Kategorie: Theorie

Wir stellen uns die nationale Frage

Von Schottland über Katalonien bis in die Ukraine rücken nationale Unabhängigkeits- bestrebungen wieder ins Rampenlicht. Unser Autor nimmt das zum Anlass, die marxistische Position zur nationalen Frage zu erläutern.


 

Der Begriff der Nation ist untrennbar mit dem Nationalstaat verbunden. Die Nationalstaaten entstanden im Zuge der bürgerlichen Revolutionen vom 16. bis 19. Jahrhundert, als die aufstrebende bürgerliche Klasse zur Macht kam. Zur Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen Interessen benötigte sie einen Staat, der ihr dafür die notwendigen Bedingungen bereitstellte. Die Nation erwies sich erstens als praktische Ideologie, um das gemeinsame Interesse der Volksmassen gegen den Adel zu begründen und zweitens, um einen einheitlichen Markt mit einem Geld- und Maßeinheitssystem und Steuerhoheit zu schaffen. Später galt es das eigene Territorium gegenüber anderen kapitalistischen Projekten abzustecken. So wurde den frisch geschaffenen BürgerInnen erklärt, dass sie nun Deutsche oder EngländerInnen seien, die die Interessen ihrer Nation bis in den Tod verteidigen mussten.

 

Hier wurden kulturelle Merkmale wie Sprache und gemeinsames Territorium in den Dienst eines politisch-ökonomischen Projekts gestellt. Diese Entwicklung lässt sich jedoch nicht für alle Nationalitäten verallgemeinern. Trotzki erklärt in seiner Theorie der ungleichen und kombinierten Entwicklung, dass in Ländern, die erst durch das Eindringen fremden Kapitals – ob durch offene Kolonialisierung oder Investitionen bzw. „Entwicklungshilfe“ – auf den Pfad einer kapitalistischen Entwicklung gebracht wurden, keine nationale Bourgeoisie entstehen kann, bzw. dass diese durch die Abhängigkeit von ihren „Partnern“ in den entwickelten Ländern keine selbständige Rolle spielen kann. In diesem Fall ist die Nation kein „wirtschaftliches“ Projekt, und Nationalismus gründet sich viel stärker auf eine gemeinsame historische Erfahrung, z.B. Unterdrückung, bzw. Aspekte wie Sprache, Religion oder Territorium. Dies kann man den Nationalismus der Unterdrückten nennen. Er zeigte sich im Prozess der Entkolonialisierung in Ländern wie Korea, Indien oder Ägypten. Hier war die Nation die politische Form des Kampfes für soziale Verbesserungen und gegen Unterdrückung.

 

In einer nationalen Bewegung können sich also ganz verschiedene soziale Inhalte äußern, je nachdem ob es ein Nationalismus der Unterdrückten oder der Unterdrücker ist. Welche Klasse greift Nationalismus auf, und was soll im Namen desselben erreicht werden? Hinter „nationalen Konflikten“ stehen eigentlich immer handfeste (ökonomische) Interessen. In Ländern wie Pakistan mündet dies in brutaler Unterdrückung von Nationalitäten, wobei Menschen ihrer Rechte beschnitten, verfolgt und ermordet werden, damit verfeindete Kapitalfraktionen ihre Profite und Herrschaft durchsetzen können. Als MarxistInnen bekämpfen wir jede Form der Unterdrückung, dazu gehört natürlich auch die Unterdrückung von Nationalitäten. Hier müssen SozialistInnen den Kampf der Unterdrückten unbedingt unterstützen und das Recht auf nationale Selbstbestimmung und ihre Rechte (sprachlich, kulturell...) fordern.

 

Am aktuellen Beispiel der Ukraine sehen wir andererseits faschistische Gruppen, die nach ihrem Putsch im Namen des ukrainischen Nationalismus die Rechte der RussInnen und TartarInnen angreifen. Nun nützt der russische Imperialismus die Angst davor aus, um russischen Nationalismus zu schüren und somit eigene Wirtschaftsinteressen zu sichern. Hier wird seitens der Bürgerlichen gezielt versucht, soziale Unzufriedenheit in rassistische oder nationale Konflikte umzuleiten und diese zu instrumentalisieren. Ein Wechsel der kapitalistischen Ausbeuter wird den Menschen auf der Krim jedoch keine Verbesserung ihrer Lebenssituation bringen.

 

Wir wissen, dass dem Zusammenleben unterschiedlicher Völker unter den richtigen ökonomischen Bedingungen nichts im Weg stünde. Aktuelle Konflikte wie Schottland oder Katalonien zeigen, dass nationale Konflikte dann aufbrechen, wenn die soziale Frage unbeantwortet bleibt und es keine linke Kraft gibt, die den Leuten echte Lösungen für ihre Probleme aufzeigt: Die einzige Antwort auf die soziale Frage ist die Verstaatlichung der Banken und Schlüsselindustrien unter Arbeiterkontrolle, kurz, die Überwindung des Kapitalismus. Dies kann nicht durch neue Grenzen oder Auswechseln der Eliten passieren. Diese schmerzliche Erfahrung werden auch die SchottInnen und KatalanInnen machen, sollten ihre Unabhängigkeitsprojekte Erfolg haben. Hinter dem Nationalismus in solchen Gebieten steht oftmals nicht nur die Unterdrückung von Sprache, Kultur usw., sondern auch der Wunsch der ArbeiterInnen nach sozialen Verbesserungen. Wir wissen, dass diese nur durch einen Kampf gegen den Kapitalismus erreicht werden können. Damit dieser erfolgreich sein kann, muss er von der geeinten Arbeiterklasse getragen werden, denn sie ist die einzige gesellschaftliche Kraft, die die Grenzen des Kapitalismus überschreiten kann. Die Basis für einen gemeinsamen Kampf kann aber nur die Respektierung der Rechte aller Nationalitäten sein. Wir stehen für die Einheit der Bewegung der ArbeiterInnen über nationale Grenzen hinweg, diese Einheit kann aber in der Praxis nur durch einen entschlossenen und gemeinsamen Kampf aller ArbeiterInnen um die umfassendsten Rechte von Angehörigen unterdrückten Nationalitäten hergestellt werden.

 

Wie unterschiedlich die soziale Zusammensetzung und damit auch der Charakter nationaler Bewegungen sein kann, lässt sich gut im Vergleich der ägyptischen Muslimbrüder (MB) und der bolivarischen Bewegung in Venezuela aufzeigen: Beide bedienen sich des Nationalismus und wenden sich in Worten gegen imperialistische Ausbeutung. Die MB konnten einst mit einem Programm der nationalistisch-islamischen Einheit gegen die Kolonialmacht Großbritannien eine große Mitgliedschaft erlangen. Die antiimperialistische Grundstimmung in der Gesellschaft fand damals einerseits in der linken, kommunistischen Arbeiterbewegung, sowie andererseits in der MB ihren Ausdruck. Als bürgerlich-religiöse Organisation, die v.a. die Interessen der Mittelschicht repräsentierte, vertrat die MB aber eine klar antikommunistische Haltung. Während der Herrschaft Gamal Abdel Nassers von 1952-70, der mit seiner antikapitalistischen Politik die Interessen des Unternehmertums verletzte, wurde die MB von der CIA unterstützt, um gegen Nasser zu arbeiten. Als sie 2012 durch die ägyptische Revolution zur Macht kam, versuchte sie wieder, die nationale Einheit zu beschwören, tat nichts, um die soziale Frage zu lösen und wurde dafür prompt gestürzt, weil sie die Hoffnungen der ägyptischen Bevölkerung auf ein besseres Leben mit ihrem neoliberalen Programm verraten hatte.

 

Im Gegensatz dazu ist die PSUV, die Venezuela regiert, der Ausdruck einer sozialen Massenbewegung, die unter Führung von Hugo Chávez einen antikapitalistischen Kampf aufgenommen hat, der bis heute andauert. Der Nationalismus der bolivarischen Bewegung ist aus seiner Entstehung heraus mit dem Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung verbunden. Die Bestimmung über das eigene Schicksal ist sein prägendes Element. Das „Vaterland“ soll die darin lebenden Menschen glücklich machen, indem man es sich „zurückerobert“. Das hat real Millionen von Menschen aus Resignation und Armut geholt und zu aktiver Teilnahme am politischen Geschehen befähigt. Damit unterscheidet sich der bolivarische Nationalismus von bürgerlichem Gerede von einer „nationalen Einheit“, bei der Passivität und Unterordnung im Namen der Nation gefordert wird, und von Menschen erwartet wird, dass sie in Kriege ziehen oder Sparpakete auf sich nehmen, um dem Land zur „Größe“ zu verhelfen. Will die Bewegung in Venezuela nicht scheitern, muss sie in der direkten Konfrontation mit der eigenen Bourgeoisie, deren Entmachtung und somit der Vollendung der Revolution münden. Dabei ist es allerdings unerheblich, ob dies marxistisch oder nationalistisch begründet wird.

 

Die nationale Frage wird uns in unserem Kampf gegen das ausbeuterische System, in dem wir leben, immer begleiten. In einer sozialistischen Gesellschaft, die nicht auf Ausbeutung und Konkurrenz basiert, wird einem respektvollen und solidarischen Zusammenleben verschiedener Kulturkreise nichts mehr im Wege stehen. Bis dahin müssen wir nationale Bewegungen nach ihrem sozialen Gehalt beurteilen und zielführende Forderungen aufstellen. In diesen Bewegungen müssen wir das proletarische Element unterstützen, und verhindern, dass Menschen, die sich gegen Unterdrückung zur Wehr setzen wollen, mit Sündenbock-Ideologien geblendet werden.

 

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