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Die Krise des Kapitalismus und unsere Aufgaben – Deutsche Perspektiven 2013 |
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Wer die Gesellschaft verändern will, braucht klare Perspektiven und muss sich auf bevorstehende Ereignisse, Tendenzen und plötzliche Wendungen und Überraschungen vorbereiten. So wie ein Wanderer in unwegsamem Gelände Kompass und Landkarte braucht, Wettersignale verstehen und sich mit Ausrüstung und Proviant auf alle Eventualitäten einrichten sollte, müssen sich Revolutionäre theoretisch und praktisch auf die vor ihnen liegenden Aufgaben vorbereiten. Wir dürfen uns nicht mit oberflächlichen Momentaufnahmen zufrieden geben, sondern müssen Erscheinungen als Prozesse betrachten. |
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Wer die Gesellschaft verändern will, braucht klare Perspektiven und muss sich auf bevorstehende Ereignisse, Tendenzen und plötzliche Wendungen und Überraschungen vorbereiten. So wie ein Wanderer in unwegsamem Gelände Kompass und Landkarte braucht, Wettersignale verstehen und sich mit Ausrüstung und Proviant auf alle Eventualitäten einrichten sollte, müssen sich Revolutionäre theoretisch und praktisch auf die vor ihnen liegenden Aufgaben vorbereiten. Wir dürfen uns nicht mit oberflächlichen Momentaufnahmen zufrieden geben, sondern müssen Erscheinungen als Prozesse betrachten.
Der Überschuss an Kapital, das in der Industrie nicht profitabel investiert werden kann, führt zu einem gewaltigen Anstieg der Privatvermögen, die in Immobilien- oder Geldvermögen existieren. Meldung in der FAZ vom 31.5.13: „Der Club der deutschen Millionäre ist um 9 Prozent gewachsen.“ Das deutsche Exportkapital konnte seine Leistungsbilanzüberschüsse nur erwirtschaften, weil sich andere Länder dafür verschuldeten. Und die südeuropäischen „Schuldenländer“ haben in der Vergangenheit besonders vom Euro profitiert, weil die Verschuldung aufgrund der sinkenden Zinslast jahrelang kein Problem darzustellen schien. Somit nährte man die Blasenbildung auf den Immobilienmärkten, wobei der Bausektor als Motor des Wirtschaftswachstums wirkte. Noch vor ein paar Jahren war Deutschland der „kranke Mann Europas“, während Länder wie Spanien und Irland ein starkes Wirtschaftswachstum verzeichneten. Irland wurde auch als „keltischer Tiger“ bezeichnet.
Bis zur Krise hörte man unter WissenschaftlerInnen oft, dass die Länder sich von einer Industrie- hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft entwickeln würden und sollten. Inzwischen wird ein starkes industrielles Rückgrat als notwendig für eine wirtschaftliche Erholung angesehen. Für MarxistInnen ist das nichts Neues. Wie tiefgreifend der Prozess der Deindustrialisierung der alten Industrieländer ist, zeigen diese Zahlen: Großbritannien, das Ursprungsland der industriellen Revolution, hatte Mitte der 1990er Jahre noch einen Anteil des verarbeitenden Gewerbes von 21 Prozent am BIP, 2013 sind es weniger als 13 Prozent. In Frankreich sank der Industrieanteil von 18 auf 12,5 Prozent. In den USA beträgt er heute noch ca. 11 Prozent. Hingegen hat die Industrie in Deutschland mehr Gewicht behalten. Ihr Anteil liegt bei 26 Prozent.
Die Kluft in der Industrieproduktion zwischen Deutschland und diesen Ländern wird weiter wachsen, da die von Berlin und der Troika verordneten Kürzungsmaßnahmen die Lage dort weiter verschlimmern und einer weiteren Deindustrialisierung Vorschub leisten werden. Die soziale Verelendung wird in diesen Ländern weiter zunehmen. Diese Entwicklung wird die Vorherrschaft Deutschlands in der EU verstärken. Auf dem EU-Gipfel Ende 2011 wurde dies bestätigt: Sparzwang und die Aushöhlung der staatlichen Souveränität mittels Entsendung von EU-Sparkommissaren werden auf deutsche Initiative hin in die EU-Verträge einfließen.
Diese Politik untergräbt aber langfristig die Grundlage der exportorientierten deutschen Wirtschaft. Mit Forderungen nach immer weiteren „Sparpaketen“ und Schuldenbremsen in Europa werden die entsprechenden Absatzmärkte ausgetrocknet. 60 Prozent der Exporte erwirtschaftet Deutschland in der Euro-Zone. Dank der deutschen Sparpolitik wird sich die europäische Wirtschaftskrise verschärfen und nicht abebben. Die Exportstärke kehrt sich somit in ihr Gegenteil um. Das Statistische Bundesamt zeigt auf, dass – nicht überraschend – die Auslandsnachfrage in den europäischen Krisenländern wie Griechenland, Portugal und Irland stark abgenommen hat. Von noch größerer Bedeutung ist aber der Nachfragerückgang in großen europäischen Abnehmerländern wie Italien, Spanien und Belgien. In diesen Ländern gingen die Importe zwischen 2006 und 2011 um zweistellige Prozentsätze zurück. Ebenso geben bisher stabilere Länder wie Österreich und Frankreich einen negativen Ausblick. Aber auch die USA kaufen aufgrund eigener wirtschaftlicher Probleme weniger in Deutschland ein.
Die Krise wird sich daher mit einer gewissen Zeitverzögerung auch in Deutschland auswirken. Die Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft birgt große Gefahren, wenn die Weltwirtschaft in eine neue Phase der Krise eintritt. Die Weltbank schreibt: “Das Risiko ist real, dass die Märkte weltweit einfrieren und eine globale Krise wie im September 2008 ausbricht“. Zur Zeit versuchen die Eliten Europas auf zahlreichen Krisengipfeln Zeit zu gewinnen, aber die Widersprüche werden früher oder später zu weiteren Verschärfung der Krise führen. Ein weiteres wichtiges Element des Erfolgs des deutschen Kapitalismus im vergangenen Jahrzehnt liegt im viel beschworenen „Modell Deutschland“. Die deutsche Bourgeoisie investierte im vergangenen Jahrzehnt in die Produktivität ihrer (Export-) Industrie und scheute auch nicht den Konflikt mit der Arbeiterklasse (Agenda 2010, Hartz IV u.a.). Damit hat sie sich deutliche Standortvorteile gegenüber den anderen (süd-)europäischen Staaten geschaffen, wo die Bourgeoisie mit billigem Geld hauptsächlich den Dienstleistungssektor (Bankgeschäfte, Immobilien) bediente. Entscheidend für die Wirtschaftsentwicklung ist die industrielle Wertschöpfung, die in Deutschland rund ein Fünftel des BIP ausmacht, im Rest der Euro-Zone aber nur ein Zehntel. Deutsche Industriekonzerne stellen vor allem Maschinen, Anlagen, Fahrzeuge und Chemieprodukte her. Jene Produkte also, die in den bisher wachsenden Schwellenländern wie China, Indien und Brasilien nachgefragt werden.
Es gibt aber einen weiteren Grund für die industrielle Stärke Deutschlands mit seiner hohen Exportausrichtung. Deutschlands Exportvolumen hat 2011 laut Statistischem Bundesamt erstmals die Marke von 1000 Milliarden Euro überschritten. Dies wurde durch die Absenkung des Lohnniveaus im Gefolge der sogenannten „Arbeitsmarktreformen“, Agenda 2010 und Hartz-Gesetze in der Ära des SPD-Bundeskanzlers Gerhard Schröder (1998-2005) befördert. Speziell die Hartz-Gesetze als zentraler Bestandteil der Agenda 2010 haben tiefe Spuren auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen. Deutschland hält mit 7,8 Millionen Niedriglöhnern den Europarekord. Die Zahl ist zwischen 1995 und 2010 um mehr als 2,3 Millionen gestiegen. Selbst 560.000 Vollzeitbeschäftigte verdienen weniger als das Existenzminimum, so dass sie ihren Lohn mit Hartz-IV-Leistungen aufstocken müssen. Zu diesen „Aufstockern“ zählt jeder zehnte Leiharbeitnehmer. Hinzu kommen noch sieben Millionen abgabenfreie Minijobs, die jedes Jahr ein Loch von 4 Mrd. Euro in die Sozialkassen reißen. Das bedeutet eine Lohnsubvention für das Kapital in großem Maßstab. Ergebnis dieser Entwicklung ist eine zunehmende Aufsplitterung der Arbeiterklasse in Stammbelegschaft, LeiharbeitnehmerInnen und Werkvertragsleute.
Die Krise wird in ihrem weiteren Verlauf auch die starken Länder in der EU nach unten ziehen. Die starke ökonomische Integration des Kontinents ist mit der Idee einer “Insel der Seligen” nicht vereinbar. Mittlerweile steht die gesamte Euro-Zone vor einer neuerlichen Rezession. Die jüngsten Daten zeigen eine Stagnation des deutschen BIP. In den kommenden Monaten ist mit einem eher schwachen Anstieg bzw. einer weiteren Stagnation der Produktion zu rechnen. Wichtige Industriesektoren melden rückläufige Aufträge.
Eine Rezession würde die Basis für viel massivere Angriffe auf die Arbeiterklasse legen. Arbeitsplatzvernichtung und steigende Arbeitslosigkeit werden dann zentrale Themen im Klassenkampf. Das wird zu einer Zunahme von betrieblichen Auseinandersetzungen führen. Angesichts der hohen Staatsverschuldung wird auch der deutsche Staat sich zusehends schwerer tun diese Widersprüche durch höhere Staatsausgaben (etwa für Kurzarbeit und Frühverrentungen) abzumildern. Deutschland ist mit seinen 81 Prozent Staatsschulden am BIP damit weit davon entfernt, die Maastricht-Kriterien einzuhalten. Die Auswirkungen der Krise auf den Staatshaushalt belaufen sich alleine für die Jahre 2009 und 2010 auf 187 Milliarden Euro. Hinzu kommt das Haftungsrisiko für den Krisenfonds ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) in Höhe von 190 Mrd. Euro. Den größten Anteil am Anstieg der Staatsschuldenquote hat laut einer RWI-Studie der Fonds zur Rettung der Banken gehabt. Um strauchelnde Geldinstitute wie die IKB, die Commerzbank oder einige Landesbanken zu retten, gründete die Bundesregierung im Oktober 2008 den sogenannten Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung (Soffin). Die Verluste des Fonds summieren sich bis zum dritten Quartal 2012 auf 23,1 Milliarden Euro. Zugleich wurden viele „toxische Papiere“ in den Bilanzen der Banken in sogenannte „Bad Banks“ ausgelagert, auch diese haben den Staatshaushalt laut der RWI-Studie stark belastet. Laut der Studie entstand auf diese Weise ein Minus von drei Milliarden Euro. 2009, ein Jahr später waren es sogar 33 Milliarden Euro.
Generell wird versucht, scheibchenweise (unter der Wahrnehmungsschwelle der Öffentlichkeit) Investoren mit Steuergeld aus ihren bankrotten Investments raus zu schlagen. Und noch etwas zu „faulen Krediten“: Sie sind keine konstante Größe, sondern im weiteren Verlauf der Krise werden immer mehr Kredite anfangen zu faulen. Momentan sind in den Bilanzen der europäischen Banken 1,05 Billionen Euro faule Kredite, doppelt soviel als im Jahr 2008. Die stärksten Steigerungsraten gibt es in jenen Ländern, die unter einer nachlassenden Wirtschaftskraft leiden (Griechenland, Spanien, Italien). Diese Dynamik wird anhalten.
Angesichts der krisenhaften Epoche und der Aussicht einer neuerlichen Rezession wird der Spardruck also noch mehr zunehmen. Dies zeigt, dass auch in Deutschland eine Politik einer permanenten Sparpolitik ansteht. Nach der Bundestagswahl wird es ernsthafte Vorstöße für eine neue „Agenda 2020“ mit weiteren heftigen Angriffen auf soziale Errungenschaften geben. Zur wachsenden Ungleichheit im Kapitalismus gehört auch das Auseinanderdriften von Regionen. So werden auch im Westen manche „strukturschwache“ ländliche Regionen, aber auch Ballungsgebiete wie das nördliche Ruhrgebiet oder Bremen immer mehr von der Entwicklung abgehängt und verlieren viele Menschen durch Abwanderung. Während in manchen zunehmend entvölkerten Landstrichen Immobilien leer stehen und fast unverkäuflich sind, fehlen in großen Städten und Ballungsgebieten – vor allem im Westen und Süden – erschwingliche Wohnungen.
Am krassesten verlief diese Entwicklung allerdings auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Dort haben 40 Jahre unterschiedliche Geschichte und Traditionen und die Folgen der Wiedereinführung des Kapitalismus ab 1990 tiefe Spuren hinterlassen. Der Kampf der Kalikumpel in Bischofferode vor genau 20 Jahren war ein Symbol für den Widerstand der ostdeutschen Arbeiterklasse, die sich durch die von der Treuhandanstalt eingeleiteten Privatisierungen und Betriebsschließungen um ihre Existenzgrundlagen bedroht sah. Millionen Menschen im arbeitsfähigen Alter und ihre Familien verließen notgedrungen ihre Heimat und zogen vor allem in westliche Bundesländer. Ein massiver Einwohnerschwund weiter Landstriche im Osten war und ist weiterhin die Folge. Ohne zahlreiche Tages- und Wochenendpendler wäre dieses Ausbluten noch viel ausgeprägter.
Das Gebiet der ehemaligen DDR wurde für das westliche Kapital ein Absatzmarkt und ein Experimentierfeld für Lohndumping und Deregulierung. Und dazu bekamen die Herrschenden der BRD die gesamte DDR-Wirtschaft auch noch auf einem Silbertablett zum Spottpreis serviert. Die VEB (Volkseigene Betriebe), Grundstücke und LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften) der DDR wurden von der Treuhand privatisiert und weitgehend zerschlagen. Wo in den „neuen Bundesländern“ investiert wurde – vor allem in moderne Industrieanlagen mit wenigen Arbeitsplätzen – geschah dies nur mit Hilfe milliardenschwerer staatlicher Subventionen. Etliche dieser industriellen „Leuchtturmprojekte“ sind inzwischen – nach dem Ablauf der Subventionszahlungen – wieder stillgelegt worden. Die Angleichung der Lebensverhältnisse lässt weiterhin auf sich warten. So sind Löhne, Renten und Kaufkraft im Osten nach wie vor deutlich unter dem durchschnittlichen West-Niveau. Dass es im Osten über 40 Jahre nicht-kapitalistische, kollektive Strukturen gegeben hat, wirkt bis zum heutigen Tage und weit darüber hinaus nach.
Spaltung der Arbeiterklasse
Die Spaltung und ideologische Beherrschung der Arbeiterklasse ist ein altes Spiel der herrschenden Klasse. Traditionell nutzt sie zur Stabilisierung ihrer Macht klassische Methoden wie alt hergebrachte Statusunterschiede (Arbeiter, Angestellte, Beamte mit separaten Organisationen), Religion, Nationalität, Geschlecht, Alter, Arbeitende und Arbeitslose, Ost-West, Wanderarbeiter etc.. Die herrschenden Idee einer Epoche sind die Ideen der Herrschenden. Die Herrschaftsmethoden werden ständig weiter entwickelt und verfeinert. So etwa neue Formen der Spaltung zwischen Stammbelegschaften und Prekären. Hartz IV und „Karrieren im Prekariat“ dienen seit Jahren als abschreckendes Beispiel zur Disziplinierung der Stammbelegschaften. Aber andererseits nagt die Krise des Systems auch an Lebensstandard, „Besitzstand“ und Lebensqualität relativ besser gestellter Schichten der Arbeiterklasse. Die „Mittelschicht“ erodiert. Das ist auch ein Nährboden für einen gemeinsamen Kampf. In vielen Ländern, in denen sich die Arbeiterklasse in größerer Zahl bewegt und die Proteste prägt, werden alt hergebrachte Spaltungen, Statusunterschiede und rückständige Ideen und Vorurteile in der Bewegung selbst überwunden oder zu belanglosen Nebensächlichkeiten.
Die Ausweitung der Leiharbeit war ein zentraler Bestandteil der Schröderschen Agenda-Politik. Die Betriebe nutzten dies in der Krise 2009 als flexible Personalpolitik: schnell entlassen, aber auch schnell wieder einstellen, wenn es die Auftragslage erfordert. Ende 2012 wurden etwa eine Millionen LeiharbeitnehmerInnen in deutschen Unternehmen gezählt. Doch spätestens seit dem Skandal um konzerneigene Arbeitsüberlassung bei der Drogeriekette Schlecker ist Leiharbeit zunehmend verpönt und schlecht für das Image. Branchenmindestlöhne und Betriebsvereinbarungen über gleichen Lohn machen sie für manche Unternehmen „zu teuer“, auch wenn sie damit nach wie vor von der Spaltung der Belegschaften profitieren können. An ihre Stelle treten immer mehr Werkverträge – als verkappte Leiharbeit und neue brutale Niedriglohnstrategie. Werkvertragsbeschäftigte gehören zu Fremdfirmen ohne Betriebsrat oder Tarifvertrag, sind vielfach Migranten mit geringen Deutschkenntnissen und auf jeden Cent angewiesen. Aus Angst mucken sie fast nie auf.
Beispiel Automobilindustrie: Im Leipziger BMW-Werk gehört jeder zweite der rund 5000 Beschäftigten zu einer von 26 Werkvertragsfirmen und Subunternehmen. Sie arbeiten nicht nur an der Pforte, in Putzkolonnen oder in der Kantine, sondern leisten auch in den Produktionshallen Knochenarbeit und montieren Achsen, Antriebswellen und Getriebe. Damit umgeht BMW den für Leiharbeiter vereinbarten Tariflohn. Von vier Klassen in der Belegschaft spricht die IG Metall: BMW-Stamm- und BMW-Leihbeschäftigte, feste Werkvertragsbeschäftigte und Werkvertrag-Leiharbeiter. Wer in diesem Spinnennetz von Subunternehmen gefangen ist, hat kaum eine Chance auf den ersehnten festen BMW-Job. Auch Daimler in Stuttgart hat eigene Tochterfirmen ohne Tarifbindung, die Niedriglöhner über Werkverträge beim Mutterkonzern beschäftigen. In der Produktion verdienen Leiharbeiter 17,05 Euro Stundenlohn, ihre Werkvertrags-Kollegen nur knapp neun Euro. Solche Zustände höhlen Tariflöhne und Schutzrechte für alle aus. So dreht sich die Spirale immer weiter nach unten.
Höchste Erwerbstätigenrate und niedrigste Erwerbslosenrate – damit prahlt die Bundeskanzlerin. Allerdings sieht die Realität anders aus. Natürlich profitiert der deutsche Arbeitsmarkt davon, dass sich die Krise in Deutschland noch nicht voll entfaltet hat. Wie oben beschrieben, wird sie sich zeitverzögert auswirken. Dennoch ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt alles andere als beruhigend. Vielmehr sind der Druck auf die Erwerbslosen und die Repressionen immens. Während die Kurzzeitarbeitslosen als „industrielle Reservearmee“ noch eine gewisse Aussicht auf neue Beschäftigung haben, wenn auch unter verschlechterten Bedingungen, gibt es über eine Million langzeitarbeitslose Hartz-IV-EmpfängerInnen, die kaum eine Perspektive mehr haben und bestenfalls als Ein-Euro-Jobber ausgebeutet werden. Allerdings liegt die reale Erwerbslosenzahl sehr viel höher als in der Statistik angegeben, weil durch „Statistikbereinigungen“ etwa die rund 105.000 Arbeitslosen zwischen 55 und 64 Jahren aus der Zählung herausgenommen wurden. Die europäische Statistikbehörde Eurostat hat für Erwerbslose in Deutschland für 2010 ein Armutsrisiko von 70 Prozent ermittelt. Dies ist eine Zunahme im Vergleich zum Vorjahr um 8,3 Prozent. Im EU-Durchschnitt sind dagegen rund 45 Prozent der Erwerbslosen armutsgefährdet.
Die wohlhabendsten 10 Prozent der Bevölkerung besaßen 2007 gut 61 Prozent des gesamten Vermögens, die reichsten fünf Prozent verfügten über etwa 46 Prozent und das reichste Prozent allein über 23 Prozent des gesamten Nettovermögens. Auf die „unteren“ 70 Prozent entfielen dagegen nur knapp neun Prozent des Vermögens, 27 Prozent haben überhaupt kein Vermögen oder gar Schulden. Die abhängig Beschäftigten erhielten 2010 zwar 66 Prozent des Volkseinkommens, trugen aber 80 Prozent der Steuer- und Abgabenlast. Die Steuer- und Abgabenbelastung von Lohneinkommen lag 2010 bei durchschnittlich 45 Prozent, für Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögensanlagen lag der Wert nur bei durchschnittlich 22 Prozent. So funktioniert das neue „Modell Deutschland“.
Die Kluft zwischen den Klassen wird größer
Die Propaganda der herrschenden Klasse in Deutschland redet der Bevölkerung ein, Deutschland habe durch die „gute Politik“ der vergangenen Jahre die Krise umschifft. Als Beweis wird der Aufschwung im Jahr 2011 herangezogen, den die Medien als XXL-Aufschwung bezeichnet haben. Zwar ist 2011 das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um drei Prozent gewachsen. Aber was hat dieser Aufschwung der Arbeiterklasse gebracht? Die Beschäftigung ist um 1,3 Prozent gestiegen, aber unter den oben beschriebenen Umständen und Einschränkungen. Das reale Masseneinkommen liegt nur um 0,3 Prozent höher als 2001. Die monatlichen, realen Nettolöhne- und Gehälter je ArbeitnehmerIn erreichen nicht einmal die Werte von 1992.
Wichtiger als diese statistischen Daten sind aber die realen Erfahrungen der Arbeiterklasse. Mehr Druck und Hetze am Arbeitsplatz, größere Angst um den Arbeitsplatz und ähnliche Erscheinungen sind die realen Erfahrungen in einer Arbeitswelt, in der der Konkurrenzkampf immer unmenschlicher wird. Interessanterweise finden diese Entwicklungen in einem nicht klassischen Bereich aktuell in der Literatur ihren Niederschlag. Viele Angestellte empfingen ihren Alltag zusehends als Qual. Deutsche Büros gelten als Stätten der Unfreiheit, in denen Mobbing, Selbstoptimierung, Depressionen und Burnout vorherrschen. Viele haben längst die „innere Kündigung“ vollzogen. Die Angst vor der Entlassung wird als eigentlicher Leistungsantrieb angesehen.
Deutschland ist somit Vorreiter einer Entwicklung in Europa geworden, die zwangsläufig eine Verschlechterung der sozialen Lage der Arbeiterklasse mit sich bringt. Das derzeitige „Wirtschaftswunder“ speist sich aus einer verschärften Ausbeutung, die den anderen europäischen Ländern als erfolgreiches Rezept verabreicht werden soll. Dies müssen wir in einem internationalen gemeinsamen Kampf verhindern.
Wir haben es nach wie vor mit einer kapitalistischen Überproduktionskrise und Krise gigantischer Überkapazitäten zu tun. Nachdem China, Indien, Russland und sogar Afrika in den letzten 20 Jahren vollständig in den Weltmarkt integriert wurden, ist eine weitere, kontinuierliche Ausweitung der internationalen Märkte nahezu unmöglich. So liegt die kapitalistische „Lösung“ in der Zerstörung von Kapital, Waren, Produktivkräften, Kultur und Zivilisation.
Politische Perspektiven: Herrschende Klasse, ihr Staat und ihre Parteien
Allein auf sich gestellt könnte die Kapitalistenklasse ihre Macht nicht lange aufrechterhalten. Dazu braucht sie u.a. einen ihr ergebenen Staatsapparat, der in letzter Konsequenz immer das bürgerliche Privateigentum verteidigt (nach Engels ist der Staat der „ideelle Gesamtkapitalist“ und eine „besondere Formationen bewaffneter Menschen“). Sie braucht solide gesellschaftliche Stützen sowie eine griffige Ideologie, die den Kapitalismus als das beste aller Gesellschaftssysteme bzw. als „alternativlos“ darstellt und die Akzeptanz für das System begründet. Die herrschende Klasse ist über tausend Kanäle eng mit den klassischen bürgerlichen Parteien CDU/CSU und FDP verflochten, die sich über Jahrzehnte in aller Regel auf (alte und neue) Mittelschichten und politisch rückständigere Teile der Arbeiterklasse stützen können. Bis 1998 und dann wieder 2009 errangen CDU/CSU und FDP zusammen bei Bundestagswahlen auch stets rein rechnerisch eine absolute Mehrheit.
Die deutsche Bourgeoisie hat eine höchst wechselhafte Geschichte hinter sich und ist insofern „mit allen Wassern gewaschen“. Sie hat in den letzten 100 Jahren fast alle möglichen Herrschaftsformen durchgespielt: von der Kaiserzeit und verschiedenen Formen der bürgerlichen, parlamentarischen Demokratie mit den unterschiedlichsten politischen Parteikonstellationen über Regimes des parlamentarischen Bonapartismus (Brüning-Papen-Schleicher 1930-33) bis zum Hitlerfaschismus 1933-45. Die Gründung des Deutschen Reichs 1871 kam historisch „zu spät“. Bei der Aufteilung der Kolonien und Einflusssphären geriet Deutschland ins Hintertreffen. Gleichzeitig erlebte die deutsche Industrie eine stürmische Aufwärtsentwicklung. Doch der Kampf um einen „Platz an der Sonne“ und der Traum von der Vorherrschaft in Europa endeten nach vier Kriegsjahren 1918 in einer Niederlage. Nach der Niederschlagung der Revolution 1918-23 und einer kurzen Stabilisierung des deutschen Kapitalismus suchte die 1929 hereinbrechende Weltwirtschaftskrise Deutschland besonders intensiv heim. Die Bourgeoisie ließ die demokratische, liberale Fassade fallen, heuerte schließlich den Faschismus (in Trotzkis Worten: „chemisch destillierter Imperialismus“) an, um zuerst die Arbeiterbewegung zu zerschlagen und auf dieser Grundlage systematisch einen neuen Weltkrieg vorzubereiten. Der totale Krieg endete im Inferno und der totalen Niederlage des Hitlerfaschismus und deutschen Militarismus. Die Sowjetunion, die Hitler endgültig zertrümmern wollte, wurde zur Weltmacht, beherrschte die Osthälfte Deutschlands und Europas. Hier wurden Kapitalisten und Großgrundbesitzer enteignet und mit stalinistischen Mitteln eine Planwirtschaft eingerichtet. In Westdeutschland und Westeuropa allerdings wurde der Kapitalismus unter Anleitung der Besatzungsmächte und dank einer mäßigenden Rolle der Führung der Arbeiterorganisationen gerettet und wieder aufgerichtet. In den 1950er Jahren setzte ein starker Aufstieg des westdeutschen Kapitalismus ein.
Der in den 1950er Jahren eingeleitete europäische Einigungsprozess und die Aussöhnung und Bildung der Achse Frankreich-BRD war vor allem der Erkenntnis geschuldet, dass der Bourgeoisie in beiden Ländern nach drei kräftezehrenden, verheerenden Kriegen nur die Wahl blieb, die kapitalistische Wirtschaft gemeinsam zu entwickeln und sich so auf dem Weltmarkt zu behaupten. So entstanden in Anlehnung an alte Pläne aus den 1920er Jahren Montanunion, EWG, EG und EU. Damit konnte das bundesdeutsche Kapital seine alten Kriegsziele einer Vorherrschaft in Europa mit „friedlichen“, wirtschaftlichen und diplomatischen Mitteln in Angriff nehmen. Die BRD wurde treibende Kraft im europäischen Einigungsprozess, die exportorientierte deutsche Industrie und die Banken wurden Hauptprofiteur dieser Entwicklung. Dies erklärt auch die scheinbare „Europabegeisterung“ und Verteidigung des Euro, die bis zum heutigen Tage bei den deutschen Eliten mehrheitlich vorherrscht.
Eine neue Phase wurde eingeleitet, als 1990 mit der Vereinigung bzw. dem Anschluss der DDR an die BRD Deutschland plötzlich auf 80 Millionen anwuchs. Die herrschende Klasse hatte nicht mehr damit gerechnet und war darauf nicht vorbereitet, ergriff die Chance aber beim Schopfe. Mit dem Zusammenbruch der östlichen Planwirtschaften öffneten sich dem Kapitalismus neue (alte) Märkte und ein billiges, williges und qualifiziertes Arbeitskräftepotenzial. Der alte Drang nach Osten kam wieder zur Geltung. Dies förderte einen neuen Schub für EU-Osterweiterung. Die Bourgeoisie schwelgte im Selbstbewusstsein und Glauben an ein „Ende der Geschichte“ und einen ewigen Sieg des Kapitalismus. Dies war der Nährboden für eine nie dagewesene neoliberale Offensive und ehrgeizige Pläne zur Vollendung der kapitalistischen Vereinigung Europas über EU-Erweiterung, Währungsunion und Durchdringung aller Staaten. Damit einher ging eine schrittweise Abkehr von der jahrzehntelangen Zurückhaltung in militärischen Fragen und Rückkehr zur Normalität der deutschen Kriegsbeteiligung.
Über Jahrzehnte herrschte in der Bundesrepublik ein Drei-Parteien-System vor, wobei die großen „Volksparteien“ CDU/CSU und SPD bei Bundestagswahlen zusammen immer deutlich über 80 Prozent der Stimmen errangen. Je nach Lage und Bedarf konnten CDU/CSU, SPD und FDP miteinander regieren, wobei die FDP als „kleine Partei des großen Geldes“ aus der Sicht der herrschenden Klasse immer flexibel eingesetzt werden konnte und 1982 auch die SPD aus der Regierung entfernen und die CDU/CSU unter Kohl in die Regierung hieven konnte. Die FDP, die ab 1945 u.a. auch als Auffangbecken für alte Nazis fungierte, war in den 1950er Jahren und ist auch heute noch der „natürliche“ Partner der CDU/CSU. Ende der 1960er vollzog sie – nicht ohne Reibungsverluste, Austrittswellen und Krisen – einen Schwenk zur strategischen Kooperation mit der SPD und spielte ihre neue Rolle als Wachhund, der darauf aufpassen sollte, dass die SPD-Minister unter Druck ihrer Basis die Sozialreformen ja nicht zu weit trieben. Anfang der 1980er Jahre löste dann eine tiefe Rezession mit weit über zwei Millionen Arbeitslosen in der Alt-BRD einen Stimmungsumschwung aus, der sich in den neoliberalen Eckpunkten des „Lambsdorff-Papiers“ niederschlug. Dieses Papier konnte damals von der SPD-Führung nicht mitgetragen werden und beschleunigte insofern das Ende der SPD/FDP-Koalition. Seine Inhalte wurden in 16 Jahren Kohl angepackt und auch unter SPD und Grünen zwischen 1998 und 2005 vor allem im Zuge der Agenda 2010 fortgeführt.
Nach dem Niedergang der KPD in den 1950er Jahren und ihrem Verbot 1956 blieb die SPD über Jahrzehnte als einzige traditionelle Arbeiterpartei übrig, die die Arbeiterklasse in das kapitalistische System und den Staat integrierte. Zwischen 1966 und 1982 (und wieder von 1998 bis 2009) war die SPD maßgeblich an Bundesregierungen beteiligt. Eine ältere Arbeitergeneration verbindet die Erinnerung an die SPD der 1970er Jahre mit positiven Sozialreformen, mit einer Anhebung von Lebensstandard und Lebensqualität – auch wenn Ende der 1970er Jahre bereits erste Schritte hin zum Sozialabbau einsetzten.
Im bürgerlichen Staat mit seinem System der Gewaltenteilung und gegenseitigen Kontrolle sind etliche Kontrollmechanismen eingebaut, die verhindern sollen, dass etwa eine linke Parlamentsmehrheit „ganz legal“ antikapitalistische Maßnahmen beschließt und diese dann von der Exekutive durchgeführt werden. Auch in der liberalsten bürgerlichen Demokratie liegt die wirkliche Macht nicht bei den Parlamentariern und nicht einmal bei der Regierung, sondern in den Schaltzentralen der wirtschaftlichen Macht, die über tausend Fäden, Einfluss- und Erpressungsmöglichkeiten Gesetze und praktische Maßnahmen der Exekutive beeinflussen und auch verhindern können. Der Staat ist in letzter Konsequenz ein Gealtapparat zum Schutz der herrschenden Klasse. Regelmäßige Enthüllungen bis zum heutigen Tage verdeutlichen, dass die Geheimdienste in kapitalistischen Staaten im Grunde nicht durch das Parlament kontrollierbar sind.
Das Verhältnis zwischen der herrschenden Klasse und ihren Repräsentanten ist natürlich nicht immer reibungslos und unproblematisch. Die Bourgeoisie hat keine Zentralinstanz, die für alle spricht und einfach auf ein Knöpfchen drückt und die Puppen tanzen lässt. Es gibt auch innerhalb der herrschenden Klasse widerstrebende Interessen und taktische Ansätze. So zeigte sich etwa Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt unzufrieden mit der schwarz-gelben Bundesregierung, weil sie nach seiner Auffassung die „Reformen“ nicht konsequent genug durchgezogen habe: „Ich halte so manches, was in Berlin beschlossen oder diskutiert wird, für problematisch.“ Aber alles in allem beeinflussen machtvolle Lobbygruppen – Unternehmerverbände, Banken, Versicherungen, der CDU-Wirtschaftsrat und ihre Think Tanks – maßgeblich die öffentliche Meinung, verfassen Gesetzesentwürfe und achten darauf, dass die von ihnen vorgegebene Linie grundsätzlich eingehalten wird. Zwischen der Bourgeoisie, den Spitzen im Staatsapparat und den politischen Entscheidungsträgern bestehen enge Verflechtungen. Medien und andere Ideologieträger geben den Anpassungsdruck systematisch weiter.
Das Drei-Parteien-System brach Anfang der 1980er Jahre auf, als aus der negativen Regierungserfahrung mit der SPD heraus die Umwelt- und Friedensbewegung gestärkt wurde und somit die neue Partei „Die Grünen“ entstand. Obwohl in der neuen Partei damals Menschen aus unterschiedlichsten Richtungen zusammen kamen, speiste sie sich vor allem auch aus der Sozialdemokratie, aber auch aus Ex-K-Gruppen. In den 1980ern waren bei den Grünen „linke“ Strömungen tonangebend. Sie hatte aber nie die enge Anbindung an und den „Stallgeruch“ der Gewerkschaftsbewegung oder eine systematische Klassenorientierung und ausgesprochen antikapitalistische Stoßrichtung. Daher war die Anpassung und Einbindung dieser neuen Partei in den Regierungsapparat seit Mitte der 1980er Jahre (erste Ernennung von Joschka Fischer zum Umweltminister in Hessen 1985) auch relativ leicht zu vollziehen. Auch wenn die SPD auf allen Ebenen eher der natürliche Partner der Grünen ist, gab und gibt es auch stabile schwarz-grüne Bündnisse – so etwa in der Stadt Frankfurt am Main. Heute sind die Grünen eine „moderne“ linksliberale Partei, die sich auch auf Öko-Kapitalisten stützt, es dabei allerdings auch versteht, sich „sozial“ und „fortschrittlich“ zu geben und damit auch Stimmen zu fangen. Der „Linksliberalismus“ oder „Sozialliberalismus“, der in den 1970er Jahren wichtige Teile der FDP prägte, wird heute am ehesten von den Grünen und teilweise auch von der Piratenpartei repräsentiert.
SPD und LINKE
Nach 16 Jahren Kohl-Regierung war der Antritt der „rot-grünen“ Koalition 1998 von großen Hoffnungen auf einen echten Politikwechsel begleitet. Die Enttäuschung folgte sehr rasch. Mit der von Gerhard Schröder durchgepeitschten „Agenda 2010“, die sich ideologisch schon 1999 im Schröder-Blair-Papier abzeichnete, geriet die SPD in ihre größte Krise seit Bestehen der BRD. Von dieser mit einem massiven Mitglieder- und Wählerverlust einhergehenden Krise hat sie sich im Grunde bis zum heutigen Tage nicht erholt. So wie der frühere SPD-Kanzler Helmut Schmidt (1974-82) unfreiwilliger Vater der Grünen war, weil die von ihm unterstützte NATO-Aufrüstung, der Abbau demokratischer Rechte und der Ausbau der Atomkraft ein Potenzial dafür schufen, erwies sich Schröder als unfreiwilliger Vater der WASG und LINKEN, weil die Agenda 2010 vor allem unter Gewerkschaftern auf massive Kritik stieß. Dass es unter solchen Umständen zu kleineren und ggf. auch größeren Abspaltungen von der SPD kommen würde, hatten wir schon zuvor erwartet.
Allerdings ist bemerkenswert, dass die Agenda 2010 nicht zuallererst eine organisierte Abspaltung von der SPD ausgelöst hat, sondern zunächst einmal die ernsthafteste innerparteiliche Opposition in der SPD seit Jahrzehnten beflügelte. So sammelte die Bewegung für ein „Mitgliederbegehren“ gegen die Agenda 2010 im Frühjahr 2003 binnen weniger Wochen 21.000 Unterschriften. Im Juni 2003 kamen 250 linke SPD-Mitglieder aus allen Himmelsrichtungen in Frankfurt am Main zusammen. Viele von ihnen forderten und erwarteten die Bildung einer ernsthaften linken Opposition. Doch die auf dem Podium sitzenden prominenten „linken“ SPD-Abgeordneten einschließlich Klaus Wiesehügel, Vorsitzender der IG BAU, nahmen dieses Begehren stillschweigend zur Kenntnis und unternahmen nichts. Erst dieses Versagen – und die verheerenden Verluste der SPD an das Lager der Nichtwähler bei der bayerischen Landtagswahl im Herbst 2003 – gaben den Anstoß für die Herausbildung einer neuen Initiative für „Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ Anfang 2004 in Bayern, die zu ihrer eigenen Überraschung bundesweit ein starkes Echo fand. Auf die vage Drohung mit einer eigenen Kandidatur gegen die SPD bei den nächsten Bundestagswahlen folgte die Disziplinierung der Urheber durch Müntefering, so dass alles seinen Lauf nahm und Ende 2004 die Weichenstellung für eine eigene Partei erfolgte. Bei der Landtagswahl in NRW im Mai 2005 erreichte die WASG aus dem Stand über 2 Prozent. Dann überschlugen sich die Ereignisse, als nach der für die SPD verlorenen Landtagswahl in NRW Schröder und Müntefering überraschend Bundestagsneuwahlen ankündigten und Oskar Lafontaine nach gut sechsjähriger Polit-Abstinenz sich zur Spitzenkandidatur für eine vereinigte Linke aus PDS und WASG bereit erklärte. Somit setzte ein Prozess ein, der zum gemeinsamen Antritt bei der Bundestagswahl 2005 und der Bildung einer gemeinsamen Bundestagsfraktion führte und im Sommer 2007 mit der Vereinigung zur neuen Partei DIE LINKE ihren Höhepunkt fand.
Mit der Linksfraktion im Bundestag ist erstmals seit Anfang der 50er Jahre (als die KPD noch im 1. Bundestag vertreten war) eine relativ starke linke Formation mit Wurzeln in der Arbeiterbewegung im Parlament vertreten. Jahrzehntelang hat es das nicht gegeben. Kleinere Abspaltungen von der SPD (wie die DS 1982) blieben bedeutungslos. Die DKP ist auch in den 1980er Jahren nie über 40.000 Mitglieder und 0,8 Prozent hinausgekommen – von einzelnen lokalen kommunalen Hochburgen abgesehen. Heute ist sie nur noch ein Schatten ihrer damaligen Stärke und Stabilität.
Einen Höhepunkt bildete die Bundestagswahl 2009, als DIE LINKE auf 11,9 Prozent und damit gut halb so viele Stimmen wie die SPD kam. Diesem Hype 2009 folgte allerdings keine systematische Stabilisierung der LINKEN. „Unsere Aktien waren damals etwas überbewertet“, sagen manche Insider. Denn nach wie vor hat die LINKE bundesweit längst nicht halb so viele aktive Mitglieder oder auch nur eine annähernd stabile Verankerung in Stadt und Land wie die SPD. Vor allem im Westen wurden die Chancen weitgehend vertan, mit Hilfe von Mandaten und den damit fließenden finanziellen Mitteln eine politische Schulung der Mitglieder im sozialistischen Sinne, eine gesellschaftliche, betriebliche und gewerkschaftliche Verankerung und lebensfähige flächendeckende Strukturen in Stadt und Land zu organisieren. Viele linke Kommunalfraktionen zerbröckelten. Oftmals überschatteten und überschatten heftige Konflikte um Posten, Listenplätze und Mandate und Karrierismus das Parteileben. Intrigen und Provokationen sind allgegenwärtig. Statt Orientierung auf die Arbeiterklasse, Klassenkämpfe und Gewerkschaften verzetteln sich viele Untergliederungen in allerlei, oftmals weniger wichtigen Fragen. Bei der Orientierung auf Hartz IV-Betroffene überwiegt das „Kümmerer-Element“ und fehlt vielfach die Orientierung auf die gesamte Arbeiterklasse, die Gewerkschaften und einen gemeinsamen Kampf von Arbeitenden und Arbeitslosen.
Im Westen setzte 2011 mit den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg eine Serie von Niederlagen für DIE LINKE mit Ergebnissen deutlich unter der magischen Fünf-Prozent-Schwelle ein, die sich 2012 in NRW und Schleswig-Holstein und 2013 in Niedersachsen fortsetzte. Bei der Landtagswahl in Bayern am 15. September und somit eine Woche vor der Bundestagswahl droht ein mageres Ergebnis, das in der letzten Tagen vor der Bundestagswahl als Dämpfer wirken könnte. Sollte DIE LINKE auch bei der hessischen Landtagswahl am 22. September an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, so wäre ihre Präsenz in den zehn West-Landtagen auf das kleine Saarland und die Stadtstaaten Hamburg und Bremen reduziert. Dies und ein im Vergleich zu den 11,9 Prozent von 2009 möglicherweise deutlich schlechteres Ergebnis bei der Bundestagswahl könnte eine neue tiefe Krise der Partei auslösen und alte Gräben (Ost-West, Regierungsbeteiligung oder Opposition?) aufreißen, die beim Göttinger Parteitag 2011 mühsam zugeschüttet wurden. Ob die „Reformer“ um das fds dabei allerdings mit voller Kraft gegen linkere innerparteiliche Strömungen in die Offensive gehen können, hängt auch vom Abschneiden ihrer eigenen Spitzenrepräsentanten im Osten ab.
Der starke Zustrom für die LINKE bis 2009 war auch ein Protest gegen elf Jahre Regierungsbeteiligung der SPD. In der Opposition hat sich die SPD seither zumindest verbal und oberflächlich von einigen Aspekten der Agenda 2010 abgesetzt und einige „linke“ Forderungen zu eigen gemacht. Sie hält sich zugute, dass sie sich auch ohne „Tolerierung“ durch die LINKE in NRW, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg als Regierungspartei etabliert oder behauptet hat. Doch mit der Personalie Steinbrück, der die „alte“ Schröder-SPD repräsentiert, fällt es der SPD derzeit offensichtlich schwer, wieder über die magischen 30 Prozent zu kommen. Allerdings gibt es im Gegensatz zu früheren Jahren so gut wie keine nennenswerte Absetzbewegung von der SPD zur LINKEN. Beide Parteien könnten bei der Bundestagswahl im September 2013 unter einer möglicherweise steigenden Wahlenthaltung leiden.
Für interne Debatten hat in den letzten Jahren auch die Regierungsbeteiligung der LINKEN gesorgt. In drei östlichen Bundesländern (Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg) war/ist die Partei Juniorpartner der SPD in Landesregierungen. Teile der Basis sehen die dabei an die SPD gemachten Zugeständnisse kritisch. Dass DIE LINKE 2013 aber in die Verlegenheit kommen wird, in die Bundesregierung einzutreten, ist unwahrscheinlich. Die Differenzen in der Außen-, Militär und Europapolitik sind nach wie vor zu groß. Als einzige Partei im Bundestag hat DIE LINKE bisher konsequent Kriege, deutsche Militäreinsätze und die herrschende EU- und Troika-Politik, Privatisierungen und Sozialabbau abgelehnt. Sie fordert eine Verstaatlichung der Banken unter demokratischer Kontrolle. Versuche des rechten Parteiflügels um das fds, diese „Alleinstellungsmerkmale“ aufzuweichen und das Programm für die ersehnte Regierungsbeteiligung „kompatibel“ zu machen, sind bisher von Parteitagen auf Bundesebene mehrheitlich abgelehnt worden. Allerdings fehlt der LINKEN ein umfassendes sozialistischer Programm und eine klare Systemalternative, die über Korrekturen am Kapitalismus hinausgeht.
Weitergehende Perspektiven für DIE LINKE hängen auch davon ab, ob und in welcher Form die SPD in der nächsten Bundesregierung vertreten ist, und von der konkreten Entwicklung des Klassenkampfs, der sich unweigerlich auch in den alten Massenorganisationen niederschlagen wird. Aber selbst wenn eine Regierung mit SPD-Beteiligung unter dem Druck von Schuldenbremse und Wirtschaftskrise Angriffe gegen die Arbeiterklasse starten und Konflikte mit den Gewerkschaften provozieren würde, wäre es keine ausgemachte Sache und kein Automatismus, dass DIE LINKE davon auf breiter Front profitiert und auf allen Ebenen in der Lage wäre, der Unzufriedenheit Ausdruck und Programm zu verleihen.
Auch hier kommt eine alte Gesetzmäßigkeit zum Tragen: Wenn die Masse nur zwischen zwei reformistischen Parteien auswählen kann, dann entscheidet sie sich im Zweifelsfall für die größere der beiden. Die SPD beruft sich in diesen Monaten gekonnt auf ihre 150-jährige Geschichte und nutzt sie als Trumpf, um sich im Wahlkampf als angeblich einzige Arbeiterpartei und konsequente Gegnerin der NSDAP in Szene zu setzen. So setzt sie auf Loyalität, Trägheit, Vergesslichkeit und Pragmatismus der Massen. Natürlich ist ihre Bindekraft viel schwächer als in früheren Jahrzehnten. Aber keine Partei, auch nicht DIE LINKE, hat es nach 1945 geschafft, der SPD flächendeckend den Rang als Bezugspunkt für die arbeitende Bevölkerung und Ansprechpartnerin für Gewerkschaften abzulaufen.
Die Abkehr der Massen von der SPD ist die Abkehr eines enttäuschten Liebhabers, der von dieser Partei „eigentlich“ eine ganz andere Politik erwartet hätte. Unzufriedene Arbeiter und Jugendliche werden nach wie vor aufmerksam verfolgen, ob und wie sich in der SPD wieder kritische, oppositionelle Strömungen herausbilden. Unabhängig von der Entwicklung der LINKEN ist dies früher oder später unvermeidlich. Die derzeitige SPD-Linke um DL 21 und Teile der Jusos und AfA ist aber programmatisch und organisatorisch schwach und defensiv und insgesamt kaum als attraktiver Gegenpol zum rechtssozialdemokratischen Mainstream sichtbar.
Einen ersten Vorgeschmack bot allerdings der zeitweilige Wiederaufstieg der hessischen SPD unter Andrea Ypsilanti 2006-2008. Sie stand für andere, etwas linkere Nach-Schröder-SPD und erreichte mit einem starken Zuwachs um über 7 Prozentpunkte auf 36,7 Prozent ein beachtliches Ergebnis. Als sie eine durch die LINKE tolerierte Regierung bilden wollte, organisierten bürgerliche Kreise, Medien, Unternehmerverbände und der rechte Flügel in SPD und Gewerkschaftsapparat mit Hilfe von vier rechtssozialdemokratischen Abgeordneten ihren Sturz.
Es gibt besondere historische Gründe dafür, dass in Deutschland zwei relevante sozialdemokratische Parteien bestehen. Nicht zuletzt die Weigerung der von Pfarrern geprägten und strikt antikommunistisch auftretenden Ost-SPD, ehemalige SED-Mitglieder aufzunehmen, begünstigte die Entwicklung der PDS. Sie eroberte in Osten seit den 1990ern mit kommunalpolitischer Kleinarbeit und als „Kümmererpartei“ schrittweise Terrain und bemühte sich im neuen kapitalistischen System um Anerkennung und Ruf als „seriöse“ und „etablierte“ Kraft.
Auch wenn es in den letzten Jahren schon etliche Übertritte von Mandatsträgern der LINKEN zur SPD gegeben hat, scheint ein von manchen still herbeigesehntes und von manchen befürchtetes Zusammengehen beider Parteien derzeit nicht in Sicht, weil wir es mit zwei verschiedenen Instanzen und Apparaten mit Eigeninteressen zu tun haben.
Droht ein neuer Faschismus? Rechte Parteien
Auch 80 Jahre nach der Machtübertragung an die NSDAP und 68 Jahre nach der Befreiung vom NS-Regime können sich die bundesdeutschen Eliten nach wie vor nicht ihrer immer noch nicht gründlich aufgearbeiteten Geschichte entziehen. Dass die herrschende Klasse damals so bereitwillig die politische Macht an die Nazi-Bewegung übergab, darf nie vergessen werden und ist ein Hinweis darauf, dass sich Kapitalisten in Zeiten zugespitzter Krisen und Klassenkämpfe wieder darauf besinnen könnten, demokratische Rechte abzubauen und faschistische Banden als Hilfstruppen für den bürgerlichen Staat anzuheuern. Der 1933 bis 1945 herrschende deutsche Faschismus zeigt, was ein aus den Fugen geratener Kapitalismus anrichten kann, wenn er nicht von der Arbeiterbewegung bewusst gestürzt und durch eine sozialistische Demokratie ersetzt wird. Auch wenn ehemalige Nazi-Kader im BRD-Staat der 1950er Jahre wieder steile Karrieren machen konnten und die Nazi-Profiteure nach 1945 in den Chefetagen der Wirtschaft rasch wieder das Sagen hatten, sind die Kapitalistenklasse und ihr Staat nicht zwangsläufig organisch faschistisch. Aber die unglaublichen Enthüllungen über eine gezielte Zusammenarbeit zwischen staatlichen Organen, V-Leuten und der Neonazi-Terrororganisation NSU zeigen, dass auch dieser Staat nicht per se antifaschistisch ist und gut bezahlte V-Leute bis heute Neonazi-Organisationen von diesem Staat alimentiert werden. Auch ein Verbot der NPD durch den bürgerlichen Staat wäre keine Garantie gegen feigen Nazi-Terror aus dem Hinterhalt oder die Rekrutierung von Nachwuchs für neofaschistische Formationen. Gegen immer wieder drohende Angriffe, Umtriebe und Provokationen aus der Neonazi-Szene, die sich vor allem im Osten häufen und denen bundesweit seit 1990 mehrere hundert Menschen zum Opfer gefallen sind, hilft letzten Endes nicht die Staatsgewalt, sondern die Selbstorganisation und breite Mobilisierung und Aufklärung vor allem in den Organisationen der Arbeiterbewegung, politischen und Migrantenvereinen.
Eine bundesweit verankerte faschistische Massenbewegung oder gar Machtübertragung an die Neo-Nazis wie 1933 steht derzeit allerdings nicht auf der Tagesordnung. Dafür sprechen viele Anhaltspunkte. Der klassische Faschismus war eine freiwillige Massenbewegung verzweifelter Kleinbürger und diente als Rammbock gegen die Arbeiterbewegung. Offener Faschismus ist heute in Europa schon deshalb wesentlich schwächer als vor dem 2. Weltkrieg, weil die soziale Massenbasis dieses traditionellen Kleinbürgertums geschrumpft ist.
Auf der Ebene von Wahlen ist es rechtsradikalen, reaktionären und neofaschistischen Parteien bisher nicht gelungen, sich dauerhaft und stabil zu verankern. Die NPD gelangte in den 1960er Jahren mit bis zu zehn Prozent Zweitstimmenanteil in sieben West-Landtage und war nach vier Jahren wieder draußen. Nach über zwei Jahrzehnten der Bedeutungslosigkeit erfuhr sie eine Auffrischung durch offen „nationalsozialistische“ Kräfte und betrieb gezielte Aufbauarbeit in wirtschaftlich benachteiligten Regionen in Ostdeutschland. Derzeit ist sie in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen im Landtag vertreten. Dort ist sie auch mit ihrem Umfeld in manchen Regionen ein fest verankerter, anerkannter Teil der Alltagskultur geworden und präsentiert sich als „Kümmerer-Partei“ der „kleinen Leute“. Hoffnungen auf einen bundesweiten Durchbruch kann sie sich derzeit nicht machen.
Seit den 1980ern gab es mehrere Parteineugründungen im rechtsradikalen, reaktionären Lager, die wieder weitgehend in der Bedeutungslosigkeit versanken. So etwa die 1983 von abtrünnigen CSU-Abgeordneten gegründeten Republikaner. Sie schafften es ab 1989 in das Europaparlament und zeitweilig in mehrere Landtage und viele Kommunalparlamente, sind aber seit Jahren im Niedergang und Zerfall begriffen. Die zugunsten einer Verschmelzung mit der NPD aufgelöste DVU konnte insgesamt neun Mal in Landtage einziehen und erreichte 1998 bei der Wahl in Sachsen-Anhalt einen Rekord von 12,9 Prozent. Nur eine kurze Blüte erlebten auch die 2007 wieder aufgelöste Partei Rechtsstaatlicher Offensive (PRO), die trotz wirrer rassistischer Propaganda streng genommen nicht das Etikett „faschistisch“ verdiente. Die als Schill-Partei bekannte PRO koalierte in Hamburg zeitweilig mit der CDU und hat keine nachhaltigen Spuren hinterlassen.
Anders als vor 80 Jahren ist derzeit hierzulande noch keine revolutionäre Massenbewegung in Sicht, die es aus der Sicht der herrschenden Klasse gewaltsam zu unterdrücken gäbe. Statt totaler Konfrontation nach britischem oder südeuropäischem Vorbild versucht es die herrschende Klasse nach wie vor, die Gewerkschaftsführung ins Boot zu ziehen und ihnen schrittweise Zugeständnisse zu entlocken.
Bei zunehmender Krise allerdings werden sich die Klassenkämpfe verschärfen und zumindest Teile der herrschenden Klasse sich darauf besinnen, Neonazis und ähnliche gewaltbereite Banden und Formationen als Hilfstruppen zur Terrorisierung der revolutionären und Arbeiterbewegung einzusetzen. Eine Begleiterscheinung der kapitalistischen Krise ist die Tendenz, in der bürgerlichen Demokratie die parlamentarische Kontrolle und demokratische Grundrechte auszuhöhlen und die Kontrolle über die Exekutive zu schwächen. All dies wird im Zusammenhang mit den aktuellen Krisendiktaten der Troika für die Länder Südeuropas deutlich.
Jeder bürgerliche Staat trifft Vorkehrungen für den „Notstand“ und hält besondere Repressionsinstrumente bereit. Darauf werden auch besondere Einheiten von Bundeswehr und Polizei getrimmt. Geheimdienste sind faktisch keiner parlamentarischen Kontrolle unterworfen. Die staatliche Überwachung von Post und Telekommunikation ist so alt wie dieser Staat. Wir sollten gleichzeitig aber auch darauf achten, nicht jede Art von autoritärer Politik, Repression und Polizeigewalt als „faschistisch“ zu bezeichnen, weil damit die Folgen und Auswirkungen eines echten faschistischen Regimes mit seiner Massenbewegung verharmlost würden. Auch in den krisengeschüttelten Ländern Südeuropas sehen wir, dass es im 21. Jahrhundert Neofaschisten derzeit schwer haben, eine stabile Massenbewegung aufzubauen. Wie in den frühen 1920er Jahren schlägt das politische Pendel eher nach links aus. Ein nachhaltiges Versagen der Arbeiterbewegung und linken Organisationen und die Unfähigkeit ihrer Führung, eine fortschrittliche revolutionäre Lösung aufzuzeigen, kann aber den Nährboden schaffen für reaktionäre Stimmung und Hysterie unter Kleinbürgern und entwurzelten, demoralisierten Teilen der Arbeiterklasse.
Es wäre falsch, die neue bürgerlich-konservative Alternative für Deutschland (AfD) als „faschistisch“ zu bezeichnen. Auch wenn sie im September nicht den Sprung in den Bundestag schaffen sollte, könnte sie als „Reservemannschaft“ der Bourgeoisie dienen, um bei zunehmender Kapitalismuskrise verunsicherte Teile des Kleinbürgertums an die konservative Seite zu binden. Die jüngste Zypern-Krise dürfte auch bei besser situierten deutschen Lohnabhängigen das Gefühl geweckt haben, dass unbescholtene Kleinsparer für Bankenverluste zur Kasse gebeten werden und ihre Sparguthaben durch Bankenpleiten, Eingriffe und Inflation gefährdet sein könnten. Während frühere Gründer neuer rechter Parteien auf platten Rassismus und Law-and-Order-Sprüche setzten, die auf Dauer verblassten, könnten Wirtschaftskrise, Zuspruch aus der „Mitte der Gesellschaft“ und Spenden von „mittelständischen“ Unternehmern, die einen stabilen Euro nicht mehr für existenziell halten, der AfD durchaus Substanz und Auftrieb bringen. Die zahlreichen Professoren und bürgerlichen Kräfte in und um die AfD sind mit der herrschenden Klasse eng verflochten. Dass die Eliten längst nicht mehr uneingeschränkt Angela Merkels Euro-Kurs tragen und sich eine tiefe Spaltung im bürgerlichen Lager anbahnt, zeigen auch Äußerungen von Ex-BDI-Chef und AfD-Sympathisant Hans-Olaf Henkel. Die spannende Frage ist, ob und wie die Arbeiterbewegung und politische Linke den verunsicherten Mittelschichten eine über das Kurieren an der Währungsoberfläche hinaus weisende gesellschaftliche Alternative anbieten können.
Arbeiterklasse, Klassenkampf und Gewerkschaften
Die bundesdeutsche Klassengesellschaft war jahrzehntelang relativ stabil. In den 1960er und 1970er Jahren war viel die Rede von „nivellierter Mittelschicht“, „Zwiebelmodell“ und breiten Chancen zum sozialen Aufstieg. Jeder sei „seines Glückes Schmied“, hieß es. Zur Stabilität trug ein relativ hoher und tendenziell steigender Lebensstandard bei. Inzwischen erleben Millionen Lohnabhängige durch die Prekarisierung der Arbeitswelt einen finanziellen und sozialen Abstieg. Seit den 1990er Jahren stagniert der Lebensstandard für breite Schichten. Die in früheren Generationen weit verbreitete Aussicht und Zuversicht, dass es die Kinder einmal besser haben werden, schwindet dahin. Zunehmend beginnt die berufliche Laufbahn junger Erwachsener in prekären Arbeitsverhältnissen. Für ältere Jahrgänge rückt die drohende Altersarmut zunehmend näher. Mitten im Leben schlägt sich der zunehmende Stress bei Berufstätige in plötzlichen lebensbedrohenden Erkrankungen nieder. „Das halte ich niemals bis zur Rente 67 durch“, ist eine weit verbreitete Einsicht.
Es ist eine Legende, dass die Arbeiterklasse verschwindet. Ständiger Strukturwandel gehört zum Kapitalismus. Alte Industrien schrumpfen und damit auch traditionelle gewerkschaftliche Bastionen, aber dafür entstehen neue Branchen – oftmals mit deutlich schlechteren Löhnen und Arbeitsbedingungen, in denen sich die Lohnabhängigen mühsam neu organisieren müssen. In Gebäudereinigung, Schlachthöfen, Call Center-Betrieben, Kühlhäusern, Logistik, Handel und Bodendiensten großer Verkehrsflughäfen und anderswo sind die Arbeitsbedingungen und der Verschleiß der Arbeitskraft unterm Strich nicht besser als in traditionellen Fabriken. Laut Statistik sind von 82 Millionen Bürgern zwischen 35-39 Millionen erwerbstätig. Hinzu kommen Rentner, Arbeitslose, Schüler und Studierende, die ebenfalls mal beschäftigt waren, es gerne wären oder hoffentlich bald sind. Auch sie gehören zur Arbeiterklasse.
Deutschland wird immer reicher – und immer weniger Menschen profitieren davon! Die Kluft zwischen Arm und Reich hat massiv zugenommen. Einer Staatsverschuldung von 2,2 Billionen Euro steht ein Nettoprivatvermögen von 7,5 Billionen Euro gegenüber. Allein das reichste Zehntel der Bevölkerung besitzt davon 4,8 Billionen Euro. Das ärmste Zehntel hat hingegen 14,4 Milliarden Euro Schulden. Die Reallöhne stagnieren, während die Energiekosten explodieren. Deutschland ist neben den USA das westliche Industrieland mit dem höchsten Prekarisierungs-Index der Lohnarbeit. Über ein Drittel aller Arbeitsplätze entfällt auf „atypische Arbeitsverhältnisse“ - Leiharbeit, 400-Euro-Jobs, Teilzeit, befristete Verträge, Scheinselbstständigkeit, Werkverträge, McJobs, unbezahlte Praktika etc. Diese Liberalisierung und Prekarisierung des Arbeitsmarkts ist vor allem ein Erbe der Regierung von SPD und Grünen 1998-2005.
Die Prekarisierung dient auch als Warnung an die Adresse von Stammbelegschaften und wirkt disziplinierend. Prekär Beschäftigte im täglichen Überlebenskampf haben in der Regel weder Zeit noch Kopf frei für systematische politische und oder gewerkschaftliche Betätigung. Die Herrschenden achten bislang darauf, dass sie die Stammbelegschaften bei Laune halten und nicht durch einen Generalangriff auf die Palme bringen bzw. auf die Barrikaden treiben.
Aber in der Arbeitswelt braut sich – quer durch die Bank – derzeit sehr viel Unzufriedenheit zusammen. Mobbing, innere Kündigung, Burn-Out und lebensgefährliche Erkrankungen schon im besten Alter nehmen zu. Die menschliche Psyche will vor allem Sicherheit und Planbarkeit des Lebens. Die Anforderungen der Arbeiterklasse an ihr Dasein sind eigentlich recht bescheiden: Arbeit zu menschenwürdigen Bedingungen, existenzsicherndes Einkommen, ein erschwingliches Dach über dem Kopf, Absicherung gegen Armut und Krankheit, in Würde alt werden, die Gewissheit, dass die nächste Generation eine sichere Zukunft hat. Aber das gibt das System nicht her. Dabei geht es nicht nur um die absolute Verelendung wie in Ländern der „3. Welt“ mit Hungertoten und extremer Armut; auch in der reichen BRD gibt es zunehmend Armut, Hunger, Mangelernährung, Obdachlosigkeit und Straßenkinder.
Ungeduld ist ein schlechter Ratgeber. Wo immer Gruppen von Arbeitern und Belegschaften kämpfen wollen und die lokale Führung und Gewerkschaftsapparate dies nicht bremsen, sind eindrucksvolle Arbeiterkämpfe auch mitten in Deutschland möglich. So etwa der Streik bei der Verpackungsfirma Neupack, Streiks im Einzelhandel und bei Amazon, beim Großkino Cinestar in Mainz und Frankfurt , um nur einige Beispiele zu nennen. Am 11. Dezember 2012 demonstrierten 3000 Arbeiter der Bodendienste aus europäischen Flughäfen vor dem EU-Parlament in Strasbourg gegen eine Richtlinie der EU-Kommission zur verschärften Liberalisierung der Arbeit. Die Hälfte von ihnen kam vom Flughafen Frankfurt. In diesem Bereich sind die Löhne in den letzten 20 Jahren schon im 20 Prozent gesunken.
Weil die herrschende Klasse in Deutschland die Lage noch relativ gut im Griff hat und nach der Methode „Teile und Herrsche“ vorgeht, bleibt es bisher bei Einzelkämpfen. Eine Verallgemeinerung findet derzeit nicht statt – anders als etwa im Juni 1996 oder April 2004, als jeweils eine halbe Million Menschen bei Gewerkschaftsdemonstrationen gegen die Regierungspolitik auf die Straße gingen. 1996 mobilisierte die gesetzliche Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall noch massenhafte Proteste und spontane Streiks in der gesamten Republik, weil es alle gleichermaßen und unmittelbar anging.
Die herrschende Klasse in Deutschland und ihre Führerin Angela Merkel führen sich in Europa wie ein Elefant im Porzellanladen auf, der soziale Errungenschaften und Gewerkschaftsrechte zertrampelt und „Reformen“, sprich Austerität und massenhafte Verarmung, durchdrückt. Im eigenen Land gehen sie bisher etwas vorsichtiger vor. Scharfe und brutalste Angriffe auf Gewerkschaften und den Lebensstandard der breiten Masse wie in Griechenland, Spanien oder Portugal haben sie bisher vermieden. So gehört es zur Bilanz der Regierung Merkel seit 2009, dass sie mit ihrer Politik vielfach auf einen direkten Angriff gegen die Gewerkschaften und Kernbelegschaften und einen spürbaren Abbau von Arbeiterrechten verzichtet hat. Im Gegensatz zu den früheren Sprüchen bürgerlicher Politiker und führender Funktionäre von Unternehmerverbänden vom „Gewerkschaftsstaat“ und den angeblich „allmächtigen“ Betriebsräten und Gewerkschaften hat diese Regierung „Reizthemen“ aus gewerkschaftlicher Sicht wie Betriebsverfassung, Kündigungsschutz oder Lohnfortzahlung nicht angerührt. Für eine Schwächung der Gewerkschaften durch das Vordringen prekärer Arbeitsverhältnisse hat die Vor-Vorgänger-Regierung unter Gerhard Schröder (SPD) und Joschka Fischer (Grüne) gesorgt. Viele Angriffe der letzten Jahre und Jahrzehnte wirken erst mittelfristig, verzögert und individuell – so etwa die mit der Riester-Rente einher gehende Kürzung der Rentenerwartungen, die Streichung der Berufsunfähigkeitsrente für Jahrgänge ab 1961 oder die Streichung zahlreicher gesetzlicher Leistungen in der Krankenversicherung.
Deutschland hat nicht nur millionenfach Autos, Maschinen oder Chemieprodukte in die europäischen Länder exportiert, sondern auch politische Artikel wie etwa die „Rente mit 67“, also eine massive Rentenkürzung, eine „Schuldenbremse“, also massive Austerität und Kahlschlag mit dem Zwang zur Privatisierung öffentlicher Einrichtungen. Es ist offensichtlich, dass die herrschende Klasse in Deutschland und ihre politischen Führer vor der Bundestagswahl 2013 nicht Öl ins Feuer gießen und große Proteste im eigenen Land provozieren wollen. Eher besinnen sie sich derzeit auf das deutsche Modell von „Mitbestimmung“ und „Sozialpartnerschaft“. Anstatt die Gewerkschaften frontal anzugreifen, zu schwächen und zu provozieren, lassen die Herrschenden sie bei der (in Deutschland noch relativ behutsam eingeleiteten) Abwärtsspirale lieber „mitbestimmen“. So hielt sich die Führung der IG Metall bei Demonstrationen für Vermögenssteuer und eine Umverteilung des Reichtums („UmFAIRteilen“) Ende September 2012 insgesamt ebenso zurück wie bei Solidaritätsaktionen mit den Generalstreik in Südeuropa am 14. November 2012. Zwar gab es in vielen Städten örtliche Kundgebungen zur Solidarität, aber die Vorbereitung und Mobilisierung durch die Gewerkschaften war weit unter den in Deutschland gegebenen Möglichkeiten.
Für viele arbeitende Menschen in Deutschland liegt die katastrophale Lage in Südeuropa subjektiv noch sehr weit von ihrem Alltag weg. Doch bürgerlicher Druck vielfältiger Art ist in der Klassengesellschaft allgegenwärtig: Angst um Arbeitsplatz, Angst vor Versagen, Angst vor Ausgrenzung. Ebenso der Druck auf Betriebsräte und individuelle Beschäftigte, auf Lohnbestandteile zu verzichten und den Flächentarifvertrag außer Kraft zu setzen, Zuckerbrot und Peitsche. Und der massive Anpassungsdruck auf die Gewerkschaftsapparate, die über Mitbestimmung in Aufsichsräte in das System eingebunden sind. Es gibt viele Situationen, in denen die Gewerkschaftsbasis vom Apparat ausgebremst wird. Es gibt aber auch Situationen, in denen Gewerkschaftsapparate zum Streik aufrufen und Betriebsräte Arbeitskämpfe ausbremsen. Entscheidend ist der Gegendruck von unten. Je mehr er sich aufbaut, desto mehr werden Klassenkämpfe auch hierzulande offen ausgetragen. Dabei werden auch bisher schwerfällige Apparate in Gang kommen. Bestes Beispiel hierfür: der alte ADGB-Vorsitzende und frühere eingefleischte Massenstreikgegner Karl Legien stellte sich 1920 an die Spitze des Generalstreiks gegen den Kapp-Putsch und bot sogar der USPD die Bildung einer Arbeiterregierung an.
In Deutschland führt kein Weg an den DGB-Gewerkschaften vorbei. Sie bleiben trotz schrumpfender Mitgliederzahlen (derzeit rund sechs Millionen Mitglieder) nach wie vor die entscheidende Kraft mit dem Potenzial, das die Gesellschaft verändern kann – ein schlummernder Riese. Berufsgewerkschaften, die manchmal oberflächlich militanter erscheinen als die großen Einheitsgewerkschaften, haben vielfach einen engeren Horizont und nehmen in breiteren gesellschaftspolitischen Fragen oft reaktionäre Standpunkte ein. Der Mitgliederschwund der DGB-Gewerkschaften in den letzten Jahren ist nicht zwangsläufig und hat objektive und subjektive Gründe. Wo systematische und motivierte Gewerkschaftsarbeit läuft und gekämpft wird, ist hoher Mitgliederzuwachs möglich. Im betrieblichen und gewerkschaftlichen Alltag rächt sich allerdings eine Entpolitisierung, die vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten in Betrieben und Gewerkschaften um sich gegriffen hat. So ist die vielfach vorhandene Passivität angesichts großer Angriffe auch ein Ausdruck politischer Hilfslosigkeit und Perspektivlosigkeit. Vielfach präsentieren sich die Gewerkschaften als geschichtslose Versicherungsunternehmen, die ihren Mitgliedern bestenfalls Rechtsschutz, Konsumentenrabatte, Sterbegeld- und Riester-Veträge anbieten und am 1. Mai Bratwürste grillen und Bier ausschenken.
Deutsches Mitbestimmungsmodell und deutsche Mitbestimmungskultur sind keine Ausgeburt der Vernunft, sondern Nebenprodukte revolutionärer Kämpfe. Betriebsräte entstanden als gesetzliche betriebliche Mitbestimmungsorgane, nachdem in Folge der Novemberrevolution 1918/19 die Arbeiterräte zerschlagen wurden. Die Kultur der überbetrieblichen Mitbestimmung gedieh nach 1945, als die Forderung nach Sozialisierung von Grundstoff- und Schlüsselindustrien weit verbreitet war. Daraus entstanden die Montan-Mitbestimmung und später das Mitbestimmungsgesetz von 1976 mit der formal paritätischen Besetzung von Aufsichtsräten. All dies ermöglichte sagenhafte Karrieren vom kleinen Arbeiter zum Manager. Co-Management ist nach wie vor weit verbreitet und hemmt den Klassenkampf. Betriebsräte sind im alltäglichen betrieblichen Kleinkrieg vielfach aber auch wichtige Bezugspunkte für Widerstand und Gegenwehr.
Ansätze zu Klassenbewusstsein sind bei den allermeisten Lohnabhängigen vorhanden. Bislang verhindern jedoch Angst, Unwissenheit, Trägheit, Illusionen oder mangelnder Leidensdruck einen breiten Ausbruch von Klassenkämpfen. Die Traditionen der deutschen Arbeiterklasse sind jedoch nicht nur von Unterwürfigkeit und extremer Geduld geprägt, sondern auch von heftigen Klassenkämpfen, von Generalstreiks 1920, 1923, 1948 und eindrucksvollen Arbeitskämpfen für die Verbesserung von Lebensstandard und Lebensqualität.
Scheinbare Passivität und oberflächliche Ruhe dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich auch hier sehr viel Unzufriedenheit über die sozialen Verhältnisse angestaut hat. Nur einige Beispiele: Nach 20 Jahren neoliberaler Offensiven ist die Stimmung in der Bevölkerung weitgehend gegen Privatisierungen eingestellt. In den letzten zehn Jahre gab es mindestens fünf erfolgreiche lokale und regionale Bürgerbegehren und Volksabstimmungen gegen Krankenhausprivatisierungen. Nun rückt bei Bürgerentscheiden zunehmend auch eine Rekommunaslisierung bereits privatisierter Bereiche in den Mittelpunkt. Viele deutsche Städte und Landkreise haben allerdings schon im Ansatz „griechische Verhältnisse“. Sie sind hoch verschuldet und finanziell am Ende und stehen unter dem Diktat der kommunalen Aufsichtsbehörden, die wie die Troika in Südeuropa nur eines fordern: kürzen und privatisieren. Es ist aber ein schleichender und verzettelter Prozess. Im Verhältnis zu Südeuropa sind die Verhältnisse noch stabiler und hat die herrschende Klasse noch Reserven und Trümpfe in der Hand und besseren Spielraum, um Zugeständnisse zu machen. Das wird sich ändern.
Reform oder Revolution?
Unser Programm muss sich als grundlegende Alternative zum Herumdoktern am Krankenbett des Kapitalismus verstehen. Unser Programm ist ein Programm zur revolutionären Überwindung des Kapitalismus, das unter den Bedingungen der Krise erstmals seit Jahrzehnten Masseneinfluss bekommen kann. Die Methode unseres Programms stützt sich dabei auf die Methoden, wie sie der revolutionäre Marxismus im Zuge der Geschichte der Arbeiterbewegung entwickelt hat. Unser Ziel ist die sozialistische Umwälzung der Gesellschaft. Das Konzept einer Trennung unseres Programms in zwei Teile, in “realistische Tageslosungen” und in die Vision von einer sozialistischen Gesellschaft als Fernziel, ohne zu erklären, wie wir zum Sozialismus kommen, endet letztlich in einer Politik, die im Rahmen des Kapitalismus bleibt. Auf der Grundlage dieser Gesellschaftsordnung gibt es aber unter den jetzigen Bedingungen der Krise, und das wird noch Jahre wenn nicht Jahrzehnte so bleiben, keinen Spielraum für eine reformistische Politik. Wer diesen Weg geht, wird letztlich die Rolle eines Anhängsels bürgerlicher Politikkonzepte einnehmen.
Unser Programm muss bei den konkreten Fragen des Klassenkampfs ansetzen, bei den konkreten Bedürfnissen der Lohnabhängigen. Es muss dem aktuellen Bewusstseinstand und den Grad der Mobilisierung der Arbeiterklasse Rechnung tragen und dies mit der Perspektive einer sozialistischen Umwälzung verknüpfen. „Die strategische Aufgabe der nächsten Periode – der vorrevolutionären Periode der Agitation, Propaganda und Organisation – besteht darin, den Widerspruch zwischen der Reife der objektiven Bedingungen der Revolution und der Unreife des Proletariats und seiner Vorhut (Verwirrung und Entmutigung der alten Generation, mangelnde Erfahrung der Jungen) zu überwinden. Man muss der Masse im Verlauf ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution. Diese Brücke muss in einem System von Übergangsforderungen bestehen, die ausgehen von den augenblicklichen Voraussetzungen und dem heutigen Bewusstsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und unabänderlich zu ein und demselben Schluss führen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat.“ (Leo Trotzki, Übergangsprogramm). Unsere Aufgabe ist nicht die Reform des Kapitalismus, sondern sein Sturz. In der heutigen Krise gibt es drei zentrale Fragen, von denen ausgehend ein sozialistisches Programm entwickelt werden kann:
Weltweit sehen wir, wie sich rund um diese Fragen eine Bewegung entwickelt, deren übergeordnete Losung “Wir zahlen eure Krise nicht!” lautete. Dieser Losung versuchen wir einen bestimmten Inhalt zu geben.
MarxistInnen müssen die Eigentumsfrage und damit verbunden die Frage der politischen Macht zum Thema machen. Die Verstaatlichung der Schalthebel der Wirtschaft (Bankensystem, strategische Industrien, Telekom, Transport, Großhandel) unter der Kontrolle der Arbeiterbewegung ist der Schlüssel zur Veränderung des Systems. Auf dieser Grundlage lässt sich die Wirtschaft neu ordnen und die Produktion zur Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen und nicht mehr länger nach der Profitlogik gestalten.
Jugendbewegungen und soziale Bewegungen
Im Zuge der Krise sahen wir bereits in den letzten Jahren weltweit eine Reihe von massiven Jugendprotesten (Chile, Quebec, Großbritannien, Indignados in Spanien oder die Occupy-Bewegung in den USA). Diese Bewegungen sind eine direkte Reaktion von großen Schichten der Jugend auf die bürgerlichen Antworten auf die Krise, die nicht zuletzt zu Lasten der Jugend gehen. Hohe Jugendarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit selbst für junge Menschen mit akademischem Abschluss, massive Erhöhungen bei den Studiengebühren, ein Leben in der „Prekarität“ mit unsicheren Arbeitsverhältnissen, überlangen Arbeitszeiten und schlechter Bezahlung. Alleine der Slogan „We are 99%“ zeigt einen wichtigen Sprung im Bewusstsein dieser neuen Generation.
Die Radikalität, mit der diese Bewegungen herrschende Verhältnisse anprangern und sich für eine Alternative zum „System“ aussprechen, sind ein neues Phänomen und Ausdruck veränderter objektiver Umstände. Diese Stimmung kann als direkter Ausgangspunkt für die Propagierung eines revolutionären Programmes angenommen werden.
Diese Protest waren fast durchwegs von der Dominanz seminanarchistischer Konzepte geprägt: “Basisdemokratie”, apolitische Vorurteile gegenüber allen Organisationen (auch solchen mit revolutionären Anspruch). Diese Bewegungen waren dadurch aber auch unfähig sich ein gemeinsames Programm und eine Struktur zu geben und mussten scheitern. Das Fehlen einer klaren Perspektive und die undemokratischen Strukturen ließen viele AktivistInnen früher oder später ermüden.
Kommt es jedoch zu einer Fusion dieser Bewegungen mit der organisierten Arbeiterbewegung, wie es in Griechenland teilweise und in Spanien in noch viel deutlicherer Form geschehen ist, sehen wir die völlige Transformation der Situation. Als der Kampf der wenigen tausenden Bergarbeiter nach Madrid getragen wurde, verwandelte sich die spanische Hauptstadt in einen vorrevolutionären Hexenkessel. Hunderttausende säumten bis tief in die Nacht die Straßen, in den nächsten Tagen kam es zu einer Welle spontaner Streiks und selbst im Repressionsapparat traten massive Proteste und sogar Sabotageakte auf. Die „indignados“ entdeckten innerhalb von Stunden die Zentralität der Arbeiterklasse und ihrer Kampfmethoden, um ihre sozialen und politischen Forderungen zu vertreten.
MarxistInnen betonen die Zentralität der Orientierung auf die Arbeiterklasse im Kampf gegen die „1%“. Wir negieren dabei aber auch nicht den Wert von Jugend- und Studierendenprotesten und unterstützen diese vorbehaltlos. Auch der Kampf um freie Bildung und gegen die Ökonomisierung des Bildungssystems ist vor allem auch ein wichtiges Anliegen der Arbeiterbewegung. Diese Bewegungen können aber nur erfolgreich geführt werden, wenn sie kollektive Kampfformen entwickeln, die der Arbeiterbewegung entlehnt sind (Streiks, Großdemos). Auch kommt es darauf an, dass sie bei der Arbeiterbewegung Unterstützung suchen und finden. Dies geht Hand in Hand mit demokratischen Organisationsmethoden, die mit dem Konzept der sogenannten “Konsensdemokratie” unvereinbar sind. Dazu gehören demokratische Debatten über Programm und Strategie, die mit einem Mehrheitsbeschluss enden müssen, damit die Bewegung entlang einer bestimmten Linie handlungsfähig sein kann. Auf dieser Grundlage gilt es SprecherInnen zu wählen, die die Bewegung nach außen vertreten können, dieser aber jederzeit rechenschaftspflichtig sein müssen und die auch wieder abwählbar sind.
Diese Bewegungen unterliegen immer Auf und Abs. Die Mehrheit der in einer Bewegung Aktiven kann nicht ewig auf der Straße demonstrieren oder Plätze besetzen. Der Erfolg einer Bewegung misst sich nicht zuletzt daran, ob es gelingt möglichst viele AktivistInnen dauerhaft auf der Grundlage einer sozialistischen Programms zu organisieren. In jeder Bewegung herrscht ein Wettstreit der Ideen, der ausgefochten werden muss. Unser vorrangiges Ziel in der Intervention ist es die erhöhte Politisierung zu nützen um die Kräfte des Marxismus zu stärken.
Welche Organisation wir wollen – und wie wir dahin kommen
Wir sind uns aufgrund der Erfahrungen der Geschichte der Arbeiterbewegung bewusst, dass die Überwindung des Kapitalismus nur möglich ist, wenn die Arbeiterklasse über Organisationen verfügen, die imstande sind, eine revolutionäre Bewegung zum Sieg zu führen. Das beste Beispiel liefert die Russische Revolution von 1917, als Negativbeispiel muss die gescheiterte Revolution in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg herhalten.
Es existiert heute keine Organisation, die diese Rolle einnehmen kann, aber als revolutionäre MarxistInnen versuchen wir durch unsere theoretische und praktische Arbeit einen Kern einer solchen Organisation in unserem Land herauszubilden. Die Aufgabe einer marxistischen Strömung in der Arbeiterbewegung muss es sein, alle Ansätze für eine klassenkämpferische Bewegung, die sich aus den Widersprüchen des Kapitalismus, die sich auch in den traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung widerspiegeln, weiterzuentwickeln und vorwärtszutreiben. Dies setzt voraus, dass MarxistInnen dort präsent sind, wo sich Klassenkämpfe entfalten. Wir machen das nicht nur aus einer Beobachterfunktion, wir kommentieren nicht nur von außen, sondern versuchen je nach Stärke unserer Verankerung in der Bewegung unseren aktiven Beitrag zum Erfolg solcher Kämpfe zu leisten. Wir begleiten diese Kämpfe mit unserem politischen Material (Zeitung, Flugblätter, Homepage, neue soziale Medien), analysieren diese Prozesse und machen auch Vorschläge, mit welchen Methoden diese Kämpfe aus unserer Sicht organisiert und geführt werden sollten. Damit wollen wir die Debatte in den Organisationen der Arbeiterbewegung und unter kämpferischen Belegschaften beleben. Die Erfahrungen und Lehren aus solchen Kämpfen versuchen wir zu verallgemeinern, damit sie Teil des kollektiven Gedächtnisses der Bewegung werden können.
Ausblick
Auf den ersten Blick schaut die Zukunft nicht allzu rosig aus: Die Wirtschaft steckt in der Krise fest, die Arbeiterklasse und die Gewerkschaften stehen unter enormem Druck, und es fehlt ihr an einer politischen Stimme, die den Herausforderungen dieser Epoche auch gerecht werden kann. Unsere Aufgabe als marxistische Strömung ist es aber die Prozesse in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zu verstehen. Unser Hauptinteresse gilt der Frage, welche Auswirkung diese Prozesse auf das Bewusstsein der ArbeiterInnen und der Jugend haben. Und dieses Bewusstsein wird in dieser Periode massiv erschüttert werden, etwas anderes ist unter den beschriebenen Bedingungen gar nicht möglich. Unter dem Eindruck von einem großen Ereignis nach dem anderen wird so die Basis für revolutionäre Prozesse entstehen.
Kollektiv die Perspektiven des Klassenkampfs auszuarbeiten, ist ein wichtiger Teil unserer politischen Arbeit. Sie sind die Arbeitshypothese, entlang der wir unsere Arbeit organisieren, und zeichnen ein größeres Bild von den Bedingungen unter denen wir politisch aktiv sind. Durch die Erfahrungen aus unseren Intervention in die Arbeiterbewegung, ihre Debatten und Kämpfe können wir auf der Basis von Ereignissen unsere Perspektiven konkretisieren und uns eine politische Klarheit erarbeiten, die es uns ermöglichen wird, möglichst wenig Fehler im Aufbau einer starken marxistischen Strömung in der Arbeiterbewegung und der Jugend zu machen. Den meisten AktivistInnen in der organisierten Arbeiterbewegung und der Linken fehlt eine weitergehendere Perspektive und haben daher kein klares Verständnis ihrer Aufgaben. Daran scheitern auch viele und ziehen sich dann wieder aus der politischen Aktivität zurück oder passen sich der Bürokratie an. Die marxistische Theorie und unsere langfristigen Perspektiven sind daher ein wesentliches Rüstzeug, um in diesen Zeiten vor lauter Bäumen nicht den Wald aus den Augen zu verlieren und frustriert aufzuhören. Geduldiges erklären steht heute auf der Tagesordnung, um Schritt für Schritt die Grundlage für eine starke marxistische Strömung zu legen.
Diese Krise stellt einen Epochenwandel in der Entwicklung des Kapitalismus dar und wird noch viele Erschütterungen bringen. Wir müssen uns politisch, organisatorisch und auch psychologisch auf diese Entwicklungen und die damit verbundenen Aufgaben vorbereiten. Die Frage ist nicht, ob überhaupt, sondern wann die relative Ruhe aufbrechen wird. Die bei manchen Linken spürbare Ungeduld und Frustration ist unangebracht. Es ist bezeichnend, dass seriöse bürgerliche Medien wieder von tiefer kapitalistischer Krise und der Aktualität des Marxismus reden. Wir müssen nicht die Klassenkämpfe und Bewegungen von außen künstlich anstoßen.„Agitieren, organisieren, studieren!“ lautet eine alte Parole der Arbeiterbewegung. In diesem Sinne müssen wir uns politisch und organisatorisch auf die unvermeidlichen Konflikte und gesellschaftlichen Explosionen vorbereiten.
Wiesbaden, 3. Juli 2013
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