Was tun gegen die humanitäre Katastrophe
Erinnern wir uns: Solche Bilder dienten vor noch nicht allzu langer Zeit als Propagandavorwand für militärisches Eingreifen und Kriegseinsätze der Bundeswehr mit dem vorgeblichen Ziel, eine „humanitäre Katastrophe“ zu vermeiden. So zeigten die Fernsehsender im März 1999 eine über einen verschneiten Berg im Kosovo mühsam stapfende Flüchtlingskarawane und rechtfertigten damit den Angriffskrieg gegen Serbien, angeblich um diesen Menschen zu helfen. 2001 diente das Video einer Hinrichtung einer vermeintlichen „Ehebrecherin“ in Kabul als Vorwand für die Beteiligung der Bundeswehr am Krieg in Afghanistan. „Wir können doch nicht mit ansehen, wie sich da eine humanitäre Katastrophe zuspitzt, wir müssen was tun“, hieß es stets gebetsmühlenartig. Und: „Die Weltgemeinschaft kann da nicht wegsehen.“
Solche moralischen Argumente im Sinne der Menschenrechte haben inzwischen für die Herrschenden längst ausgedient. Heute müssen wir Tag für Tag mit ansehen, wie Flüchtlinge um ihr Leben ringen und die einzige Konsequenz der Herrschenden im angeblich ach so „zivilisierten“ Westen ist: Haltet uns das Elend notfalls mit Waffengewalt vom Leib! Zieht Stacheldrahtzäune und Mauern hoch! Blockiert die Balkanroute!
Unterlassene Hilfeleistung
Das Elend ist mit Worten kaum zu beschreiben. Es wäre für Deutschland und andere reiche Länder in Mittel- und Nordeuropa kein Problem, die Flüchtlinge, die bei Redaktionsschluss schon wochenlang in Idomeni, anderswo in Griechenland oder der Balkanroute festsitzen, im Dreck leben, hungern und krank werden, rauszuholen und sie rasch in Deutschland oder anderswo in Europa menschenwürdig unterzubringen und zu versorgen. Und es wäre schon gar kein Problem, die nötigen Unterkünfte, Schul- und Kindergartenplätze, Freifahrt, Freizeiteinrichtungen usw. zu schaffen, wenn endlich die Reichen, die Banken und Konzerne ordentlich besteuert würden, wenn die Politik endlich die Bedürfnisse von Menschen über den Profithunger des Kapitals stellen würde.
Die Menschen brauchen Hilfe, die Grenzen müssen geöffnet werden, aber das wird nicht gemacht. Doch stattdessen werden wir Zeugen einer unterlassenen Hilfeleistung, die nach dem deutschen Strafgesetzbuch mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr geahndet werden kann. Wo man vorher das Völkerrecht gebrochen hat, wird es jetzt vollkommen außer Kraft gesetzt.
Lieber lassen die EU-Staats- und Regierungschef jetzt die Türkei die Drecksarbeit verrichten und die Flüchtlinge um jeden Preis von einer Weiterreise nach Europa abhalten. Der jüngste Deal zwischen den EU-Regierungen und der Türkei hat für die Flüchtlinge fatale Folgen. Dabei belegen Menschenrechtsorganisationen, dass in der Türkei massive Menschenrechtsverletzungen gegen syrische Flüchtlinge zum Alltag gehören. Seit Jahren gibt es illegale Inhaftierungen und Abschiebungen nach Syrien. Flüchtlinge haben keine Rechte und kein Asylrecht. Bestenfalls wird ihnen der Aufenthalt zugestanden.
Wie ist die Lage in Syrien?
Von den bisher 22 Millionen syrischen Staatsbürgern sind mehr als die Hälfte, also über elf Millionen, auf der Flucht. Die meisten sind Binnenflüchtlinge. Innerhalb Syriens sind sie ständig der Gefahr ausgesetzt, zu verhungern, durch Bomben getroffen oder versklavt, gefoltert oder getötet zu werden. Diese Menschen fliehen aus ihrem Land. 2,5 Millionen sind derzeit allein in der Türkei, nur eine Million hat es bisher überhaupt nach Mitteleuropa geschafft.
Was ist der Kern der Änderungen am Asylrecht?
Schon 1993 beschloss der Bundestag eine massive Einschränkung des Asylrechts. Das jüngste Asylpaket setzt diesen Kurs fort. Dazu gehören beschleunigte und schnellere Abweisungen und Abschiebungen. Die schikanöse Residenzpflicht, also die europaweit einzigartige Verpflichtung für Asylbewerber in Deutschland, sich nur in einem Landkreis oder Bundesland aufzuhalten, soll nun verschärft zum Tragen kommen. Wer dagegen verstößt, also seinen Fuß auf einen Nachbarlandkreis stellt, hat sich schon bisher einer Straftat schuldig gemacht. Jetzt sollen solche Verstöße dazu führen, dass man vom Asylrecht ganz ausgeschlossen wird.
Heiligenschein
Seit ihrem „Wir schaffen das“ im vergangenem Sommer hat Bundeskanzlerin Angela Merkel quasi einen Heiligenschein. Doch ihre vermeintlich „fortschrittliche“ Flüchtlings- und Europapolitik ist nicht moralisch motiviert, sondern vor allem von Wirtschaftsinteressen gelenkt. Das Kapital ist nicht grundsätzlich gegen Migration. Es ist vor allem an billigen, qualifizierten und gefügigen Arbeitskräften und an einem freien Waren-, Kapital- und Personenverkehr im Schengen-Raum interessiert, nicht aber am Schicksal von Menschen.
Auf der Flucht alles verloren
Nach den AfD-Wahlerfolgen haben viele Asylbewerber, deren Verfahren noch läuft, Angst vor einer möglichen Abweisung und Abschiebung. Eine enorme Verunsicherung hat sich breit gemacht. Die Propaganda der Rechtsparteien gegen Flüchtlinge zielt auf ein Teile und Herrsche ab. Fallen wir nicht darauf herein. Denn es geht nicht um Deutsche und Einheimische contra Flüchtlinge, sondern um Oben und Unten in der Klassengesellschaft und die Interessen der abhängig Beschäftigten unabhängig von der Herkunft. Die hier ankommenden Flüchtlinge haben spätestens durch die Flucht alles verloren. Viele hatten zuvor eine wirtschaftliche Existenz. Nun sind sie doppelt in einer schwierigen Situation. Sie haben objektiv die gleichen Interessen wie einheimische abhängig Beschäftigte und aufgrund der Sprache noch schwerere Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt. Wir dürfen uns nicht entzweien lassen.
Fluchtursache Kapitalismus
Mittlerweile reden Merkel und die meisten Parteien über Fluchtursachen, die man beseitigen wolle, koppeln diese jedoch von strukturellen Ursachen ab. Viel weiter kommen sie nicht. Sie reden oberflächlich vom Krieg in Syrien, nicht aber über seine tieferen Ursachen und die materiellen Interessen der Kriegstreiber. Wenn wir uns die Fluchtursachen weltweit Lage ansehen, so sind sie in den allermeisten Fälle direkt oder indirekt Folgen des kapitalistischen Systems, das für viele den Alltag zur Hölle macht. Wer von Kapitalismus nicht reden will, der sollte auch zur Beseitigung von Fluchtursachen schweigen.
Wenn aber allen Menschen geholfen werden soll, die in Afrika, in Zentralasien oder im Mittleren Osten zur Flucht gezwungen sind, so müssen wir die Fluchtursachen bekämpfen und nicht die Opfer und Geflüchteten. Deshalb: Schluss mit Waffenexporten! Nein zum Krieg! Nein zur Unterstützung von Diktatoren! Nein zur wirtschaftlichen Ausbeutung dieser Regionen! Nein zur kapitalistischen Weltunordnung und Herrschaft der weltumspannenden Konzerne, Banken und Versicherungen! Nehmt ihnen die Welt aus der Hand!
Nach dem Kaiserschnitt zurück in das schlammige Zelt
Humanitäre Katastrophe in Idomeni: Warum hilft kaum jemand?
Eine freiwillige Helferin schreibt aus Microdassos, etwa 7 km vor Idomeni, an der griechisch-mazedonischen Grenze
Seit einiger Zeit versuchen wir den derzeit etwa 10.000 Geflüchteten vor der mazedonischen Grenze ausharren zu helfen. Die Zustände hier sind zum Kotzen und wir fragen uns täglich aufs Neue, warum kaum jemand hilft (Kirchen, NGOs, etc.). Täglich kochen wir für 5000 bis 8000 Menschen Suppe und teilen diese unter chaotischen Zuständen aus. Zudem sammeln und verteilen wir Kleidung, Schuhe, Decken, Wasser, Hygieneartikel. Wir verteilen in Idomeni selber, aber auch an den mit Zelten zugestellten Tankstellen und anderen Spots. Vorgestern haben wir ein Kinderzelt im Camp von Idomeni aufgestellt, in dem wir den ganzen Tag lang mit Kindern spielen. Derzeit versuchen wir Spielsachen, Bastelmaterial, etc. zu bekommen. Wir improvisieren und basteln teils Spielzeug aus Müll. Zudem kümmern wir uns um inhaftierte minderjährige unbegleitete Geflüchtete, die in den umliegenden Gefängnissen auf eine Verlegung in Unterkünfte warten. Wir dokumentieren Misshandlungen und machen täglich Besuche (mit Dolmetscherin wenn möglich), bringen ihnen Süßigkeiten, Informationen und Sim-Karten. Das griechische Dorf, in dem wir untergebracht sind, hilft uns sehr, und an den kurzen Abenden in der Bar versuchen wir bei Ouzo und Grappa zusammen mit den GriechInnen diese humanitäre Katastrophe, die sich hier abspielt, zu vergessen. In einer Menschenschlange während der Ausgabe von Schuhen an Kinder und Jugendliche fiel eine 15-Jährige in Ohnmacht. Ich streichle frierende alte Leute (letzte Woche beim Dauerregen) und knuddle Kinder mit zu großen Schuhen, die keine Socken haben. Schwangere Frauen werden bei Einsetzen der Wehen in eine Klinik gebracht und 48 Stunden später (auch bei Kaiserschnitt) wieder ins Flüchtlingslager zurück gefahren, in ihre schlammigen Zelte. Viele Kinder leiden unter Durchfall, müssen sich übergeben, haben Läuse. (Quelle: Facebook)
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