Kategorie: Theorie

Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution? Teil I

Eine Lektüre wider den reformistischen Geist.


(Methodische Vorbemerkung: Ich werde im Folgenden ausgiebig aus den Originaltexten zitieren. Mein Ziel ist es, den Leser mit letzteren so weit als möglich bekannt zu machen, damit dieser sich selbst ein halbwegs verlässliches Bild machen kann. Deswegen lasse ich auch Eduard Bernstein zu Wort kommen, von dem man letztlich zu wenig weiß, der aber - obwohl er später politisch isoliert war und als Person vereinsamt lebte - eine bedeutende Wirkung in der Arbeiterbewegung erzielte. Der auf sein Plädoyer für den Reformismus (1897/98) zurückgehende und in der Sozialdemokratie heftig geführte "Revisionismusstreit" schien zwar bis spätestens 1905 zugunsten einer marxistischen Position beigelegt worden zu sein, der Revisionismus hatte aber schon so viele Anhänger gewonnen, dass die Sozialdemokratie zwar auf der einen Seite marxistisch argumentierte, aber auf der Seite der politischen Praxis zunehmend im Sinne des reformistische Revisionismus agierte. Kurz und gut: Die Sozialdemokratie redete noch lange mit marxistischer Zunge, dachte und werkelte aber schon ebenso lange unter revisionistischer Flagge. Rosa Luxemburgs "Sozialreform oder Revolution?" war bereits 1899 der Versuch, dem, was sich da mit verheerenden Folgen anbahnte, entgegenzutreten. Ich werde - was sich von selbst versteht - auch sie ausgiebig zitieren, um so genau als möglich ihre Position zum sich Bahn brechenden Revisionismus zu skizzieren. Ich will dadurch auch das Bild korrigieren, das aus ihr eine soziale Demokratin zu machen wünscht und die Augen davor verschließt, dass sie eine kommunistische Revolutionärin war, wie es im Buche steht. Wenn sich DIE LINKE. auf sie berufen zu können glaubt, sollte sie nicht vergessen, dass Rosa Luxemburg mit der hier besprochenen Schrift ein Manifest gegen den Reformismus geschrieben hat und nicht von letzterem als Kronzeugin in eigener Sache in den Zeugenstand gerufen werden kann. Das darf sich schon gar nicht jene ökonomistische Position erlauben, die in der LINKEN zur Zeit und wahrscheinlich bis auf weiteres die Hegemonie besitzt, der sogenannnte Neokeynesianismus. Seine in der LINKEN herrschende Dominanz ist es, die es meiner Meinung nach dringend notwendig macht, wieder das Manifest Rosa Luxemburgs gegen den Reformismus zu studieren. Ich hoffe, dass es der Leser für sinnvoll und anregend finden kann, meiner Lektüre seine Aufmerksamkeit zu schenken und sie wenn nötig dort zu korrigieren, wo sie fehlerhaft ist. Das wird sicherlich an nicht wenigen Stellen der Fall sein. Noch eins zum Abschluss dieser Vorbemerkung: Wenn man versucht, mit Rosa Luxemburg den Reformismus kritisch gegenzulesen und sich zu diesem Zweck mit Bernsteins Revision des Marxismus beschäftigt, ist es auch notwendig klar zu machen, dass der Neokeynesianismus in der Tradition dieser Revision steht, sich aber für den letzten theoretischen Schrei hält, der sich noch dazu zur politischen Führung berufen fühlt. Schon allein aus diesem Grunde beginne ich meine Lektüre mit einer kritischen Betrachtung zum Bestseller "Freiheit statt Kapitalismus" von Sarah Wagenknecht.

1. Der Anlass zur Lektüre: Sarah Wagenknechts Utopie von der "Marktwirtschaft" bzw. dem Kapitalismus, der zum Sozialismus wird

Es geht ein Geist herum bei den LINKEN. Dieser Geist ist der Geist des Neokeynesianismus. Und leider ist dieser Geist kein Gespenst, sondern er hält ganz real - von ihrem Kopf her - die LINKE in seinen Klauen, so dass sie, gestützt durch das Korsett einer sich höchst modern dünkenden Theorie - eben des Neuaufgusses von Keynes - meint, sie habe nun endlich wieder einen gangbaren Weg zum Sozialismus gefunden. Einen Weg, der uns Schritt für Schritt auf dem Weg von Reformen dem Ziel näher bringt. Einen Weg überdies, der, wenn sie es nur recht begriffe, letztlich auch im Sinne der bürgerlichen Gesellschaft wäre. Wieso? Weil er sich der Utopie der Marktwirtschaft verpflichtet weiß, bzw. gegen den heutigen raffgierigen Kapitalismus die "positiven Ideen der Marktwirtschaft" (Sahra Wagenknecht: Freiheit statt Kapitalismus. Frankfurt 2011, S.8) einklagt. "Die Ansprüche, mit denen die bundesdeutsche Gesellschaft einst - nach den schlimmen Erfahrungen von Weltwirtschaft, Nazidiktatur und Krieg - in die Nachkriegszeit gestartet" sei, seien heute vergessen. " 'Wohlstand für alle' war das große Versprechen Ludwig Erhards und der sozialen Marktwirtschaft. Jeder Mensch sollte sein Leben mit annähernd gleichen Chancen beginnen und bei Krankheit und im Alter sozial abgesichert sein. Das privatwirtschaftliche Eigentum sollte, durch Markt und Wettbewerb gelenkt und durch den Sozialstaat gezähmt, Wachstum und Produktivität garantieren sowie eine anpassungsfähige, am realen Bedarf ausgerichtete Wirtschaft" (ibid). Woraus für die prominenteste Wortführerin des Neokeynesanismus inner halb der LINKEN, für Sahra Wagenknecht, folgt: "Und es wird Zeit zu zeigen, wie man, wenn man die originären marktwirtschaftlichen Ideen zu Ende denkt, direkt in den Sozialismus gelangt, einen Sozialismus, der nicht Zentralismus, sondern Leistung und Wettbewerb hochhält" (Freiheit statt Kapitalismus, S.12). "Erhard reloaded: Wohlstand für alle, nicht irgendwann, sondern jetzt!" (Freiheit statt Kapitalismus, S.347ff) ist denn auch das Motto ihres die Utopie der sozialen Markwirtschaft austragenden Neokeynesanismus. Wenn wir zu Erhard zurückkehren und dessen Ideen zu Ende denken, dann kommen wir an den "tipping point", wo der Kapitalismus schiedlich friedlich von sich aus in den Sozialismus hinüberwächst. Und der besteht - wie es das Motto ja sagt - im "Wohlstand für alle".

In dem "Fazit" ihres Buches "Freiheit statt Kapitalismus" schreibt Sarah Wagenknecht, welche Wirtschaftsweise den "Wohlsstand für alle" letztlich hervorbringen und erhalten soll. Sie nennt sie "kreativen Sozialismus" (Freiheit statt Kapitalismus, S.344). Sie schreibt dazu: "Wirtschaftliche Ressourcen der Gesellschaft in das Belieben privater Eigentümer zu stellen wurde traditionell damit gerechtfertigt, dass Markt und Wettbewerb mit unsichtbarer Hand die eigensüchtigen Bestrebungen in eine dem Allgemeinwohl nützliche Richtung leiten würden. Wo das nicht funktioniert, verliert das private Wirtschaftseigentum seine Legitimität. Der Gründungsunternehmer im Schumpeter'schen Sinn ist eine Quelle von Innovation, technologischem Fortschritt und ökonomischer Anpassungsfähigkeit. Ein kreativer Sozialismus muss solche echten Unternehmer unterstützen, statt ihnen - wie der heutige Kapitalismus - Steine in den Weg zu legen" (ibid).

Folglich ist die letztendliche Schlussfolgerung aus ihren Überlegungen: "Kreativer Sozialismus hat sich von der Idee des planwirtschaftlichen Zentralismus verabschiedet. Er will mehr Wettbewerb, nicht weniger. Aber dort, wo lediglich Pseudowettbewerb stattfindet, weil natürliche Monopole oder Oligopole ihre Marktmacht zur Wettbewerbsverhinderung einsetzen, ist die öffentliche Hand gefordert. Es gibt Marktwirtschaft ohne Kapitalismus und Sozialismus ohne Planwirtschaft" (Freiheit statt Kapitalismus, S.345).

Was immer auch unter "natürlichen Monopolen oder Oligopolen" zu verstehen sei - weil doch, wenn diese als "natürlich" gelten müssten, gegen sie ohnehin kein Kraut gewachsen wäre - , so unterstellt Wagenknechts Schlussfolgerung die Möglichkeit, man könnte die Ergebnisse der kapitalistischen Produktionsweise zurückfahren. Aber nicht nur das: Sie unterstellt sogar, dass man wieder an den Anfang der Entwicklung dieser Produktionsweise zurückkehren könnte, bis dahin, wo sie noch nicht Kapitalismus, sondern "Marktwirtschaft" gewesen sei. Wohin will Sarah Wagenknecht gelangen? Zu einer Wirtschaftsweise, die "Marktwirtschaft" ist, ohne weiter Kapitalismus zu sein. Um dies begrifflich scharf stellen zu können, bedient sie sich des Beispiels des Schumpeter'schen "Gründungsunternehmers", dieser "Quelle von Innovation, technischem Fortschritt und ökonomischer Anpassungsfähigkeit". Dessen ökonomische Tätigkeit habe durchaus dem "Allgemeinwohl" genutzt und sei nicht in der Weise durch "eigensüchtige Bestrebungen" korrumpiert gewesen, wie man das heute leider konstatieren müsse.

"Marktwirtschaft ohne Kapitalismus", das ist das Ziel, das Sahra Wagenknecht politisch und ökonomisch vorschwebt. Zu diesem Zweck bemüht sie den Begriff der "sozialen Marktwirtschaft", den z.B. Erhard benutzte, um nicht, was nach dem Krieg nicht so gut angekommen wäre, vom Kapitalismus zu sprechen. Nicht davon, dass es darauf ankäme, ihn wieder auf die Beine zu stellen. Was er ja letztlich denn doch tat.

Was aber aus methodischer Sicht noch wichtiger ist, ist, dass Sahra Wagenknecht davon absieht, dass die sogenannte "soziale Marktwirtschaft" nach dem Krieg gar kein Neubeginn war und auch nicht sein konnte. Die alte Elite war nicht verschwunden, wenn auch wohl personell ausgedünnt. Die wirtschaftlichen Kontakte mit dem weltweiten Finanzkapital waren nach wie vor vorhanden. Und der nur scheinbare Neubeginn war in die Strategie dieses Kapitals eingebettet, seine Macht bzw. seinen Einflussbereich auszudehnen, zumindest aber so weit als möglich zu sichern. Das deutsche Kapital stand überdies nach der Niederlage der nationalsozialistischen Diktatur vor der günstigen Situation, nun, nachdem die industriellen Produktivkräfte z.T. zerstört bzw. vernutzt waren und der Wert der Arbeitskraft nahezu auf Null gesunken war, aber zugleich eine hochqualifizierte Arbeiterschaft darauf wartete, in Lohn und Brot zu kommen, mit einem neuen Wirtschaftszyklus und enormen Wachstumsraten zu beginnen. Dieses "Wirtschaftswunder", das durch keynesianistische Maßnehmen unterstützt wurde, dauerte mehr oder weniger bis zu dem schrittweisen, aber nachhaltigen neoliberalistischen Umbau der kapitalistischen Weltwirtschaft an.

Kurzum: Sarah Wagenknecht abstrahiert von der konkreten historischen Situation, in die der Kapitalismus in Deutschland nach dem Kriege gekommen war, und kann dadurch - da sie ja vom Kapitalismus abstrahiert - folgern: "Es gibt Marktwirtschaft ohne Kapitalismus". Die Tatsache, dass der Kapitalismus historisch zurückgeworfen zu sein schien und es den Anschein machte, er sei zur "Markwirtschaft" zurückgekehrt, wird von Sarah Wagenknecht zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zur "Marktwirtschaft ohne Kapitalismus" erhoben. Dass diese von ihr unterstellte "Marktwirtschaft" selbstverständlich wie das funktionierte, was sie war, nämlich genau so, wie der Kapitalismus nun einmal funktioniert, bleibt in ihrem Schlagwort unbedacht. Dass die von ihr als "Marktwirtschaft" apostrophierte Wirtschaftsweise nämlich nicht nur "Monopole" und "Oligopole" aus sich hervorbrachte, sondern noch dazu z.T. schon eine hochzentralisierte und konzentrierte Struktur besaß, wird so aufgefasst, als ob diese Entwicklung eine Aberration gewesen sei und nicht etwa so erfolgen musste. Sie war selbstverständlich keine Aberration, sondern sie erfolgte zwangsläufig. Gemäß den objektiven Gesetzen, die das Kapital kennzeichnen.

Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die Vorstellung Sarah Wagenknechts zu betrachten, es gäbe einen Kapitalismus, der kein Kapitalismus sei, sondern "Marktwirtschaft", und der "kreative Sozialismus", der ein marktwirtschaftlicher sei, habe sein ihn stimulierendes Element im ungehinderten "Wettbewerb". Was meint sie mit "Wettbewerb"? Den "Wettbewerb" um die besten technischen Lösungen, die besten und am wenigsten ökologisch belastenden Produkte usw.? Wer sollte das nicht für gut halten?

In welchem Rahmen aber soll dieser "Wettbewerb" stattfinden? Unter der Bedingung der weiteren Geltung des Wertgesetzes? Unter der Bedingung des daraus folgenden Profitprinzips? Unter der Bedingung miteinander konkurrierender Kapitale? Also unter der Bedingung des Zwangs, zumindest zum Erwirtschaften des gesellschaftlichen Durchschnittsprofits fähig zu sein? Letztlich sogar unter der Bedingung des tendenziellen Falls der Profitrate? Sollte das alles zutreffen, dann wäre ein solcher von Wagenknecht favorisierter "Wettbewerb" gar nicht möglich. Dann ginge es wie immer im Kapitalismus um die Vernichtung der Konkurrenten usw. und nicht um "Wettbewerb".

Aber Sarah Wagenknecht hat da die Auskunft des konservativen Management-Theoretikers Fredmund Malik parat, der da meint, der "wirkliche Zweck" eines "Unternehmens sei es, "durch seine Marktleistung zufriedene Kunden zu schaffen" (zitiert bei Sarah Wagenknecht S.307). Und der da entgegen den herrschenden Shareholder-Philosophien der Überzeugung ist: "Gewinn als oberstes Ziel zerstört die Ertragskraft eines Unternehmens und führt zwangsläufig zu seinem Ruin" (ibid). "Die für Malik entscheidende Frage" sei es: "Welches Minimum an Gewinn benötigt das Unternehmen, um auch morgen noch im Geschäft zu sein?" (ibid). Woraus für ihn folgt: "Echte Unternehmer" "maximieren ihre Markstellung und nicht ihr Wachstum. Sie maximieren den Kundennutzen und nicht die Eigenkapitalrendite" (ibid). "Echte Unternehmer" handeln so, unechte nicht. Und alle, die den Gewinn ihres Unternehmens im Blick haben und dem systemischen Zwang bei Strafe des Bankrotts Folge leisten und sich darum bemühen, so viel Gewinn zu erzielen wie nur möglich, sind unechte "Unternehmer". Sie unternehmen nichts Rechtes.

Was bedeutet: Alle "Unternehmer", deren Unternehmungen außerhalb des Geltungsbereichs der Kapitaldynamik stattfinden, sind "echt". Aber sind sie, wenn sie ihre Produkte auf den Markt bringen, außerhalb des genannten Geltungsbereichs? Gelten für sie nicht auch immer und notwendig die Gesetze der Kapitalverwertung?

Auch davon abstrahiert Sarah Wagenknecht.
Und wie kriegt man nun eine solche "Marktwirtschaft", einen solchen Kapitalismus hin, der kein Kapitalismus ist, weil für ihn z.B. die objektiven Gesetze der Kapitalverwertung nicht gelten? Nun, ganz einfach: Man kriegt das hin, wenn das "privatwirtschaftliche Eigentum", "durch den Sozialstaat" gezähmt, dazu gezwungen ist, "Wachstum und steigende Produktivität" ohne die heute üblichen sozialen und ökologischen Folgen zu generieren. Mit anderen Worten: Man kriegt das hin, wenn der "Sozialstaat" als oberster Regulator auftritt, als Interessenvertretung der Allgemeinheit sozusagen und nicht als geschäftsführender Ausschuss des Kapitals. Man kriegt das hin, wenn der "Sozialstaat" als "Wirklichkeit der sittlichen Idee" auftritt, wie das Hegel formulierte. Kurz: Man kriegt das hin, wenn die Ökonomie staatlicher Sittlichkeit unterworfen wird, die dafür sorgt, dass die Gewinne nicht unstatthaft in die Höhe schießen, die "Unternehmer" redlich ("echt") handeln , die Produktion ökologisch verträglich abläuft ist usw. usf. Man kann auch sagen: Man kriegt das hin, wenn sich die ökonomische Tätigkeit letztlich an dem "Gebrauchswert" der Produkte ausrichtet. Aber dann liegt im strengen Sinn keine "Marktwirtschaft" mehr vor. Jedenfalls ist dann der antinomische Widerspruch zwischen "Gebrauchswert" und "Tauschwert" aufgehoben, von dem her Marx seinen Begriff des Kapitals entwickelt (siehe Karl Marx: Das Kapital. Bd.1. MEW 23, S.49ff).

Wovon Sarah Wagenknecht letztlich abstrahiert, ist selbstverständlich die Marxsche Kapitalanalyse.

Sie misst sich gar nicht erst an ihr. Für den "kreativen Sozialismus" ist es offensichtlich überflüssig, ja es ist ganz und gar kein Thema, auf Marx zu sprechen zu kommen. Der linke Keynesianismus von Sarah Wagenknecht ist daher eine ganz explizite Form des Revisionismus bzw. des revisionistischen Reformismus.

Was ist nun der "Sozialismus ohne Planwirtschaft", von dem sie spricht? Er ist eine "Marktwirtschaft", die etwas anderes sein soll als Kapitalismus, aber dessen objektive Gesetzmäßigkeiten sie de facto nicht außer Kraft gesetzt hat. Knapper: Er ist verniedlichter, weil durch den "Sozialstaat" "gebändigter" Kapitalismus.

Um mit Marx auf Sarah Wagenknecht zu antworten: " Stellen wir uns endlich, zur Abwechslung, einen Verein freier Menschen vor, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben... Das Gesamtprodukt des Vereins ist ein gesellschaftliches Produkt. Ein Teil dieses Produkts dient wieder als Produktionsmittel. Er bleibt gesellschaftlich. Aber ein anderer Teil wird als Lebensmittel von den Vereinsgliedern verzehrt. Er muß unter sie verteilt werden. Die Art dieser Verteilung wird wechseln mit der besondren Art des gesellschaftlichen Produktionsorganismus selbst und der entsprechenden geschichtlichen Entwicklungshöhe der Produzenten. Nur zur Parallele mit der Warenproduktion setzen wir voraus, der Anteil jedes Produzenten an den Lebensmitteln sei bestimmt durch seine Arbeitszeit. Die Arbeitszeit würde also eine doppelte Rolle spielen. Ihre gesellschaftlich planmäßige Verteilung regelt die richtige Proportion der verschiedenen Arbeitsfunktionen zu den verschiedenen Bedürfnissen. Andrerseits dient die Arbeitszeit zugleich als Maß des individuellen Anteils des Produzenten an der Gemeinarbeit und daher auch an dem individuell verzehrbaren Teil des Gemeinprodukts. Die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zu ihren Arbeiten und ihren Arbeitsprodukten bleiben hier durchsichtig einfach in der Produktion sowohl als in der Distribution" (MEW 23, S.92f).

Das, was Marx hier zum "Verein freier Menschen" sagt, nämlich dass sie "mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben", ist die Marxsche Definition des Sozialismus. Was die Textstelle danach vorbringt, ist das Konzept einer demokratischen Planwirtschaft. Ohne eine solche Planwirtschaft kann es keinen Sozialismus geben, denn nur dann, wenn sie erkämpft worden ist, ist der Kapitalismus tatsächlich überwunden.

Davon will der revisionistische Reformismus nichts wissen. Sarah Wagenknecht möge dafür als ein herausragendes Beispiel gelten.
Sehen wir aber nun zu, wie Rosa Luxemburg mit dem ersten kohärenten Ansatz des revisionistischen Reformismus umgegangen ist, dem Ansatz Eduard Bernsteins.. Wenden wir uns also ihrer Schrift "Sozialreform oder Revolution?" von 1899 zu.

2. Der Vorläufer: Eduard Bernstein als der erste entschiedene Vertreter des Reformismus innerhalb der Sozialdemokratie

"Nach Bernstein", auf dessen Aufsatzreihe "Probleme des Sozialismus" in der "Neuen Zeit" (16. Jahrgang 1897/98) Rosa Luxemburg reagiert, "wird ein allgemeiner Zusammenbruch des Kapitalismus mit dessen Entwicklung immer unwahrscheinlicher, weil das kapitalistische System einerseits immer mehr Anpassungsfähigkeit zeigt, andererseits die Produktion sich immer mehr differenziert" (Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution? In: Ausgewählte politische Schriften in drei Bänden. Bd.1. Frankfurt 1971, S.51). "Die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus", fasst Luxemburg zusammen, "äußert sich nach Bernstein erstens in dem Verschwinden der allgemeinen Krisen, dank der Entwicklung des Kreditsystems, der Unternehmerorganisationen und des Verkehrs sowie des Nachrichtendienstes, zweitens in der Zähigkeit des Mittelstandes infolge der beständigen Differenzierung der Produktionszweige sowie der Hebung großer Schichten des Proletariats in den Mittelstand, drittens endlich in der ökonomischen und politischen Hebung der Lage des Proletariats infolge des Gewerkschaftskampfes" (ibid). Daraus ergebe sich für Bernstein die "allgemeine Weisung" an die Sozialdemokratie, dass sie ihre Tätigkeit "nicht auf die Besitzergreifung der politischen Staatsmacht, sondern auf die Hebung der Lage der Arbeiterklasse" auszurichten habe und dass sie "die Einführung des Sozialismus" nicht durch eine "soziale und politische Krise", sondern allein auf dem Wege einer "schrittweisen Erweiterung der gesellschaftlichen Kontrolle" und einer "stufenweisen Durchführung des Genossenschaftlichkeitsprinzips" (ibid) zu erwarten habe.

Lassen wir aber Bernstein selbst zu Wort kommen. Er schreibt: "Wenn man unter Verwirklichung des Sozialismus die Errichtung einer in allen Punkten streng kommunistisch geregelten Gesellschaft versteht, so trage ich allerdings keine Bedenken zu erklären, daß mir dieselbe noch in ziemlich weiter Ferne zu liegen scheint. Dagegen ist es meine feste Überzeugung, daß schon die gegenwärtige Generation noch die Verwirklichung von sehr viel Sozialismus erleben wird, wenn nicht in der patentierten Form, so doch in der Sache. Die stetige Erweiterung des Umkreises der gesellschaftlichen Pflichten, d.h. der Pflichten und korrespondierenden Rechte der Einzelnen gegen die Gesellschaft und der Pflichten der Gesellschaft gegen die Einzelnen, die Ausdehnung des Aufsichtsrechts der in der Nation oder im Staat organisierten Gesellschaft über das Wirtschaftsleben, die Ausbildung der demokratischen Selbstverwaltung in Gemeinde, Kreis und Provinz und die Erweiterung der Aufgaben der Verbände - alles das heißt für mich Entwicklung zum Sozialismus oder, wenn man so will, stückweise vollzogene Verwirklichung des Sozialismus. ... Es ist aber auch, sobald die Gemeinschaft von ihrem Rechte der Kontrolle der wirtschaftlichen Verhältnisse gehörigen Gebrauch macht, die faktische Überführung von wirtschaftlichen Unternehmungen in öffentlichen Betrieb nicht von der fundamentalen Bedeutung, wie man gewöhnlich glaubt. In einem guten Fabrikgesetz kann mehr Sozialismus stecken als in der Verstaatlichung einer ganzen Gruppe von Fabriken.

Ich gestehe offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter 'Endziel des Sozialismus' versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles. Und unter Bewegung verstehe ich sowohl die allgemeine Bewegung der Gesellschaft, d.h. den sozialen Fortschritt, wie die politische und wirtschaftliche Agitation und Organisation zur Bewirkung dieses Fortschritts.

Die Sozialdemokratie hat also danach den baldigen Zusammenbruch des bestehenden Wirtschaftssystems, wenn er als Produkt einer großen verheerenden Geschäftskrise gedacht wird, weder zu gegenwärtigen noch zu wünschen. Was sie zu tun, und noch auf lange Zeit hinaus zu tun hat, ist die Arbeiterklasse politisch zu organisieren und zur Demokratie auszubilden, und für alle Reformen im Staate zu kämpfen, welche geeignet sind, die Arbeiterklasse zu heben und das Staatswesen im Sinne der Demokratie umzugestalten" (Eduard Bernstein: Die Zusammenbruchstheorie und die Kolonialpolitik. In: Die Neue Zeit, 1898, 16.Jg., Bd. I, S.94f).

Es ist nicht unwichtig, noch folgende Ausführungen Bernsteins zur Kenntnis zu nehmen. Zunächst zur Demokratie: "Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus ..." Warum? Weil die Demokratie "prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft ist, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist ..." Und wie geht das? Indem die "Parteien und die hinter ihnen stehenden Klassen" im Rahmen der Demokratie "bald die Grenzen ihrer Macht" kennenlernen "und sich jedesmal nur so viel vornehmen, als sie nach Lage der Umstände vernünftigerweise hoffen können, durchzusetzen, ..." Erfolgt also die "Aufhebung der Klassenherrschaft" durch den der Demokratie unterstellten unvermeidlichen Kompromiss? Genau, sagt Eduard Bernstein: Die "Demokratie ist die Hochschule des Kompromisses". Keine Klasse kann der anderen ihren Willen und ihre Ziele aufzwingen. Deswegen hat das Wahlrecht auch eine so überaus große Bedeutung, denn das "Wahlrecht der Demokratie macht seinen Inhaber virtuell zu einem Teilhaber am Gemeinwesen ..." Nur das? Nein, sagt Bernstein, denn "diese virtuelle Teilhaberschaft muß auf die Dauer zur tatsächlichen Teilhaberschaft führen ..." Schon allein deswegen habe sich die Sozialdemokratie "rückhaltlos", "auch in der Doktrin", "auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts" und der Demokratie zu stellen, "mit allen sich daraus für die Taktik ergebenden Konsequenzen. ..."

Was folgt aus diesem "rückhaltlosen" Bekenntnis zur Demokratie ("taktisch" =) strategisch? Es folgt daraus, dass die Sozialdemokratie nicht mehr an der "Phrase von der Diktatur des Proletariats" festhalten darf. Denn wie könnte man an dieser "Phrase" noch festhalten. "wo an allen möglichen Orten Vertreter der Sozialdemokratie sich praktisch auf dem Boden der parlamentarischen Arbeit, der zahlengerechten Volksvertretung und der Volksgesetzgebung stellen", was ja nun ganz und gar einer solchen "Diktatur" widerspricht? Daher geht, so Bernstein, die "ganze praktische Tätigkeit der Sozialdemokratie" darauf hinaus, "Zustände und Vorbereitungen zu schaffen, die eine von konvulsivischen Ausbrüchen freie Überführung der modernen Gesellschaftsordnung in eine höhere ermöglichen und verbürgen sollen. ...

Kein Mensch denkt daran, die bürgerliche Gesellschaft als einem zivilistisch geordneten Gemeinwesen an den Leib zu wollen. Im Gegenteil. Die Sozialdemokratie will nicht diese Gesellschaft auflösen und ihre Mitglieder allesamt proletarisieren, sie arbeitet vielmehr unablässig daran, den Arbeiter aus der sozialen Stellung des Proletariers zu der eines Bürgers zu erheben und so das Bürgertum oder Bürgersein zu verallgemeinern" (Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie. Stuttgart 1899, S.124ff).

Es gehört in diesen Zusammenhang, dass er Marx und Engels, wenn auch in "modifizierter Form", "blanquistischer Vorstellungen" (Eduard Bernstein: Parlamentarismus und Sozialdemokratie. Berlin 1906, S.39) bezichtigt. Daher hätten sie gemäß der jakobinischen Überlieferung und gestützt auf Blanqui lange Zeit für eine "auf die vorgeschrittenen Elemente des Proletariats gestützte zentralistische Diktatur" (ibid) votiert. So wären sie dafür eingetreten, die "Staatsmacht zu erobern und ihren ganzen Apparat zielbewußt mit revolutionären Mitteln für die Zwecke der Revolution zu verwenden, ..." (a.a.O., S.37). Kurz: Sie hätten die "Schaffung einer terroristisch agierenden revolutionären Zentralgewalt" (ibid) für notwendig gehalten. Dies mag, so Bernstein, einst als Reaktion auf den Staatsstreich des Louis Napoleon verständlich gewesen sein, also darauf, dass die Massen, nachdem ihnen das Wahlrecht zurückgegeben worden war, wie dankbare Kinder bonapartistisch wählten, und so das allgemeine Wahlrecht von Grund auf diskreditiert zu sein schien. Damals hätte unter den Sozialisten ein "starkes Mißtrauen gegen die Masse der Wähler" (a.a.O., S.37) um sich gegriffen. Dazu wäre nun beileibe kein Grund mehr. Heutzutage (1906!) wäre die Sozialdemokratie in der Lage, als Vertreter der lohnabhängigen Massen in den Parlamenten deren Interessen zur Sprache zu bringen und per demokratischem "Kompromiss" die Ausübung der Macht einer Klasse über die andere ziemlich weitgehend zu verhindern.
So weit zu Eduard Bernstein.

Teil II.

 

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