-
Dieses Papier stützt sich auf die Broschüre „Deutsche Perspektiven 2016“ und die „Weltperspektiven 2016“. Es untersucht auf dieser Grundlage die jüngsten Entwicklungen und soll vor allem die Perspektiven im Wahljahr 2017 beschreiben.
-
Angesichts der Umbrüche, Turbulenzen und Erschütterungen der bestehenden Ordnung in aller Welt erschien Deutschland bislang als Hort der Stabilität und idyllische Hochburg der Sozialpartnerschaft. Aber kein Land und erst recht nicht Deutschland kann sich den Zwängen des kapitalistischen Weltmarkts und den damit einher gehenden internationalen Entwicklungen entziehen.
-
Zu den hervorstechenden internationalen Entwicklungen 2016 gehören das britische „Brexit“-Referendum und die Wahl Donald Trumps zum neuen US-Präsidenten. Beides geschah gegen den Willen der Mehrheit der herrschenden Klasse und beides wird große Auswirkungen auf die Position des deutschen Kapitalismus und Imperialismus haben.
-
Die USA galten bis vor kurzem als Hort des Antikommunismus und stabile Gesellschaft mit einer angepassten, manipulierten und unpolitischen Arbeiterklasse und Jugend. Dies hat sich vor dem Hintergrund der jahrelangen Verschlechterung der Lebensbedingungen für die Masse der Bevölkerung grundlegend geändert. Der millionenfache Zuspruch für Bernie Sanders in den ersten Monaten 2016 und die gewaltige Protestbewegung gegen den gewählten Präsidenten markieren einen Aufbruch hin zu einer neuen Epoche der Instabilität bis hin zu einer vorrevolutionären Krise. Die USA sind von einer inneren Unruhe erfasst wie seit 50 Jahren nicht mehr. In den USA versteht sich die heranwachsende Generation zunehmend als „working class“. Solche Entwicklungen zeichnen sind auch in anderen kapitalistischen Ländern ab und werden früher oder später auch Deutschland erfassen.
-
Es wäre falsch, Trumps Wahlsieg und die relative Stärke rechter, reaktionärer Parteien in anderen Ländern als Beleg für einen anhaltenden weltweiten „Rechtsruck“ heranzuführen. Der Begriff „Polarisierung“ ist angemessener. Noch nie hat seit Menschengedenken ein neuer US-Präsident mit derart schlechten Zustimmungswerten gestartet. Der Antritt Trumps hat nicht nur in den USA viele Menschen aufgerüttelt und aktiviert. So gingen als Reaktion auf Trump in Deutschland ab November 2016 binnen weniger Tage viele Menschen auf die Straße. SPD und LINKE verzeichneten Neueintritte. „Ich muss endlich was tun und mich einmischen“, sagen sich viele.
-
Der eigentlich von niemandem erwartete „Brexit“ machte die Akteure in Berlin und Brüssel zunächst sprachlos. Er markiert den Beginn einer Kehrtwende im Prozess der europäischen Integration durch die EU. Vergessen wir nicht, dass die EU ein Projekt der kapitalistischen Vereinigung vor allem unter der Vorherrschaft des deutschen Kapitals ist. Dieser Prozess ist über Jahrzehnte auch weit gediehen. Die damit einher gehenden Krisendiktate haben in vielen Ländern eine starke Anti-EU-Stimmung genährt und sind Wasser auf die Mühlen rechter nationalistischer Demagogen. Der französische Kapitalismus ist gegenüber Deutschland immer mehr ins Hintertreffen geraten und birgt große Instabilität in sich. Diese tiefe Krise wird früher oder später auch auf Deutschland abfärben.
-
Trumps Präsidentschaft rückt nach Jahrzehnten expandierenden Welthandels unter der Parole „America First“ wieder die Möglichkeit protektionistischer Vergeltungsmaßnahmen bis hin zu einem Handelskrieg auf die Tagesordnung. Der deutsche Kapitalismus, der sich bisher in seiner Rolle als „Exportweltmeister“ bzw. „Überschussweltmeister“ sonnt, ist darauf nicht vorbereitet. Damit einher geht nun der Trend zum Misstrauen gegenüber dem NATO-Partner USA sowie zu stärkerer militärischer Aufrüstung in Deutschland und Europa.
-
„Deutschland geht es gut“, behauptet Kanzlerin Angela Merkel und verweist auf die Schaffung vieler neuer Jobs und eine statistische Halbierung der Arbeitslosenquote seit ihrem Amtsantritt 2005. Derzeit verzeichnen die öffentlichen Kassen Einnahmeüberschüsse in Milliardenhöhe. Doch diese Erfolgsmeldungen stehen in einem Kontrast zu den bei Jahresbeginn stark sinkenden Zustimmungswerten für Merkel und die CDU/CSU. Dies ist bei genauerer Betrachtung kein Wunder.
-
Laut Statistik lag die offizielle Arbeitslosigkeit Ende 2016 bei 2,57 Millionen Menschen und damit unter fünf Prozent. Allerdings lag die wirkliche Zahl bei 3,54 Millionen Menschen und damit um knapp eine Million höher. Denn viele Personengruppen wurden aus der Statistik herausgefiltert. So Erwerbslose über 58, Ein-Euro-Jobber, Langzeitarbeitslose, Menschen in geförderten Arbeitsverhältnissen und in der beruflichen Eingliederung, Kranke und „schwer Vermittelbare“.
-
Noch vor der Jahrtausendwende spotteten viele über „amerikanische Zustände“ mit prekären „Mc-Jobs“ und Menschen, die wie im Hamsterrad von einem Teilzeitjob zum anderen hetzten und auf keinen grünen Zweig kommen. Inzwischen gibt es solche Zustände mitten in Deutschland. Zehn Millionen Menschen, jeder vierte Erwerbstätige, arbeiten in prekären Bedingungen zu Einkommen, von denen kein Mensch leben kann. Viele arbeiten unfreiwillig in Teilzeit und Minijobs und wünschen sich nichts sehnlicher als einen festen Job mit existenzsicherndem Lohn. Die Zahl der Leiharbeiter hat 2016 erstmals offiziell eine Millionen überschritten. Moderne Formen von Sklavenarbeit, Werkverträge und Scheinselbstständigkeit greifen um sich. Was an Berichten über die extreme Ausbeutung rumänischer und bulgarischer Arbeiter in deutschen Schlachthöfen oder als Lkw-Fahrer an die Öffentlichkeit dringt, ist nur die Spitze des Eisbergs.
-
Während Kanzlerin Merkel und die Bourgeoisie die Agenda 2010 anpreisen und davon keinen Millimeter abrücken wollen, spüren Millionen Menschen tagtäglich die Folgen direkt und indirekt. Die Angst vor dem Abrutschen in Hartz IV diszipliniert auch Stammbelegschaften und hat dazu beigetragen, die gewerkschaftliche Kampfkraft zu schwächen. Doch gleichzeitig zeigt sich, dass gerade auch Niedriglöhner in der Nähe der Hartz IV-Schwelle und Aufstocker zum Kampf bereit sind, wenn sich die Möglichkeit und gewerkschaftliche Infrastruktur bietet. Dies kam im Januar 2017 beim Streik der hessischen Busfahrer bei privaten und privatisierten Verkehrsunternehmen zum Ausdruck. Er dauerte zur Überraschung der meisten Beteiligten zwei Wochen und damit viel länger als zunächst geplant und war von einzelnen örtlichen Solidaritätsstreiks begleitet. Die Amazon-Streikbewegung für einen Tarifvertrag läuft inzwischen seit vier Jahren.
-
Das vermeintliche deutsche „Jobwunder“ mit dem gemeldeten höchsten Stand an Beschäftigung ist nicht nur statistischen Tricks geschuldet. Millionen Menschen sind unterbeschäftigt. Sie arbeiten wider Willen nur Teilzeit, obwohl sie Vollzeitarbeitsplätze suchen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die Entwicklung des Arbeitsvolumens. Dieses lag 2013 in Deutschland bei 58 Mrd. und 2016 bei knapp 59 Mrd. Arbeitsstunden pro Jahr. Der Wert ist allerdings gegenüber dem Jahr 2000 (knapp 58 Mrd.) nur unwesentlich gestiegen. Tatsächlich ist das Arbeitsvolumen in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1960 und 2008 fast identisch geblieben, obwohl das Erwerbspersonenpotential seit 1960 von rund 26 Millionen in der BRD auf derzeit 44,5 Millionen Personen angestiegen ist.
-
Neue Prognosen im Zuge des Projekts „Industrie 4.0“ gehen davon aus, dass in den kommenden Jahrzehnten bis zu 18 Millionen Arbeitsplätze durch Roboter ersetzt werden könnten. Demnach sind 59 Prozent aller Tätigkeiten durch Roboter-Einsatz und moderne EDV gefährdet. Der hohe Stand der Produktivkräfte hat längst die Grundlage geschaffen für eine klassenlose Gesellschaft mit massiver Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich sowie einem Recht auf Arbeit und menschenwürdigen Lebensbedingungen für alle. Im Kapitalismus jedoch wird so eine wachsende Reservearmee geschaffen, die unter prekären Bedingungen ihr Dasein fristet und in Zeiten des erzwungenen Nichtstuns von der Gesellschaft mit Brot und Spielen, einem Gnadenbrot, Sozialhilfe und Tafeln bei Laune gehalten werden soll. Aus solchen Überlegungen heraus unterstützen auch bürgerliche Kreise Modelle eines bedingungslosen Grundeinkommens.
-
Während Millionen im Kapitalismus keine Chance auf eine halbwegs „normale“ Erwerbsbiografie haben, erwerbslos oder unterbeschäftigt sind, leiden viele, die noch in relativ sicheren Arbeitsverhältnissen mit guten Einkommen beschäftigt sind, unter zunehmender Arbeitshetze, Mobbing und Leistungsverdichtung. Arbeit kann ebenso krank machen wie Arbeitslosigkeit. Burn-Out, Erschöpfung, Überlastungsanzeigen und die „Volkskrankheit“ Depression können alle treffen – die Verkäuferin und den Postzusteller ebenso wie die Krankenschwester, den Industriearbeiter oder die hochqualifizierte Bürokraft. „So halte ich es nicht bis 67 durch“, sagen sich viele und blicken bang in die Zukunft. Viele gehen frustriert zur Arbeit und haben längst die „innere Kündigung“ vollzogen.
-
Während in vielen ländlichen Regionen und in den deutschen „Rostgürteln“ Wohnraum leer steht oder unverkäuflich ist, nähren in vielen Ballungsgebieten zunehmend auch Wohnungsnot und der Mangel an bezahlbarem Wohnraum Existenzängste. Niedrigrenten und Altersarmut betreffen schon jetzt Millionen – vor allem Frauen – und werden Jahr für Jahr zu einem immer größeren Problem. Im Vergleich mit anderen west- und nordeuropäischen Industrieländern ist Deutschland längst zu einem Niedriglohnland mit den schlechtesten Rentenerwartungen verkommen. Krankheit und vorzeitige Berufs- und Erwerbsunfähigkeit sind mittlerweile ein hohes Armutsrisiko geworden.
-
So lässt sich auch verstehen, dass die Popularitätswerte von Kanzlerin Merkel und die Zustimmung zur CDU/CSU trotz „Jobwunders“ und „Exportweltmeisterschaft“ rückläufig sind und sich im Wahljahr 2017 eine gewisse Merkel-Müdigkeit breit macht. Inwieweit Parallelen zur „Kohl muss weg!“-Bewegung und Aufbruchstimmung des Jahres 1998 zum Tragen kommen, bleibt allerdings abzuwarten. Während auch die rechte AfD sich in einem rassistischen Zusammenhang die Parole „Merkel muss weg“ auf die Fahnen geschrieben hat, dürfte nun vor allem die SPD von einer Merkel-Müdigkeit profitieren und Schulz als scheinbar einzige realistische Option präsentieren, um Merkel im Kanzleramt abzulösen. So könnte sich das Hauptinteresse von arbeitenden Menschen und Jugendlichen in diesem Wahlkampf vor allem auf die SPD konzentrieren. Dies könnte auf ihre Weise auch AfD, Grüne und LINKE schwächen.
-
Dass die SPD seit der Nominierung von Martin Schulz zum Parteichef und Kanzlerkandidaten in Meinungsumfragen binnen weniger Wochen über zehn Punkte zugelegt und bis Redaktionsschluss weit über 10.000 neue Mitglieder aufgenommen hat, ist auch Ausdruck gesellschaftlicher und politischer Instabilität und Volatiliät. Schulz ist allerdings ein rechter Sozialdemokrat und Mann des Apparats, der die Agenda 2010 ebenso unterstützt hat wie die Politik der EU gegenüber Griechenland. Er ist kein deutscher Corbyn und kein deutscher Sanders. Er musste sich nicht als Wortführer eine linken Basisbewegung durchkämpfen und gegen alle Widerstände des Apparats behaupten, sondern wurde von oben durch Sigmar Gabriel und einen kleinen Zirkel in seine Position gehievt. Dass er mit der Forderung nach zaghaften „Korrekturen“ den Nerv vieler Arbeiter und Jugendlicher trifft, zeigt im Ansatz die Sehnsucht nach einem grundlegenden Kurswechsel auf. In der blinden Schulz-Euphorie sehen wir gleichzeitig aber auch einen Hinweis auf den anhaltenden Niedergang des politischen Niveaus der SPD-Basis, die sich im Glauben an eine Wunderwaffe an Schulz klammert und ihn fast wie einen Messias verehrt. Viele der heute aktiven SPD-Mitglieder sind erst während und nach der Ära Schröder eingetreten und aktiv geworden und schlucken dementsprechend in blinder Loyalität fast alles, was von oben kommt. Ein kämpferischer linker SPD-Flügel ist derzeit nicht in Sicht.
-
Martin Schulz hat als Fraktionschef der Sozialdemokraten und Präsident des EU-Parlaments seine Feuertaufe als Interessenvertreter des Kapitals bestanden und macht damit Merkel den Rang als „Krisenmanager“ streitig. Als im vergangenen Oktober die Wallonie kurzzeitig gegen CETA rebellierte, war er als Feuerwehrmann zur Stelle und bändigte erfolgreich die widerspenstigen Regionalpolitiker. Im Wahlkampf könnte ihm allerdings auch noch manches – auch Details aus seiner Vergangenheit – „auf die Füße fallen“.
-
Dass auch rechte Sozialdemokraten mit sozialen und radikal klingenden Phrasen polarisieren und mobilisieren können, ist keine neue Erscheinung. So setzte sich Gerhard Schröder in der heißen Wahlkampfphase im Sommer 2002 von der Kriegspolitik des US-Präsidenten George W. Bush ab und distanzierte sich vom anstehenden Irak-Krieg. Damit entriss er der PDS das wichtige Alleinstellungsmerkmal der „Friedenspolitik“ und erreichte bei der Bundestagswahl im September eine neue Mehrheit für die Koalition mit den Grünen, während die PDS mit vier Prozent aus dem Bundestag flog. Drei Jahre später, als die Agenda 2010 zu einer Abspaltung von der SPD in Form der WASG führte und die SPD die Landtagswahl in NRW haushoch verlor, wollte es Schröder noch einmal wissen und polarisierte im Wahlkampf für die vorgezogenen Bundestagswahlen so stark, dass die SPD am Ende einer rasanten Aufholjagd nur ein Prozent hinter der CDU/CSU lag.
-
Dieses Phänomen haben wir nach der Bundestagswahl 2005 schon in der Ausgabe 56 unserer Zeitschrift beschrieben: Wenn die Massen derzeit auf die SPD stinkesauer sind, dann deshalb, weil sie es von ihr „eigentlich“ anders erwarten. Das Verhältnis zwischen der Arbeiterklasse und der sozialdemokratischen Bürokratie ist vergleichbar mit dem Drama, das sich tagtäglich millionenfach in deutschen Familien abspielt: Lieschen Müller wird seit Jahrzehnten von ihrem Ehemann betrogen, geschlagen, missachtet und misshandelt. Schon mehrfach hat sie in Gedanken die Koffer gepackt und die Flucht vorbereitet. Doch immer wieder zögert sie im letzten Moment und gibt ihrem tyrannischen Heinz-Hugo eine neue Chance: „Jetzt hat er mir versprochen, dass er lieb zu mir ist. Er hat mir zu meinen Geburtstag einen Blumenstrauß geschenkt.“
-
Die SPD hat zwar aufgrund ihrer langen Tradition vor allem im Westen immer noch große soziale Reserven. Aber selbst ein SPD-Wahlergebnis im Bund von deutlich über 30 Prozent im September 2017 wäre noch bescheiden im Vergleich zu früheren Werten. Als Messlatte dient hier das Abschneiden von 1998. Damals errang sie bei einer hohen Wahlbeteiligung von über 82 Prozent knapp 41 Prozent der Zweitstimmen und als erste Partei in der deutschen Geschichte mehr als 20 Millionen Stimmen. Ein solches Niveau dürfte 2017 unerreichbar sein.
-
Bei näherer Betrachtung stellt Schulz natürlich nicht die Fundamente der Agenda 2010 und vor allem nicht das Hartz IV-Zwangs- und Repressionssystem in Frage, sondern will nur einzelne „Auswüchse“ stutzen. Damit möchte er vor allem die Stammbelegschaften und Facharbeiter beruhigen und Abtrünnige wieder einfangen. Wer in den Mühlen von Hartz IV gefangen ist, hat von Schulz nach Stand der Dinge nichts zu erwarten und scheint für die SPD-Bürokratie auch nicht mehr als wichtige Wählerklientel interessant zu sein, zumal unter erwerbslosen, ausgegrenzten Menschen die Wahlbeteiligung besonders niedrig ist. Schulz zielt in seinen Reden auf „hart arbeitende Menschen“ ab. Das taten Bill Clinton und Helmut Kohl auch. Wer arbeitslos, prekär oder unterbeschäftigt ist oder gesundheitlich bedingt früher in Rente gehen musste, ist damit offenbar nicht gemeint und hat wenig zu erwarten. Schulz möchte die herrschende Klasse nicht stärker zur Kasse bitten. Forderungen nach einer deutlich stärkeren Besteuerung der Unternehmen und Reichen weist er mit dem Hinweis auf eine notwendige europäische „Steuerharmonisierung“ von sich. Damit denkt auch Schulz nicht im geringsten daran, das in der Ära Kohl bis 1998 vergleichsweise hohe Niveau an Besteuerung des Kapitals und an Sozialleistungen wieder herzustellen.
-
Schulz soll vor allem zu einem SPD-Sieg bei der anstehenden Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen (NRW) am 14. Mai beitragen. NRW mit den traditionellen Industriezentren an Rhein und Ruhr ist das bevölkerungsreichste Bundesland und hat mehr Einwohner als die ehemalige DDR. Zum Jahresbeginn standen SPD und CDU hier gleichauf bei mageren 31 Prozent. Bis auf die Jahre 2005-2010 regiert hier die SPD seit 50 Jahren ununterbrochen, für sie steht hier also viel auf dem Spiel. Dass die Vordenker der herrschenden Klasse wie die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ mit ganzseitigen Zeitungsanzeigen selbst gegen die zaghaftesten Änderungsvorschläge von Schulz an der Agenda 2010 Sturm laufen, dürfte Schulz in einem von der sozialen und Klassenfrage geprägten Wahlkampf eher zugute kommen und Zulauf bringen. SPD-Siege in den Landtagswahlen im Saarland, Schleswig-Holstein und NRW wiederum könnten die Partei und ihre traditionelle Anhängerschaft in der heißen Phase des Bundestagswahlkampfs beflügeln.
-
Angesichts der Zerfransung des politischen Systems kann die herrschende Klasse die Wahlen relativ gelassen auf sich zukommen lassen. Natürlich wäre eine schwarz-gelbe Koalition aus CDU/CSU und FDP ihre Lieblingsoption, wie sie von 2009 bis 2013 bestand. So hat die herrschende Klasse auch nach der 4,8-Prozent-Niederlage der FDP bei der Bundestagswahl und dem Verlust all ihrer Bundestagsmandate die FDP durch finanzielle Spenden mit am Leben gehalten und dafür gesorgt, dass sie weiter eine Rolle spielen kann.
-
Die herrschende Klasse fürchtet nicht die sozialdemokratische Führung und weiß, dass diese unter Kanzler Schröder der Arbeiterklasse massive Verschlechterungen zugemutet hat, die unter einer CDU-Kanzlerschaft massive Proteste provoziert hätten. Dass sie mit fast jeder politischen Konstellation leben kann, zeigt die unterschiedliche Zusammensetzung der 16 Landesregierungen. Die SPD ist seit 1998 bis auf eine vierjährige Unterbrechung in der Bundesregierung vertreten. Sie stellt derzeit neun der 16 Regierungschefs der Länder und ist in weiteren vier Ländern als Juniorpartnerin in der Exekutive vertreten. So hätte sie in der jüngsten Tarifrunde für die Länder durchaus genügend Einfluss gehabt, um die von den Gewerkschaften und von Martin Schulz geforderte Beendigung sachgrundloser Befristungen und kräftige Lohnerhöhungen in den Tarifverträgen festzuschreiben, was jedoch nicht geschehen ist.
-
Eine Fortsetzung der Koalition aus CDU/CSU und SPD erscheint derzeit immer noch als die wahrscheinlichste Option. Dies wäre in einem Parlament mit möglicherweise sechs Fraktionen (Union, SPD, FDP, Grüne, LINKE, AfD) die stabilste Mehrheit, zumal es für Schwarz-Grün oder Schwarz-Gelb nicht reichen dürfte. Der „Schulz-Effekt“ könnte dazu führen, dass die SPD stärkster Partner wird. Dies würde neue interne Kämpfe innerhalb und zwischen den Unionsparteien auslösen. Auch wenn Schulz als Kanzler oder Vizekanzler sein Versprechen, „mehr Gerechtigkeit“ herzustellen, insgesamt nicht einlösen wird, könnte er sich mit kleinen und symbolischen Schritten eine gewisse Schonfrist erkaufen. So wären kleine Bonbons wie eine Verlängerung des ALG I vor allem für Ältere, Einschränkungen bei Befristungen und Leiharbeit oder eine mäßige Rentenanhebung vorstellbar. Vergessen wir nicht, dass schon die bisherige Regierungen Maßnahmen wie einen bescheidenen gesetzlichen Mindestlohn, Abschaffung der Praxisgebühr von 10 Euro oder Rente ab 63 nach 45 Versicherungsjahren beschlossen haben.
-
Sollten der gesellschaftliche Druck und die sichtbaren Klassenkämpfe massiv zunehmen, so würde die herrschende Klasse auch eine „rot-rot-grüne“ Regierung zur Verwaltung ihres Staates dulden. Eine solche Konstellation besteht bereits in Thüringen, Berlin und (ohne Grüne) Brandenburg , ohne dass ein Schub von Sozialreformen spürbar würde oder die Eliten gar zittern müssten. Bei allem dürfen wir nicht vergessen, dass die instabile Lage des deutschen, europäischen und Weltkapitalismus keinen Nährboden für Sozialreformen und stabilen Reformismus bietet. Eine solche Konstellation ist auch in weiteren Bundesländern und Kommunen möglich. Eine „rot-rot-grüne“ Bundesregierung erscheint in diesem Jahr jedoch sehr unwahrscheinlich. Schließlich bestehen in Fragen der Außen-, Europa- und Militärpolitik nach wie vor große Differenzen zwischen der LINKEN und SPD/Grünen und braucht die herrschende Klasse derzeit (noch) keine Sahra Wagenknecht oder andere, um aufmüpfige und aufbegehrende Arbeitermassen zu besänftigen. Unklare, wechselnde Mehrheitsverhältnisse und Minderheitsregierungen kommen aus der Sicht der herrschenden Klasse in einem für den Weltkapitalismus derart wichtigen Land nicht in Frage. Auch die Gewerkschaftsapparate bevorzugen „feste Verhältnisse“ und die Sozialdemokratie als Ansprechpartnerin in der Regierung.
-
Europaweit hat die herrschende Klasse Erfahrung mit der Regierungsbeteiligung linker, linkssozialistischer und kommunistischer Parteien – von Norwegen über Frankreich und Italien bis Griechenland. In aller Regel schwächten sich diese linksreformistischen Parteien dadurch erheblich. In Italien hat sich die Kommunistische Partei über die Jahre durch mehrere Regierungsbeteiligungen selbst demontiert und im Grunde überflüssig gemacht
-
Die nächsten Monate werden vom Wahlkampf bestimmt und geprägt sein und können noch viele Überraschungen und stärkere Stimmungsschwankungen bringen. Sechs Monate bis zur Bundestagswahl sind eine lange Zeit, in der national und international noch viel passieren kann. Die Bundestagswahl wird spannender als 2009 und 2013; damals war Merkel schon als Wahlsiegerin gesetzt und stand die SPD in der heißen Phase faktisch als Verliererin und Zweitplatzierte fest. So wird es vermeintliche „Wahlgeschenke“ durch Bundes- und Landesregierungen ebenso geben wie den intensiven Versuch von CDU/CSU und AfD, Fragen der „inneren Sicherheit“ sowie „Teile und Herrsche“-Parolen in den Vordergrund zu rücken und damit zu punkten. Auch mögliche Terroranschläge sind in der heutigen Zeit nie gänzlich auszuschließen und könnten zumindest vorübergehend Wasser auf die Mühlen der politischen Reaktionäre sein. Spektakuläre ökologische Skandale und Katastrophen wie Fukushima 2011 könnten vor allem den schwächelnden Grünen vorübergehend neuen Auftrieb bringen. Doch insgesamt werden eher soziale Fragen und insbesondere Altersarmut wie auch die Wohnungsfrage auf der Tagesordnung stehen, auch wenn die politische Rechte hartnäckig auf den Rassismus setzen wird.
-
Unangenehme Entscheidungen und Ankündigungen, die „Öl ins Feuer gießen“ könnten, werden Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft möglichst bis nach dem Wahltag zu verschieben versuchen. Dazu gehören auch Ankündigungen von Massenentlassungen und Betriebsschließungen. So ist nicht ausgeschlossen, dass es nach der Übernahme von Opel/Vauxhall durch PSA auch an deutschen Opel-Standorten „ans Eingemachte“ geht. Hier läuft die Beschäftigungssicherung Ende 2018 aus. Der Einstieg in die Autobahnprivatisierung im Interesse von Banken und Konzernen soll nach dem Willen der Bundesregierung offenbar noch im Frühjahr möglichst geräuschlos über die Bühne gehen.
-
Ein Einzug der AfD in den Bundestag wäre eine neue Qualität und ein historischer Einschnitt in der jüngeren deutschen Geschichte. Schließlich ist es bislang Rechtsparteien wie den Republikanern, NPD, DVU oder Schill-Partei trotz spektakulärer Erfolge bei Landtagswahlen nie gelungen, auf Bundesebene die Fünf-Prozent-Marke zu überspringen. In allen Landtagswahlen der letzten drei Jahre hat die AfD aus dem Stand die Fünf-Prozent-Hürde bei weitem übersprungen – auch das ist ein Novum. Mit einer AfD-Bundestagsfraktion wäre in Deutschland die „Normalität“ erreicht, die in vielen europäischen Ländern schon längst mit der Präsenz von Rechtsparteien in Parlamenten besteht.
-
Jüngste Entwicklungen belegen, dass es in der AfD einen faschistischen Flügel und heftige interne Konflikte gibt. Gleichzeitig deuten aber auch die schwankenden Umfragewerte für die AfD darauf hin, dass es sich hier nicht um einen monolithischen Block und eine allzeit treue und loyale Wählerbasis handelt. So sind auch hier neue Spaltungen und Zerwürfnisse unvermeidlich. Letzten Ende können reaktionäre Parteien und Bewegungen, die sich bei der Arbeiterklasse als ihre Interessenvertreter und „einzig wahre Anti-Establishment-Bewegung“ anbiedern, nur mit Klassenkampf und einem revolutionär-sozialistischen Programm gestoppt werden. Als im Frühjahr 2016 eine spontane Streik- und Protestwelle Frankreich erfasste, war die französische Front National wochenlang weitgehend gelähmt und verstummt. Während die Führung um Marine Le Pen aus Opportunismus „Verständnis“ für die protestierenden Arbeiter zeigte (von denen einige zu ihren Wählern zählen), unterstützte der rechte, bürgerliche Flügel offen die gewerkschafts- und arbeiterfeindliche Politik der SP-Regierung im Interesse einer Kostensenkung für die französischen Unternehmen.
-
Die herrschende Klasse und ihr Staat sind nicht per se faschistisch und hegen auch nicht die Absicht, ähnlich wie 1933 den Faschisten die absolute Staatsmacht zu übertragen. Zudem gibt es derzeit keine paramilitärische faschistische Bewegung im nennenswerten Umfang. Allerdings nimmt die herrschende Klasse bei einer Zuspitzung der Krise und der Klassenkämpfe gerne die Dienste von Faschisten als Hilfstruppen des Staates in Anspruch. Ihre Kader im Staatsapparat basteln insgeheim an Plänen für den Einsatz der Staatsorgane in einem Bürgerkrieg. Das jüngste NPD-Verbotsverfahren und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zeigen, dass die Staatsorgane keine Absicht haben, faschistische Organisationen aufzulösen und dass sie auch keinen effektiven Schutz vor faschistischem Terror bieten. Die Rolle der Staatsorgane und der V-Leute des Verfassungsschutzes bei der Alimentierung der Neonazi-Terrorbande NSU ist noch längst nicht vollständig aufgeklärt und wird von den Verantwortlichen weiterhin so weit wie möglich vertuscht. Von der rechten Szene ausgehende Anschläge und Psychoterror gegen Asylbewerber, MigratInnen und AntifaschistInnen gehören mittlerweile zum bundesdeutschen Alltag.
-
Es wäre falsch, von einem allgemeinen gesellschaftlichen Rechtsruck zu reden. Pegida ist nach einem Hype wieder weitgehend zusammengeschrumpft. Bis auf einen verbliebenen Rest in Dresden ist in anderen Städten kaum etwas übrig geblieben. Die großen Anti-TTIP-Demos im vergangenen September mit insgesamt 320.000 Menschen waren die größte Mobilisierung zu simultanen Massenprotesten seit gut einem Jahrzehnt. Proteste gegen das G20-Treffen in Hamburg werden im Juli wieder viele Menschen anziehen. Das Misstrauen gegenüber den Herrschenden ist größer geworden. Das Gefühl, dass es ungerecht zugeht, dass die Herrschenden heucheln und ihre eigene bürgerliche Demokratie aushöhlen, ist weit verbreitet.
-
Bis zur Bundestagswahl wird sich das Interesse vor allem auf die politische Ebene und die Hoffnung konzentrieren, per Stimmzettel etwas zu verändern. So liegen Monate vor uns, in denen wir in allen Ecken des Landes aufgeschlossene Jugendliche und arbeitende Menschen für unsere revolutionären Ideen begeistern können.
-
Die Krise des Kapitalismus schlägt sich in allen Lebensbereichen, Institutionen und Organisationen nieder, die das kapitalistische System tragen und stützen. Klassengegensätze und Klassenfragen kommen überall zum Vorschein und bereiten einen Nährboden für marxistische Ideen. 100 Jahre nach der Russischen Revolution, der Deutschen Revolution 1918-23 und der internationalen revolutionären Welle ab 1918 stehen wir am Vorabend neuer gewaltiger Erschütterungen und sozialer Explosionen. Es kommt darauf an, dass wir uns jetzt politisch und praktisch darauf vorbereiten.
-
Das Hauptproblem aber bildet nach wie vor das Fehlen einer revolutionären Führung der Massen und damit verbunden das Ausbleiben einer revolutionären Massenbewegung. Viele, die sich als Repräsentantinnen und Repräsentanten eines revolutionären Marxismus deklarieren und beanspruchen für den Sozialismus einzustehen, betreiben eine Politik, die Forderungen wie „Stoppt die Natoeinsätze“, „für die Rechte der Homosexuellen“ oder „für Tier- und Umweltschutz“ wie der Priester sein Ave Maria auf dem Rosenkranz herunter betet. Diese Forderungen sind aber für sich genommen nicht revolutionär oder gar marxistisch, sondern nur dann, wenn wir nicht einfach moralistische Forderungen wie Frieden im Zeitalter der größten Widersprüche des Kapitalismus erheben, sondern die Bedingung der Erfüllung einer solchen Forderung mit der sozialistischen Weltrevolution und einer aus ihr resultierenden sozialistischen Gesellschaft verbinden. Hierin liegt die spezifische Differenz einer revolutionären zu einer nichtrevolutionären Organisation und hierin zeichnet sich unsere Organisation als eine im philosophischen Sinne materialistische und nicht als eine idealistische aus.
-
Die linken Bewegungen in diesem Land haben es im Laufe der Zeit nach der Bewegung der „68er“ bis heute alle versäumt, die gegenwärtigen Probleme in unserem Land mit revolutionären Forderungen zu verknüpfen. Der Habitus der meisten Linken ist es, strikt auf einer pluralen Gesellschaft verschiedener Religionen zu beharren, anstatt eine allgemeine Kritik an Phänomenen wie der Religion überhaupt zu üben. In dieser und in vielerlei anderen Hinsichten (wie etwa der Privatsphäre, der Trennung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften) sind wir in unserem Land sogar hinter die Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft zurückgefallen.
-
Uns ist klar, dass wir die marxistische Theorie nach den Niederlagen und der Auflösung der östlichen Planwirtschaften im 20. Jahrhundert nicht einfach wie ein starres Dogma über die gegenwärtige Wirklichkeit streifen können. Dies wäre im übrigen alles andere als marxistisch. Nur in der dialektischen Erweiterung und Ergänzung aus theoretischer Reflexion und praktischer Erfahrung heraus wird sich aus den Widersprüchen des Kapitalismus organisch eine revolutionäre Bewegung erheben, für die wir den Dienst der Hebamme vollbringen möchten.