er war einer der bedeutendsten Marxisten des 20. Jahrhunderts. Ein Rückblick auf Leben und Werk.


Leo Trotzki wurde 1879 in dem ukrainischen Dorf Janowka (im Einzugsbereich von Odessa am Schwarzen Meer) als Sohn (und 5. Kind) eines wohlhabenden jüdischen Bauern geboren und begeisterte sich früh für das Lernen, die Bücher und das Schreiben. Noch als Gymnasiast kam er in Kontakt mit revolutionären Gruppen und illegaler Literatur und organisierte bald selbst geheime Arbeiter-Diskussionszirkel. Bald wurde er verhaftet und 1899 ohne Gerichtsverfahren zu vier Jahren Verbannung verurteilt. Im Gefängnis machte er sich mit der Marxschen Theorie vertraut. 1901 begann er, für die sibirische Presse Sozialreportagen und literarische Essays zu schreiben. Als Journalist und Literaturkritiker war er – wie später als Soziologe und Historiker, als Organisator, Kriegskommissar und Ökonom – ein genialer Autodidakt. 1902 floh er aus der sibirischen Verbannung über Wien und Zürich nach London und nahm mit den Führern der sozialdemokratischen Internationale Kontakt auf. Auf dem Exilparteitag der russischen Sozialdemokraten im Jahre 1902 stellte er sich gegen Lenin (und dessen Mehrheitsfraktion, die „Bolschewiki“). In den fraktionellen Auseinandersetzungen der Folgezeit nahm er bald eine unabhängige Position ein. Im Herbst 1905 wurde der 24-Jährige in die dreiköpfige Exekutive des Petersburger Arbeiterrats gewählt. Am 5. Dezember rief er zum bewaffneten Aufstand auf, am 16. Dezember wurde er mit den anderen Führern des Arbeiterrats verhaftet und ein Jahr später „auf Lebenszeit“ nach Sibirien verbannt.

Politisches Lebenswerk

Als er im Februar 1907 abermals aus der Verbannung nach Wien floh, wo er bis 1914 als Journalist arbeitete und eine eigene Zeitung (die Wiener Prawda) herausgab, hatte er sein politisches Lebensprogramm bereits ausformuliert. Es bestand aus folgenden Komponenten:

1)   Die kapitalistische Weltwirtschaft befindet sich im Endstadium ihrer Entwicklung; die Produktivkräfte (das heißt: die internationale Arbeiterklasse und die neuen Produktionstechniken) rebellieren in Krisen, Kriegen und Revolutionen gegen die grundlegenden Institutionen der bestehenden Gesellschaft: gegen das Privateigentum (die Verfügung kleiner Gruppen mächtiger Finanziers über die gesellschaftlichen Produktionsmittel) und gegen den Nationalstaat (der aus einer Entwicklungsform der Produktionsmittel zu deren Zwangsjacke geworden ist).

2)  Es ist möglich, dass in einem rückständigen Land (mit „kombinierter Entwicklung“) ein Minderheiten-Proletariat – im Bunde mit der Mehrheit der Zwischenklassen und geführt von einer antikapitalistisch-internationalistischen Partei – die Staatsmacht erobert und mit deren Hilfe die Wirtschaft der demokratischen Kontrolle der Produzenten und Konsumenten unterwirft. Ob sich eine solche sozialistische Revolution in einem wirtschaftlich zurückgebliebenen Lande halten kann oder durch gegenrevolutionäre Kräfte im Inneren beziehungsweise von imperialistischen Interventionstruppen überwältigt wird, hängt vor allem aber von der Entwicklung in den kapitalistischen Zentren (also in Deutschland, Frankreich, England und den USA) ab.

3)   Die Revolution der internationalen Arbeiterschaft wird eine Revolution der Bevölkerungsmehrheit gegen die Minderheit des besitzenden Bürgertums sein (das sich auf seinen sozialen Anhang und die von ihm kontrollierten Exekutivorgane stützt), oder sie wird nicht sein. Die Arbeiterrevolution (in den höchstentwickelten kapitalistischen Staaten) bedarf nicht des Terrors, der Guillotine, der Straflager und der Erschießungskommandos. Die Selbstbefreiung der internationalen Arbeiterschaft kann nicht an „Stellvertreter“ delegiert werden – terroristische Gruppen, geheime Zirkel von Berufsrevolutionären oder Kaderparteien. Wie schon während der Pariser Kommune (1871) und in der russischen Revolution von 1905 wird sich die Arbeiterschaft neuartige, radikaldemokratische Selbstverwaltungsorganisationen („Räte“) schaffen; diese Räteorgane sind die Keimform eines nachrevolutionären, „absterbenden“ Staates. Die sozialistische Revolution soll die „Verwaltung von Sachen“ an die Stelle der Beherrschung von Menschen setzen. Eine weltweite, demokratisch kontrollierte Bedarfsdeckungswirtschaft soll die Marktwirtschaft, die die Welt in reiche und verelendete Nationen und Klassen aufspaltet, ablösen. Der Staat, der sich (mit Bürokratie, Armee und Polizei) als ein bewaffneter Schiedsrichter über die Klassengesellschaft stellt, soll in die Gesellschaft (als einen „Verein freier Menschen“, Marx) zurückgenommen werden.

Während des 1. Weltkriegs (1914-18) bildete sich innerhalb der II. Internationale, die 1914 in nationale, bellizistische Parteien zerfallen war, ein linker Flügel von pazifistischen und revolutionären Kriegsgegnern heraus, aus dessen verschiedenen Fraktionen bald neue Parteien erwuchsen. Ein Teil der sozialistischen Kriegsgegner gründete 1919 eine neue, „kommunistische“ Internationale, die als „Generalstab der Weltrevolution“ den Befreiungskampf der unterdrückten Mehrheiten in den kapitalistischen Metropolen und in den Kolonialländern koordinieren sollte.

Revolutionsjahr 1917

Trotzki kam im Mai 1917 aus New York nach Petrograd und verbündete sich bald darauf mit Lenin. Beide hatten sich für eine revolutionäre Beendigung des Weltkriegs und dafür ausgesprochen, die revolutionäre Situation in Russland und in anderen Ländern zu nutzen, um erste „Vorposten“ der internationalen Revolution zu errichten. Gegenüber diesen Gemeinsamkeiten erschienen ihnen die fraktionellen Streitigkeiten der Vorkriegszeit als nahezu bedeutungslos. Im Laufe des Sommers und Herbstes 1917 eroberte die bolschewistische Partei (die von 40.000 auf 240.000 Mitglieder anwuchs) mit ihren Losungen „Das Land den Bauern !“, „Frieden ohne Annexionen !“, „Nieder mit den kapitalistischen Ministern !“ (der russischen „Provisorischen Regierungen“) die Mehrheit in den städtischen Arbeiter- und Soldatenräten. Gestützt auf diese Mehrheit organisierte Trotzki im Auftrag des Petrograder Sowjets Anfang November den bewaffneten Aufstand gegen die Regierung Kerenski, der nur wenige Opfer kostete. Die erste Revolutionsregierung, der „Rat der Volkskommissare“, bestand aus einer Koalition der Bolschewiki mit der Bauernpartei der „Linken Sozialrevolutionäre“.

Bürgerkrieg

Im Bürgerkrieg gegen die (von imperialistischen Interventionstruppen unterstützten) weißen, pro-zaristischen Armeen leitete Trotzki seit dem Frühjahr 1918 die Operationen der von ihm organisierten, neuen Roten Armee. Zeitweilig beschränkte sich der Herrschaftsbereich der bolschewistischen Regierung auf die beiden Großstädte Moskau und Petrograd samt ihrem Umland. Das neue Regime verdankte sein Überleben einzig der Unterstützung der minoritären Arbeiterschaft und seinem Rückhalt bei der großen Masse der landhungrigen Bauern.

Aus dem Bürgerkrieg ging die bolschewistische Partei als eine an Gewalt und Gegenterror gewöhnte, paramilitärische Organisation hervor, die als einzig verbliebene politische Organisation anstelle der geschwächten Arbeiterschaft unbeschränkte Kontrolle über Staat und Wirtschaft ausübte und sogar die demokratischen Rechte ihrer eigenen Mitglieder (durch das Fraktionsverbot) empfindlich eingeschränkt hatte. Dass sich hinter der Fassade eines „Arbeiterstaats“ die alte zaristische Bürokratie reproduzierte, wenn auch „ein wenig rot lackiert“, hat Lenin selbst ausgesprochen. Trotzki ging 1923 in Opposition zur nachrevolutionären sowjetischen Bürokratie und ihrer innerparteilichen Repräsentanz, dem Triumvirat Stalin-Sinowjew-Kamenjew. Im Laufe der Fraktionskämpfe der zwanziger Jahre und – nach seiner Deportation in die Türkei im Frühjahr 1929 – im Exil der 1930er Jahre entwickelte er sich zum bedeutendsten Analytiker der Degeneration der russischen Revolution, der Stalinschen Despotie und der konterrevolutionären Auswirkungen der sowjetischen Außenpolitik in China, Deutschland und Spanien.

Wichtige Schriften

In den Jahren 1928-1932, also in der Verbannung in Alma Ata (Kasachstan) und auf der Insel Prinkipo im Marmarameer, schrieb Trotzki seine bedeutendsten Bücher: die Autobiographie Mein Leben und die zweibändige Geschichte der russischen Revolution von 1917, mit der er bewies, dass er Geschichte nicht nur machen sondern auch schreiben konnte. Gleichzeitig analysierte er den Niedergang der Weimarer Republik und den Aufstieg der Hitlerbewegung und rief die Arbeiterorganisationen zur Bildung einer Arbeitereinheitsfront gegen den Faschismus auf. Trotzki war der einzige Soziologe der dreißiger Jahre, der Struktur und Funktion der beiden menschenfressenden totalitären Regime Hitlers und Stalins begriff und sowohl den bevorstehenden Ausbruch eines zweiten Weltkriegs als auch die Ausrottung eines Großteils der europäischen Juden prognostizierte. In einzigartiger Weise verband er seine Gesellschaftsdiagnosen mit praktischen Interventionsvorschlägen, antizipierte Gefahren für die Arbeiterbewegung und ersann politische Praktiken zu deren Abwendung.

Die Stalinisten haben aus Trotzki, der seit den frühen dreißiger Jahren zu einer zweiten, politischen Revolution gegen die sowjetische Bürokratie, Stalin und die GPU aufrief, jahrzehntelang einen Popanz gemacht. Sie haben ihn selbst, die meisten seiner Familienangehörigen und Tausende seiner Anhänger (nicht nur in den dreißiger Jahren, sondern auch noch in den folgenden Jahrzehnten) in der Sowjetunion und in Spanien, in Frankreich und in Amerika diskriminiert, verfolgt und ermordet.

Die alte europäische Arbeiterbewegung der Arbeiter-Massenparteien, der Trotzki, der revolutionäre Literat, angehörte, ist Vergangenheit. Bolschewiki, Trotzkisten und Anarchisten kamen „zu früh“. Ihre Versuche, der verhängnisvollen Entfaltung der kapitalistischen Weltwirtschaft ein Ende zu setzen, scheiterten. Es zeigte sich, dass die Mehrheit der internationalen Arbeiterschaft wohl an Reformen und an der Hebung ihres Lebensstandards interessiert war, aber zögerte, Fabriken, Banken und die Staatsmacht zu erobern, um ihre Selbstbefreiung ins Werk zu setzen. Nahmen die Lohnarbeiter in einer günstigen Situation ihr Geschick einmal in die eigenen Hände (wie in der deutschen Novemberrevolution von 1918 oder 1936 im spanischen Aufstand gegen den Putschgeneral Franco), dann wurde die revolutionäre Bewegung alsbald isoliert und durch konterrevolutionäre Truppen blutig niedergeschlagen. Für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Weltwirtschaft zahlt die Menschheit einen hohen Preis: permanente Kriege und Massaker in allen Weltteilen und die Verelendung eines Fünftels der Weltbevölkerung.

Die russische Oktoberrevolution war nur ein erster, gescheiterter Versuch, über die kapitalistische (Des-) Organisation der Weltwirtschaft, über die Gesellschaft des Hungers, der Kriege und Massaker hinauszukommen. Viele andersartige Emeuten und Revolutionen werden diesem ersten Versuch folgen. Unsere Generation ist nicht nur der Erbe der antiquierten kapitalistischen Institutionen sondern auch der Erbe der gescheiterten antikapitalistischen Reformer und Revolutionäre. Sie wird aus deren Fehlern lernen und den Kampf gegen Ungleichheit und Herrschaft unter Verhältnissen wieder aufnehmen, von denen ihre Vorgänger sich noch nichts träumen ließen.

Zum Weiterlesen:

Das vorliegende Buch bietet einen hervorragenden Überblick über Leo Trotzkis Denken und seine politische Aktivität, die sich vom Anbruch des 20. Jahrhunderts bis zu seiner Ermordung durch Stalins Agenten im Jahr 1940 zieht.
Es beinhaltet eine bedeutende Auswahl an 58 Texten Trotzkis und liegt mit einem erweiterten Register sowie einem neuen Vorwort erstmals seit über 20 Jahren dem deutschsprachigen Publikum vor.

Leo Trotzki - Denkzettel
Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution
AdV-Verlag, 496 Seiten
ISBN 978-3-9502191-4-2
Preis: 24 Euro inkl. Versand

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