Kategorie: Deutschland |
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SPD-Strohfeuer mit Schulz? |
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Dass der SPD-Apparat jetzt auf die „Wunderwaffe“ Martin Schulz setzt und sich voller Optimismus zum Ende dieser Woche an einem gesteigerten Umfragewert von 23 Prozent erwärmen kann, wirft ein Schlaglicht auf den Zustand der ältesten Partei Deutschlands. |
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Erinnern wir uns: 23 Prozent sind der bisherige Tiefstand der Partei bei allen Bundestagswahlen seit 1949. So viel errang die Partei 2009 unter ihrem Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier, der demnächst zum Bundespräsidenten gekürt werden soll. Die Sozialdemokratie rutschte damit erstmals unter zehn Millionen Zweitstimmen ab. Nur 11 Jahre zuvor hatte die Sozialdemokratie im September 1998 mit 20 Millionen Zweistimmen und einem Anteil von 40,9 Prozent einen glänzenden Wahlsieg eingefahren. Das bisher höchste Wahlergebnis verzeichnete die SPD übrigens 1972 in der alten Bundesrepublik mit einem Anteil von 45,8%. Damals hatte sie noch über eine Million Mitglieder. Inzwischen bewegt sich die Zahl der Menschen mit SPD-Parteibuch eher auf 400.000 zu. Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Thüringen blieb die Partei mit Werten zwischen 10 und 13 Prozent weit abgeschlagen. Dass die einst so stolze SPD ihre Basis an Wählern und Mitgliedern glatt halbiert hat, ist hausgemacht. Sie hat sich diesen Niedergang mit ihrer Regierungspolitik selbst eingebrockt. Eine ältere Generation, die noch loyal zur Partei hält, kann sich noch an die 1970er Jahre erinnern, als es auf der Grundlage eines starken kapitalistischen Wirtschaftsaufschwungs unter SPD-geführten Regierungen tatsächliche Reformen und Verbesserungen von Lebensstandard und Lebensqualität der arbeitenden Menschen gab. Doch seit den 1990er Jahren setzte sich auch in der SPD-Führung endgültig die nackte neoliberale Ideologie durch. Unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder von 1998 bis 2005 und der Großen Koalition 2005 bis 2009 wurden weitgehende Angriffe auf sozialstaatliche Errungenschaften – so etwa Agenda 2010, Riester-Rente, Rente erst ab 67 und Privatisierungen – umgesetzt, die bis heute nachwirken und Millionen Menschen aus der Arbeiterklasse von der SPD entfremdeten. Wer A sagt, der muss auch B sagen. Wer Ja zum Kapitalismus sagt, der akzeptiert auch sein Krisendiktat und seine vermeintlichen „Sachzwänge“. Der langfristige Niedergang der SPD ist Teil eines internationalen Prozesses. So hat sich die Sozialdemokratie in Griechenland, Frankreich, Spanien, Österreich, Belgien, den Niederlanden und anderswo durch ihre eigene kapitalfreundliche und arbeiterfeindliche Politik und Regierungsbeteiligung von ihrer Basis entfremdet und selbst demontiert. Ein Rückblick auf die jüngere SPD-Geschichte zeigt, dass die einst aus der Arbeiterbewegung heraus unter großen Opfern aufgebaute älteste Partei Deutschlands seit den 1990er Jahren längst von Instabilität, Unruhe und einer Erosion erfasst wurde. Der bis 1991 amtierende Hans-Jochen Vogel war der letzte Parteivorsitzende, der „ehrenhaft“, mit erhobenem Haupt und aus Altersgründen ausschied. Seither hat die Partei in 26 Jahren zehn Vorsitzende verschlissen: Engholm, Scharping, Lafontaine, Schröder, Müntefering, Platzeck, Beck, wieder Müntefering, Steinmeier, Gabriel. Sie wurden alle einst als „Hoffnungsträger“ und vermeintliche „Wunderwaffe“ auf Schild gehoben, nahmen aber nach durchschnittlich nur zweieinhalb Jahren wieder ihren Hut. All dies erfolgte nicht unter „normalen“ Umständen Als Björn Engholm 1993 wegen einer landespolitischen Affäre zurücktrat, machte der ratlose SPD-Parteivorstand aus der Not eine Tugend und besann sich auf der Suche nach einem neuen Parteichef auf das Instrument einer Mitgliederbefragung und Urwahl. So wurde Rudolf Scharping neuer Parteichef. Drei Jahre später wurde er beim Mannheimer Parteitag im Wahlduell von seinem Herausforderer Oskar Lafontaine verdrängt. Was 1993 als demokratische Basisbeteiligung präsentiert und gefeiert wurde, hat aber längst ausgedient. Die Kür neuer Parteichefs, Kanzlerkandidaten und vermeintlicher „Wunderwaffen“ erfolgte in aller Regel handstreichartig durch allerkleinste, abgehobene Zirkel. So auch die jüngste Nominierung von Martin Schulz. Jetzt soll er die Wende bringen und die Partei aus dem „Tal der Tränen“ führen. Wenn man den Insiderberichten glauben darf, hat die Nominierung von Schulz in Bundesfraktion, Parteiapparat und weiten Teilen der Mitgliedschaft bis hin zu den Jusos große Begeisterung ausgelöst. Er verkörpere glaubwürdig die Rückbesinnung der Partei auf die Nöte der „kleinen Leute“ und das Kernthema der „sozialen Gerechtigkeit“ und könne mit seinen rhetorischen Fähigkeiten der Kanzlerin und Titelverteidigerin gefährlich werden, hoffen viele. Wozu die eigene Politik in Frage stellen und die Niederlagen kritisch aufarbeiten, wenn es ein Martin Schulz richtet und Berge versetzen kann? Vor allem in seiner Heimat Nordrhein-Westfalen, wo die SPD in ihrer einstigen Hochburg derzeit bei laschen 32 Prozent vor sich hindümpelt und im Mai ein neuer Landtag gewählt wird, setzt man offenbar auf seine „magischen Kräfte“, mit denen er das Blatt noch einmal wenden soll. Im Gegensatz zu anderen Strippenziehern im Parteiapparat hat der gelernte Buchhändler Schulz kein Abitur gemacht und keine Hochschule besucht und ist somit auch nicht von der Uni direkt in den Bundestag gewechselt. Doch Wurzeln in der Arbeiterklasse hatten andere „Hoffnungsträger“ vor ihm wie Schröder, Müntefering und Beck auch. Als klassische sozialdemokratische Emporkömmlinge haben sie sich alle prächtig mit der herrschenden Klasse arrangiert und deren Bedürfnisse verinnerlicht. Ihr individueller Aufstieg aus der Arbeiterklasse in allerhöchste Staatsämter ging einer mit einem Abstieg von Millionen arbeitenden Menschen in das „Prekariat“ und in die drohende Altersarmut, an dem sie tatkräftig mitwirkten. Die größten Sozialabbauprojekte der letzten Jahrzehnte im Interesse des Kapitals tragen die Namen sozialdemokratischer Aufsteiger aus der Arbeiterklasse: Riester und Hartz. Bei genauerer Betrachtung ist Martin Schulz eher der letzte Trumpf oder der letzte Strohhalm des um seine Zukunft fürchtenden SPD-Apparats als ein Neuanfang. Weil er seit 1994 im von deutschen Medien wenig beachteten Europaparlament agiert und am Sozialabbau unter Schröder und Müntefering nicht direkt beteiligt war, scheint er unverbraucht zu sein und keine Mitverantwortung für den Niedergang der Partei zu tragen. Schlagartig berühmt wurde er erst 2003, als ihn Italiens rechter Regierungschef Silvio Berlusconi persönlich verunglimpfte. Damals war Schulz schon längst Teil der Parteiestablishments, fest im rechten SPD-Flügel verwurzelt und seit 1999 Mitglied des SPD-Parteivorstandes. In dieser langen Zeit hat er nie Kritik an der Agenda-Politik, Kriegseinsätzen oder anderen kritikwürdigen Seiten der SPD-Regierungspolitik geäußert. Als Fraktionschef der Sozialdemokraten im EU-Parlament und Parlamentspräsident war er zentrale Figur einer faktischen „Großen Koalition“ mit Bürgerlichen, Christdemokraten und Konservativen. Auch seine flotte Rhetorik kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Schulz die reaktionäre, von Berlin maßgeblich bestimmte EU-Politik mitgetragen hat: so etwa die Erpressung Griechenlands, Freihandelsabkommen mit Nordamerika, die Militarisierung der EU-Politik, die „Festung Europa“, die Konfrontation mit Russland, neoliberale EU-Richtlinien zur Liberalisierung und Privatisierung öffentlicher Betriebe und Einrichtungen oder den Flüchtlingsdeal mit dem türkischen Herrscher Erdogan. Die SPD wird ihn im anlaufenden Wahlkampf als Kämpfer gegen Nationalismus und rechte Demagogen präsentieren. Dabei ist sein „Internationalismus“ und Bekenntnis zu „Europa“ vor allem eine Fixierung auf ein Europa der Großkonzerne und Banken unter deutscher Vorherrschaft. Vor der letzten Europawahl 2014 warb die SPD für ihren damaligen Spitzenkandidaten Schulz mit dem Hinweis, dass nur eine Stimme für die SPD garantieren könne, dass ein Deutscher EU-Parlamentspräsident wird. Es mag sein, dass Schulz als „neues Gesicht“ mit seiner Rhetorik und ohne direkte Einbindung in die Kabinettsdisziplin der SPD 2017 wieder einen leichten Zuwachs beschert. Manche träumen gar von den 27 Prozent, die die SPD im Europawahlkampf 2014 mit dem Spitzenkandidaten Schulz erreichte. Aber damit wäre bestenfalls eine Rückkehr der SPD-Führungsriege in ein Kabinett Merkel nach der Bundestagswahl im September 2017 gesichert. So müssen sich alle diejenigen loyalen SPD-Mitglieder und -Anhänger erneut geprellt fühlen, die es mit den kämpferischen Traditionen der alten Sozialdemokratie und den Interessen von abhängig Beschäftigten, Jugendlichen und RentnerInnen ernst meinen. Die Personalie Schulz verkörpert den festen Willen des SPD-Apparats zum „Weiter So“ und die Weigerung, aus den selbst verschuldeten Niederlagen und dem Dilemma der europäischen Sozialdemokratie zu lernen und konsequente politische und personelle Schlussfolgerungen zu ziehen. Die tiefe Krise und der weitere Niedergang der Sozialdemokratie sind damit nicht aufzuhalten.
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Seit dem Coup, den der bisherige Parteichef Sigmar Gabriel mit der Nominierung des Europaabgeordneten und bisherigen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz zum neuen Parteichef und Kanzlerkandidaten Anfang der Woche hingelegt hat, machen sich viele im Parteiapparat wieder Hoffnung auf ein deutlich besseres Abschneiden bei der kommenden Bundestagswahl.