Dabei wird auch die „heilige Kuh“ kapitalistisches Privateigentum öffentlich in Frage gestellt. Veranstalter der Demo ist die Initiative für ein Volksbegehren zur Überführung der Wohnungsbestände von großen Wohnbaugesellschaften in öffentliches Eigentum. Betroffen wären Konzerne wie Deutsche Wohnen, Vonovia, ADO Properties, Covivio und Akelius. Damit soll der Berliner Senat gezwungen werden, die im Besitz profitorientierter Konzerne befindlichen Wohnungen zu vergesellschaften und in eine nicht profitorientierte Anstalt des öffentlichen Rechts (AöR) zu überführen. Die Verwaltung der Wohnungen soll unter demokratischer Beteiligung und Kontrolle von Belegschaft, Mietern und Stadtgesellschaft erfolgen. Eine Entschädigung an die betroffenen Konzerne soll „deutlich unter Verkehrswert“ gezahlt werden. Bis zum 13. Juni wollen die Initiatoren mindestens 20.000 Unterschriften von Einwohnern Berlins sammeln. Auch wir unterstützen diese Initiative mit aller Kraft.
Die Berliner Bewegung fand am 6. April ein bundesweites Echo. Auch im fernen München kamen knapp 500 Menschen zu einer Kundgebung auf dem Leonrodplatz gegen Wohnungsnot, Privatisierung, Spekulanten und Miethaie. Am Leonrodplatz wird gerade ein Kulturzentrum abgerissen. Auf dem Gelände sollen teure Luxuswohnungen entstehen. Den stärksten Beifall erhielt ein Sprecher der Berliner Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Immer dann, wenn das Wort Enteignung fiel, war der Beifall am stärksten. Die Teilnehmer kamen überwiegend nicht aus der linken Szene. Das zu registrieren ist wichtig. Der Funke verkaufte sich gut. Offensichtlich entsteht eine neue Offenheit für sozialistisches Gedankengut.
Hintergrund der neu aufgeflammten bundesweiten Protestbewegung ist der von Tag zu Tag größer werdende Mangel an erschwinglichem Wohnraum für Arbeiterfamilien, arme Menschen und selbst große Teile der Mittelschicht in Berlin wie auch den meisten anderen deutschen Großstädten. In den vergangenen Jahrzehnten wurden viele kommunale und bundeseigene Wohnungen privatisiert. Das hat die Not erheblich verschärft. Ein menschenwürdiges und bezahlbares Dach über dem Kopf ist aber kein Luxusgut, sondern ein Grundbedürfnis wie etwa Essen, Trinken, Kleidung, Arbeit und soziale Absicherung ohne Zukunftsängste. Der Kapitalismus kann diese Bedürfnisse nicht erfüllen.
„Wie brauchen eine groß angelegte Kommunalisierung beim Wohnungsbau und bei der Bereitstellung von Wohnungen, weil nur diese langfristig und auch in angespannten Situationen eine soziale Versorgung mit Wohnungen sicherstellen kann. Hierzu gehört auch eine Rekommunalisierung von Wohnungen, die einmal im öffentlichen Eigentum waren“, heißt es auf der Rückseite der Unterschriftenliste. „Ziel einer Vergesellschaftung ist die Schaffung von Gemeineigentum, weshalb Unternehmen in öffentlichem Eigentum oder in kollektivem Besitz der Mieter*innenschaft oder gemeinwirtschaftlich verwaltete Unternehmen rechtssicher ausgenommen werden sollen.“
Alles was Recht ist
Die Initiative beruft sich ausdrücklich auf Grundgesetz-Artikel 15. „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden“, heißt es darin wortwörtlich. Solche Aussagen finden sich in ähnlicher Form und teilweise noch konkreter in Landesverfassungen wieder. Sie erinnern daran, dass die Stimmung in Westdeutschland nach Kriegsende und Zerschlagung der Hitlerfaschismus radikalisiert war. Die Sehnsucht nach einem echten Neuanfang ohne Faschismus, Militarismus und Kapitalismus war in der Bevölkerung weit verbreitet. Daher ist auch Enteignung und Sozialisierung formal legal. „Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen“, heißt es in Grundgesetzartikel 14.
Doch an solche Tatsachen wollen Kapitalisten und bürgerliche Politiker unter dem Druck des Immobilienkapitals heute nicht gerne erinnert werden. Daher der „Shitstorm“, den das Wort Enteignung in diesen Kreisen ausgelöst hat. In der Fragestunde des Bundestags warnte Kanzlerin Merkel persönlich vor einer Enteignung. Michael Theurer, Vizechef der FDP-Bundestagsfraktion, nahm die aktuelle Debatte zum Anlass, um eine Grundgesetzänderung und ersatzlose Streichung von Artikel 15 zu fordern, „Dies würde die Achtung des Gesetzgebers vor dem Eigentum dokumentieren", so der Liberale. Der CDU-Wirtschaftsrat, also das direkte Sprachrohr des Kapitals, bezeichnete Enteignungen zum Kampf gegen Wohnungsnot als „Griff in die Mottenkiste des Sozialismus“. Auch andere in CDU/CSU wie auch die Rechtspartei AfD lehnten Enteignungen von Wohngesellschaften strikt ab. Ebenso sprach sich die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles im Namen ihrer Partei gegen Enteignungen als Maßnahme gegen steigende Mieten aus. Laut Nahles sei dies ein „zu langwieriger Prozess, der nicht zur Schaffung von Wohnraum beiträgt“. Generell werden in solchen Aussagen weniger Argumente aufgeführt als vielmehr dumpfe Vorwände geschürt und Phrasen gedroschen.
Selbst Grünen-Chef Robert Habeck wollte in einer wohldosierten Aussage Enteignungen als „letztes Mittel“ nicht ausschließen – als Option, wenn alle anderen Maßnahmen scheitern. Andere in seiner Partei, aber auch CDU und FDP kritisierten ihn dafür scharf. Die Spitze der LINKEN, die sich bisher mit Enteignungs- und Verstaatlichungsforderungen schwer tat, und viele Basismitglieder unterstützen das Berliner Volksbegehren. Eine Enteignung selbst schaffe zwar nicht mehr Wohnraum, sie sei aber ein „klares Signal an solche großen Immobilienkonzerne wie Deutsche Wohnen und Vonovia, dass sie mit ihren Geschäftspraktiken nicht einfach so weitermachen können wie bisher“, so die Parteivorsitzende Katja Kipping. Demgegenüber gab sich Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (LINKE) als Verteidiger des Privateigentums. Er findet die ganze Debatte laut Spiegel Online sogar „völlig überflüssig“. „Mit einem Überbietungswettbewerb mit dem Begriff Enteignungen, den im Übrigen der Regierende Bürgermeister von der SPD und nicht meine Partei begonnen hat, kommt man nicht weiter“, so Ramelow gegenüber der „Thüringer Allgemeinen“. Er brüstet sich also damit, dass die Enteignungsdebatte nicht von seiner Partei losgetreten worden sei. Außerdem sagte er im Bezug auf sein Bundesland: „Das ist nicht unsere Diskussion, wir enteignen im Wohnungsmarkt nichts. Wir kaufen. Ziel ist, in Thüringen den staatlichen Bestand an Wohnungen auszubauen”. Aufkaufen mit einer großzügigen Entschädigung für Kapitalisten ist allerdings etwas ganz anderes als Enteignung und somit letztlich ein Kniefall vor dem Kapital.
Heuchler
Der Aufschrei der Empörung, den das Wort Enteignung in bürgerlichen Kreisen auslöst, ist ein Ausdruck tiefer Heuchelei. Natürlich stehen auch in der bürgerlichen Gesellschaft der Bundesrepublik Enteignungen als ganz legales Mittel zur Durchsetzung übergeordneter politischer Ziele und Interessen auf der Tagesordnung. Besitzer von Grundstücken wurden und werden gegen ihren Willen enteignet, wenn ihr Stück Land einer Autobahn, Bahntrasse, Landebahn, dem Braunkohletagebau im Hambacher Forst oder der Europäischen Zentralbank in Frankfurt im Wege steht – das sehen Gesetze so vor. 2017 beschlossen Bundestag und Bundesrat auf Anregung des damaligen Landwirtschaftsministers Christian Schmidt ein Gesetz zur Enteignung von Lebensmittelbetrieben im Krisenfall. In der letzten Wirtschaftskrise wurden von der Regierung Merkel sogar Banken verstaatlicht, um später wieder zum Wohle des Kapitals privatisiert zu werden. Tag für Tag werden Millionen Kleinsparer faktisch enteignet – etwa wenn sie in die Mühlen der Hartz IV-Bürokratie geraten oder private Riester-Rentenverträge teilweise auf die Grundsicherung im Alter angerechnet bekommen. Faktisch enteignet werden auch alle Menschen, die bei chronischer Krankheit und Pflegebedürftigkeit alle Rücklagen und Ersparnisse auflösen und ihr Reihenhäuschen verkaufen müssen, weil die Pflegeversicherung die hohen Kosten nur teilweise abdeckt.
Die Überführung der Wohnungsbestände von großen Wohnbaugesellschaften in öffentliches Eigentum ist nicht nur ein wichtiger Schritt zur Sicherung von Wohnraum für die Masse der Bevölkerung und Verhinderung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Sie zeigt auch den Weg für andere Bereiche auf. So gehören auch Banken, Versicherungen und marktbeherrschende Konzerne in Industrie, Verkehr, Ernährung, Energie, Wasser, Handel, Bau, Telekommunikation und Medien sowie große Vermögen in Millionen- und Milliardenhöhe enteignet und vergesellschaftet, wenn wir ein menschenwürdiges Leben für alle garantieren wollen. Anders können wir die in ihnen steckenden Ressourcen nicht optimal im Interesse der Allgemeinheit lenken. Wir begrüßen von ganzem Herzen, dass endlich wieder öffentlich über solche Kernelemente eines sozialistischen Programms debattiert und gestritten wird.
Enteignung – aber konsequent!
Wir wollen den Kapitalismus nicht aufkaufen, sondern abschaffen. Es geht natürlich nicht um die Verstaatlichung kleiner Handwerksbetriebe, Imbissbuden oder Eigenheimer, sondern um die Enteignung der marktbeherrschenden Konzerne. Sie haben ihre Macht und ihr Vermögen nicht durch Ansparen, sondern durch Privatisierung, staatliche Förderung, Ausbeutung und Auspressen von Arbeitenden, Mietern und Kunden erreicht. Eine Entschädigung sollte daher nur bei erwiesener Bedürftigkeit der bisherigen Eigentümer und Aktionäre gezahlt werden.
Viele bürgerliche Kommentatoren, Politiker und „Experten“ zeigen sich in dieser neuen Enteignungsdebatte überzeugt, dass deutsche Richter Enteignungen von großen Wohnbaugesellschaften notfalls ausbremsen und stoppen würden, obwohl Grundgesetz und Landesverfassungen Enteignungen hergeben. Dies ist ein Hinweis darauf, wie sie ihren eigenen Staat als Wächter und Garanten des privatkapitalistischen Eigentums einschätzen und seinen Institutionen vertrauen. Darum können wir uns nicht darauf verlassen, dass die aus unserer Sicht notwendigen Enteignungen auf gesetzlicher und parlamentarischer Basis glatt über die Bühne gehen werden. Die Herrschenden werden immer versuchen, ihre Enteignung mit allen Mitteln zu torpedieren.
Die Frage von Recht oder Unrecht und der Auslegung von Gesetzen ist letzten Endes eine Frage des Kräfteverhältnisses zwischen den gesellschaftlichen Klassen. Wir brauchen massiven Druck, eine Ausweitung der Mieterbewegung, den Schulterschluss mit Gewerkschaften und anderen Massenbewegungen sowie nicht zuletzt eine revolutionäre Perspektive zum Sturz der Herrschaft von Großkonzernen und Milliardären, die bisher Wirtschaft, Gesellschaft und unser Leben beherrschen.
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