Manche geraten im Rückblick auf die von 1982 bis 1998 andauernde Ära Kohl fast ins Schwärmen. Schließlich war damals die Besteuerung der Reichen viel höher und Hartz IV war noch nicht erfunden. Unter Kohl gab es noch keine heißen Kriegseinsätze der Bundeswehr wie seit 1999. Doch derartige Verklärungen sind absolut unangebracht und irreführend.
Seit seinem Eintritt in die damals neu gegründete CDU steuerte der 1930 geborene Ludwigshafener Oberschüler und Geschichtsstudent Helmut Kohl auf eine steile Karriere als Interessenvertreter der herrschenden Klasse zu. Er wurde nach dem Studium zunächst Manager in einer Eisengießerei und Referent beim Verband der Chemischen Industrie. Sein Förderer war der dank seiner Regimenähe in der Nazizeit vermögend gewordene Chemieindustrielle Fritz Ries. Mit solchen Segnungen und Fürsprachen wurde Kohl rasch CDU-Fraktionsvorsitzender in Rheinland-Pfalz und 1969 mit erst 39 Jahren Ministerpräsident.
Bald zog es ihn in die Bundespolitik. Er wurde 1973 CDU-Parteichef und blieb es bis 1998. 1982 war dann endlich seine Stunde gekommen, als die FDP nach 13 Jahren Koalition mit der SPD den Partner wechselte und der amtierende SPD-Kanzler Helmut Schmidt mit einem konstruktiven Misstrauensvotum gestürzt wurde. Was Kohl als „geistig-moralische Wende“ verkündete, war von Anfang an eine westdeutsche Variante des „neoliberalen Rollbacks“, dessen Vorreiter die britische Premierministerin Margaret Thatcher und US-Präsident Ronald Reagan waren. Das brachte sozialen Rückschritt auf breiter Front. Als IG Druck und Papier und IG Metall 1984 für die 35-Stunden-Woche streikten, bezeichnete Kohl diese Zielsetzung als „dumm und töricht“. Später sollte eine Gesetzesänderung (§ 116 AFG) die Gewerkschaften maßgeblich schwächen und streikunfähig machen. Die unter Kohl vorangetriebene Aufrüstung brachte Hunderttausende in einer neuen Protestbewegung auf die Straßen. Sogenannte „Reformen“ brachten Verschlechterungen im Gesundheitswesen und leiteten die Privatisierung von Post, Telekom und Bahn im Interesse finanzkräftiger Kapitalanleger ein.
Um flotte reaktionäre Sprüche waren Kohl und sein loyaler Arbeitsminister Norbert Blüm nie verlegen. Helmut Kohl sagte gefühlte hundert mal: „Wer einen Ausbildungsplatz finden möchte, der findet auch einen.“ Er unterstellte damit den Schulabgängern, sie wollten gar keinen Ausbildungsplatz finden. „Wir schrieben ihm von Mannheim aus einen Brief, wo zig Jugendliche ihre Bewerbungsbemühungen aufzählten und baten um Antwort, warum wir keinen Ausbildungsplatz bekämen. Die Antwort ist er uns schuldig geblieben, wie erwartet“, erinnert sich unsere Genossin Claudia Kocabalkan.
Ende der DDR und EU-Erweiterung
Dass in der DDR Ende 1989 die Massen auf die Straße gingen und die SED-geführte Regierung zurückwich, war nicht Kohls längerfristiger Plan oder Verdienst, sondern Ausdruck der Krise einer stalinistisch geführten Planwirtschaft. Kohl, damals innenpolitisch stark angeschlagen, erkannte allerdings die Gunst der Stunde und stützte sich auf Illusionen vieler Arbeiter in der DDR, die sich von der D-Mark und dem Anschluss an die Bundesrepublik eine rasche Verbesserung und Modernisierung erhofften. Das deutsche Kapital hatte zweimal mit Weltkriegen die Vorherrschaft in Europa angestrebt und verloren. Nun bot sich die Chance, die alten Kriegsziele mit „friedlichen“ Mitteln zu erreichen. In einer „demokratischen Konterrevolution“ schlachteten Westkonzerne und Kapitalgruppen über die Treuhandgesellschaft die Wirtschaft der DDR aus und trieben eine nahezu beispiellose Deindustrialisierung voran. Auf die Euphorie über den „Kanzler der Einheit“ und die Angliederung der neuen Bundesländer an die Bundesrepublik folgten schon 1991 erste Massenproteste gegen Massenentlassungen und die Zerschlagung kompletter Industriestandorte bis hin zur legendär gewordenen Belegschaftskampf 1993 im Thüringer Kalibergwerk Bischofferode (Eichsfeld). In Halle bewarfen aufgebrachte Demonstranten Kohl mit Eiern.
Die Angliederung der DDR stärkte die Ambitionen der herrschende Klasse, über den europäischen Einigungsprozess, Osterweiterung, Binnenmarkt und Währungsunion die Vorherrschaft auf dem Kontinent zu festigen. Kohls europäische und EU-Offensive war kein Ausdruck von Internationalismus oder Friedenssehnsucht, sondern vor allem dem Kapitalinteressen geschuldet. Das vereinigte Deutschland machte sich daran, schrittweise wieder mit militärischen Mitteln in der Weltpolitik mitzumischen.
1994 behauptete sich Kohls Koalition aus CDU/CSU und FDP in der Bundestagswahl nur knapp. Weitere Angriffe gegen die Gewerkschaften und ein Paket zum sozialen Kahlschlag brachten im Sommer 1996 viele hunderttausend GewerkschafterInnen auf die Straße. Die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sorgte für riesigen Ärger. Damit war der Anfang vom Ende der Ära Kohl besiegelt. „Kohl muss weg!“, war eine populäre Parole in jenen Tagen. 1998 folgte die krachende Niederlage bei der Bundestagswahl. Erstmals in der BRD-Geschichte bildeten SPD und Grüne zusammen eine Mehrheit und saßen die traditionellen bürgerlichen Parteien CDU/CSU wie FDP gleichzeitig in der Opposition. Dass der neue Kanzler Schröder nach einem kurzen „Honeymoon“ den Sozialabbau mit Riesterrente und Agenda 2010 noch verstärkt fortsetzte, darf niemals den Blick auf Kohls reaktionäre Politik verstellen.
Seine Loyalität zu der Klasse, die ihn nach oben gebracht hatte und der er mit seiner Politik loyal diente, stellte Kohl auch 1999 unter Beweis, als er sich im Rahmen der Parteispendenaffäre hartnäckig weigerte, die Namen der großkapitalistischen Spender preiszugeben, die Millionen für die CDU-Parteikasse eingetrieben hatten. Er hatte ihnen schließlich sein „Ehrenwort“ gegeben! In jenen Wirren übernahm das von Kohl geförderte Nachwuchstalent Angela Merkel die Zügel in der CDU und distanzierte sich vom bisherigen Meister. Später diente der alte und gesundheitlich angeschlagene Kohl dann als Ikone und lebendige Erinnerung an „gute alte Zeiten“.
Dass Kohl ausgerechnet am 10. Jahrestag der offiziellen Gründung der Partei DIE LINKE verstarb, ist Zufall, entbehrt aber nicht einer gewissen Ironie. Denn Anfang der 1990er Jahre setzte die Regierung Kohl alles daran, die damalige PDS und alle Erinnerungen an eine nichtkapitalistische Gesellschaftsordnung in der ehemaligen DDR auszulöschen. Das ist nicht gelungen. Die PDS stabilisierte sich und fusionierte 2007 mit der WASG zu einer neuen gesamtdeutschen Linkspartei. Trotz der antikommunistischen Propaganda der 1990er Jahre und trotz der antilinken Hetze aus konservativen Kreisen nach Gründung der LINKEN hat die Partei weiterhin Masseneinfluss. Ausgerechnet diejenigen in der CDU, die am stärksten über das alte SED-Vermögen klagten, waren Kohls loyalste Stütze in der Spendenaffäre.
Die herrschende Klasse hat Helmut Kohl viel zu verdanken, wir nicht. Unsere Klasse, die arbeitende Klasse, kann von ihm allenfalls lernen, dass nur ein klarer Klassenstandpunkt und eine konsequente Interessenvertretung ohne Rumgeeiere Erfolge bringen.
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