Kategorie: Theorie

Die Anziehungskraft Che Guevaras und die Begrenztheit des "Guerilla"-Kampfes

Was an einem Haufen Knochen dran sein soll, ist rational wohl kaum begründbar. Das Aufsehen um die Entdeckung der Gebeine Che Guevaras zu seinem 30. Todestag bestätigt aber: Tote leben länger. Die Anziehungskraft des argentinischen Revolutionärs auf Tausende, v. a. Jugendliche scheint ungebrochen. Trotzdem: Man stirbt nur einmal. Es stellt sich also die Frage, ob die Umstände von Che Guevaras Tod 1967 nur dem Zufall überlassen oder mit den von ihm entwickelten politischen Theorien und Methoden verbunden waren.

 

Nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in Europa begeisterte der argentinisch-kubanische Revolutionär Ernesto ("Che") Guevara ganze Generationen von Jugendlichen. Von allen nur erdenklichen bedruckbaren Oberflächen prangt noch heute sein Konterfei. Ein seit Jahrzehnten erfolgreiches Label, ganz ohne PR-Manager, das sich in Form des Umrisses seines Kopfes darstellt und den heldenhaften Kampf im Sinne der Gerechtigkeit repräsentieren soll. Gut verpackt ist halb gewonnen, so scheint's. Wenn aber von Che Guevara mehr bleiben soll als nur feuchtschwüle Projektionen von Heldentum, dann muss untersucht werden, welches "Produkt" sich unter der Verpackung verbirgt. Dieses Auspacken ist zwar nicht ganz so spannend wie zu Weihnachten, doch es geht immerhin um die Frage, mit welcher Taktik die ausgebeuteten Massen der exkolonialen Länder die Emanzipation durch eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft erreichen können. Außer Zweifel steht dabei, dass Che Guevara ein aufrichtiger und bedingungsloser Revolutionär war. Zitate wie "Es gibt kein Leben außer der Revolution" oder "Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam" sind nicht umsonst berühmt. Diese Kompromisslosigkeit und "Unbestechlichkeit" (im Vergleich zu den Stalins, Breschnews, Gorbatschows, Honeckers, Maos, aber auch den westeuropäischen Arbeiterführern) sind mit ein Grund für seine anhaltende Popularität. Dasselbe gilt auch für die vielen meist jungen LateinamerikanerInnen, die seinem Beispiel folgten und als Guerilleros starben. Ihr Engagement war allerdings außer in Kuba nur noch in Nicaragua von Erfolg gekrönt. Die Erfolglosigkeit aller anderen Guerillabewegungen in ihrem Versuch, die Gesellschaft grundlegend zu verändern, kann als direkte Folge des Versuchs, Che Guevaras Taktik des Guerillakrieges anzuwenden, angesehen werden. In seiner 1960 verfassten Schrift "Der Guerillakrieg" konzentriert er diese Taktik in drei "Lehrsätzen":

  1. Die Kräfte des Volkes können einen Krieg gegen das Heer gewinnen.
  2. Man braucht nicht immer zu warten, bis alle Bedingungen für eine Revolution gegeben sind. Der Aufstandsherd (foco) kann sie selbst schaffen.
  3. Im unterentwickelten Lateinamerika muss grundsätzlich das ländliche Gebiet Schauplatz der bewaffneten Auseinandersetzung sein.

 

Lenin oder Guevara?

Dabei wird augenscheinlich, wie sehr diese Doktrin im Gegensatz zu den Aussagen von Marx bis Lenin steht: Schon Marx bekräftigte im Kommunistischen Manifest, dass die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiterklasse sein könne. Grundlage für eine Revolution war für Marx immer eine Massenbewegung der Arbeiterschaft und ihre bewusste Organisation. Schon die I. Internationale war geprägt von der Auseinandersetzung der Marxisten mit den Anarchisten, die glaubten, die Organisierung der Massen durch den bewaffneten Kampf einer kleinen Gruppe ersetzen zu können. Revolutionen sind aber keine Ereignisse, die von großen Männern "gemacht" werden. Diese Überschätzung der Möglichkeiten einzelner "Retter der Menschheit" und das fehlende Vertrauen in die Arbeiterklasse, in ihre Bewusstseinsbildung und in ihre Stärke, sind die wichtigsten Merkmale der Guerillatheorie. Wer (wie Che Guevara) behauptet, die Bedingungen für eine Revolution selbst schaffen zu können, entledigt sich der mühsamen Aufgabe, die Gesellschaft und ihre sozialen Verhältnisse zu analysieren. Die fehlende Analyse der Klassenverhältnisse spiegelt sich auch in Che Guevaras Orientierung auf die Bauernschaft und in deren Überschätzung wider.
Lenin hob in der Analyse Russlands die Frage der Rolle der Bauern- bzw. der Arbeiterschaft in unterentwickelten Ländern hervor. Während er den bewaffneten Bauernkampf nicht grundsätzlich ablehnte, betonte er jedoch, dass die Arbeiterklasse, auch wenn sie zahlenmäßig in der Minderheit sei, die entscheidende Rolle spielen müsse. Da die Grundlage der Gesellschaft im Privateigentum an Produktionsmitteln liegt, kann nur die Arbeiterklasse eine Alternative in Form von vergesellschafteten Produktionsweisen entwickeln. Die Bauernschaft hingegen strebt in ihrem Kampf nicht mehr und nicht weniger als die Verteilung des Landes an, d.h. arme Bauern möchten in der Regel selbst Landbesitzer werden. Darüber hinaus ist selbst in einem Agrarland die Stadt das ökonomische und politische Zentrum der herrschenden Klasse. Diese Tatsache unterschätzend, bestand Che Guevara darauf, "den Kampf vom Land her in die Stadt zu bringen".

Warum siegte die kubanische Revolution?

Es wurde oft angeführt, das Guerillakonzept stellt eine Verallgemeinerung der erfolgreichen Erfahrung der kubanischen Guerilla zwischen 1956 und 1959 dar. Tatsächlich ist es aber mehr als übertrieben, aus der kubanischen Erfahrung den Schluss zu ziehen, eine kleine Gruppe von Männern und Frauen könnte die Bedingungen für eine Revolution selbst schaffen. Das von den heldenhaften Guerilleros um die Gebrüder Castro und Guevara bekämpfte Regime des kubanischen Diktators Batista war innerlich schon so morsch, dass es nicht nur jegliche Unterstützung der Bevölkerung, sondern auch die der herrschenden Klasse und der USA verloren hatte. Batistas Armee war so demoralisiert und kampfunwillig, dass die Zahl der Toten auf beiden Seiten erklecklich gering blieb. Auch der Mythos einer Bauernarmee und -bewegung, den Che auch nach der Revolution stetig nährte, entbehrt jeder Grundlage. Der Großteil von Che Guevaras und Fidel Castros Mitkämpfern bestand aus Intellektuellen und städtischen Kleinbürgern. Die kubanische Revolution wurde weder von Guerilleros noch von Bauern, sondern von der städtischen Arbeiterschaft besiegelt, die dem Aufruf zum Generalstreik folgte und damit Batista vertrieb. Der Sieg in Kuba war also nicht wegen, sondern trotz der Guerilla möglich.
Die Organisationsform, die sich eine Bewegung gibt - in diesem Fall die Guerilla - ist immer auch eine Vorwegnahme der politischen Organisation der neuen Gesellschaft. Es ist deshalb nur allzu logisch, dass Che Guevara, dessen Konzept völlig auf demokratische Strukturen verzichtete und den heldenhaften Einzelkämpfer ins Zentrum stellte, später, im revolutionären Kuba, das Wort "Sozialismus" mit vielem, aber nicht mit Demokratie und Arbeiterselbstverwaltung verband, obwohl diese Grundvoraussetzung für eine sozialistische Gesellschaft sind: "Die Initiative geht im allgemeinen von Fidel oder den größten Führern der Revolution aus (...)" Entscheidungen werden getroffen, indem Fidel in einen "Dialog mit den Massen" tritt. Statt Demokratie im Betrieb gibt Che Guevara alle Kompetenzen dem Fabriksdirektor, und zwar "in allen Phasen der Planung, der Organisierung und Kontrolle (...)".
Obwohl Che Guevara ab einem gewissen Zeitpunkt erkannte, dass die Sowjetunion nur die Karikatur eines Sozialismus repräsentierte, verließ er, anstatt die Kritik mit einer tiefergehenden Analyse zu verbinden, nach Meinungsverschiedenheiten mit Fidel Castro Kuba. Er versuchte daraufhin sein Konzept des Guerilla-Krieges wie einen Plan X zu wiederholen, zuletzt in Bolivien. Ohne die Situation in diesem Land genauer zu analysieren, begab er sich dort in die Berge und begann den Kampf. Entsprechend seiner Theorie versuchten er und seine MitkämpferInnen, dem Land eine revolutionäre Veränderung abzutrotzen, ohne darauf zu warten, "bis alle Revolutionsbedingungen gegeben sind." Jeder der eine Kindheit selber durchlebt hat - und das hat grob geschätzt die absolute Mehrheit der Erwachsenen - weiß jedoch: Wer nur trotzt, kriegt gar nichts. Auch wenn es eigentlich etwas zu holen gäbe. Kein Zufall also, dass es just zu dem Zeitpunkt, als Che Guevara in den Bergen war, in Bolivien äußerst viel zu "holen" gegeben hätte: Die größte Protest- und Streikbewegung der Arbeiterklasse seit Jahren überzog das Land - Che Guevara nahm nicht einmal Notiz davon. Nach einigen Monaten Kampf wurde Che Guevara gefaßt und 8. Oktober 1967 erschossen.

30 Jahre nach seinem Tod gibt es nur einen Schluss: entscheidende Voraussetzung für den revolutionären Kampf sind nicht in erster Linie genaue Gelände- und Waffenkenntnisse, sondern die exakte Analyse des "sozialen Geländes" der Gesellschaft und ihrer Klassengegensätze sowie die Orientierung auf die wichtigste "Waffe" in diesem Gegensatz, nämlich die kollektive Organisierung der Arbeiterklasse.
Che Guevara ähnelt den mittelalterlichen Ärzten, die - ohne Kenntnis von wissenschaftlichen Diagnosemethoden - bei schweren Krankheiten Aderlässe durchführten. Die Medizingeschichte weiß, dass - obwohl die Ärzte aufrichtig um das Wohl des Patienten kämpften - diese Methoden selten und wenn, dann nur zufällig von Erfolg gekrönt waren. Che Guevaras Guerillataktik brachte Tausende von Revolutionären zum Aderlass, ohne den gewünschten Erfolg herbeizuführen. Tragisch und unentschuldbar ist dabei nur, dass genauso wie den heutigen Ärzten Che Guevara und seinen Nachfolgern die Instrumente einer genauen "Diagnose" zur Verfügung gestanden hätten; Instrumente, die in den Werken von Marx bis Lenin und Trotzki und in den Traditionen der organisierten Arbeiterklasse ihre Grundlage haben.

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