Im Zuge der Proteste gegen G20 vernahm man die Regungen eines Herrn Burkhard Möller, Redakteur der Gießener Allgemeinen Zeitung, mit der Absicht einen Bogen von Hamburg nach Gießen zu spannen. Natürlich steht dieser Artikel in einer Reihe mit anderen Artikeln, die zu dieser Zeit bezüglich den Anti-G20 Protesten geschrieben wurden, in dessen Gesamtheit man den Eindruck erhält, die Situation in Hamburg wäre das schlimmste Ereignis in Deutschland seit Ende des Zweiten Weltkriegs gewesen. Der am 11.07.2017 [1] geschriebene Artikel provozierte eine Reaktion der Antifaschistischen Revolutionären Aktion Gießen (ARAG) herbei, welche sich auch in einem offenen Brief an die GAZ wandte. [2]
Wir wollen weder über den ersten Artikel reden, noch über die Antwort der ARAG. Es geht viel mehr um die daraufhin folgende Antwort des Herrn Burkhard Möller [3], dessen getätigten Schlussfolgerungen uns regelrecht zu einer Reaktion nötigen. Zugegeben, es ist wirklich nicht einfach zu wissen, wo man bei der Antwort seitens der Gießener Allgemeine konkret mit der Kritik anfangen soll. Der Autor hatte es nämlich nicht fertiggebracht, tatsächliche Kritik zu üben, sondern hüllte sich vollends in Moralismus und Formkritik.
Und eben dieser Moralismus fängt schon recht am Anfang an, wenn es heißt, „dass die ARAG im Vorfeld des G 20-Gipfels in einer teilweise gewalttätigen Sprache zu Protesten gegen das Treffen der Staatschefs und zur Teilnahme an der Demo des »Revolutionären Blocks« unter dem Motto »Welcome to hell« aufgerufen hatte. Begriffe wie »Fight« und »Enter« wurden verwendet.“
Wer unter Aussagen wie "G20 bekämpfen" tatsächlich versteht, dass man mit einer Schusswaffe auf den Tagungsort schießt, der glaubt wohl auch, dass Zitronenfalter auch Zitronen falten. Steigt man beim „Kampf gegen den Krebs“ auch in einen Boxring? Haben Onkologen stets einen Waffenschein? Die Wahrheit ist immer konkret und nicht abstrakt, die Wirklichkeit wird nicht durch semantische Spitzfindigkeiten bestimmt. Dieses nachträgliche Suchen nach Indikatoren, womit man einen Bogen zu Hamburg schlagen kann, erinnert ungemein an jene Leute, die auch in der Unterschrift von Barack Obama ein Anzeichen für eine vermeintliche homosexuelle Verschwörung wittern. Wer hat es gewusst? Wieder keiner! Klingt das absurd? Keineswegs! Denn weiter im Text heißt es:
„Zur Vorbereitung auf Hamburg boten mehrere linke Gruppen Ende Juni in den Räumen eines kurdischen Vereins zudem eine Veranstaltung mit der Roten Hilfe an, um sich auf die »Polizeigewalt« in Hamburg vorzubereiten. Titel: »Was tun wenn’s brennt«. In einem Nachsatz hieß es: »In Hamburg wird es das definitiv«.“
Es lässt tief blicken, dass das Wort Polizeigewalt in Anführungszeichen geschrieben steht. Aber der Sinn dieser Ausführung bleibt nicht schlüssig. Mit "Was tun wenn`s brennt" ist eindeutig gemeint, was zu tun ist, wenn Menschen vor Ort repressiven Maßnahmen ausgesetzt sind. Der Nachsatz "In Hamburg wird es das definitiv" stellt fest, dass man dort auf jeden Fall Polizeigewalt und sonstigen Repressionen ausgesetzt sein wird. Aber eher versucht der Verfasser im Wort "brennt" einen Hinweis zu konstruieren, dass Personen irgendetwas in Brand setzen wollen. Den Rest der Formkritik lassen wir aus, da schon genug dazu gesagt wurde.
Herr Möller findet Gewalt grundsätzlich nicht gut – sie ist immer schlimm. Allerdings kann die Gewalt eines Putins und Erdoğans auf mystische Weise für eine „gerechte“ Welt sorgen:
„Genau um diese Gewaltfrage geht es – und nicht um die, ob man gegen G 20 protestieren darf. Natürlich ist dieser Protest legitim und der Gipfel dafür der richtige Ort. Denn dort kamen die zusammen, die den Krieg in Syrien und den Rüstungsirrsinn beenden könnten, und die mehr gegen den Klimawandel und für eine gerechtere Weltordnung tun könnten.“
In Hamburg kamen jene Politiker zusammen, die den Krieg in Syrien und die Rüstungsexporte keineswegs beenden, sondern im Gegenteil, überhaupt zu verantworten haben. Man sollte nicht so tun, als seien Rüstungsexporte, Kriege und Klimawandel mystische Dinge, über die man mal reden sollte und man nicht wirklich weiß, was da eigentlich dahinter steckt. Es gibt konkrete Akteure in der Form von Staaten, die konkrete Dinge tun, aufgrund von konkreten Interessen. Es ist Fakt, dass Deutschland, Russland und die Vereinigten Staaten Waffen in Krisengebiete exportieren. Gleiches auch für Großbritannien, dessen Paveway-Bomben auf den Jemen fallen.
Es ist blanker Utopismus zu glauben, dass man durch moralische Appelle an eine Clique profitorientierter Kriegstreiber ernsthaft die Waffenexporte minimieren oder einzustellen könnte. Haben nicht ausgerechnet die US-amerikanischen Herrschenden kürzlich einen gigantischen Waffendeal in Höhe von 350 Milliarden US-Dollar mit einem feudalistischen Verbrecherregime in Saudi Arabien abgehandelt? [4] Und waren es nicht die Herrschenden in der Bundesrepublik Deutschland, welche nur eine Woche nach G20 ebenfalls einen Waffendeal mit selbigem Verbrecherregime abgeschlossen haben? [5] Wer die massenhafte Wut gegen solche Verbrecher delegitimiert, der stellt sich effektiv auf die Seite dieser Verbrecher.
Und welche Absurdität allein steckt schon drin mit Donald Trump und Konsorten, welche einen Tag nach seinem Amtsantritt die Rubrik zur Umweltpolitik von der Website des Weißen Hauses gelöscht haben, über den Klimawandeln zu sprechen? Die Absurdität mit den Staaten zu sprechen, die von Grund auf keinen tatsächlichen Willen zeigen einen konkreten positiven Progress im Klimawandel herbeizuführen. Und was ist mit der Absurdität, ausgerechnet zusammen mit Erdoğan, Putin, Abd al-Aziz (Saudi Arabien), Jinping (China) und Widodo (Indonesien) über die Möglichkeit einer „gerechteren Weltordnung“ zu sprechen? Ob man Putin doch schon irgendwie erklären kann, dass die Tötung von LGBTs in Tschetschenien nicht so der Bringer ist? Vielleicht kennt Herr Möller ein gutes Argument, welches man Erdoğan mitteilen kann, weshalb man den Kurdinnen und Kurden Autonomie gewähren sollte und ein Krieg in Kurdistan nicht besonders „cool“ ist? Für bürgerliche Kommentatoren ist die Geschichte der Menschheit nicht die Geschichte von Kämpfen zwischen Gegensätzen, sondern es ist die Geschichte von Königinnen und Königen, Zarinnen und Zaren, Präsidentinnen und Präsidenten. Doch bleiben wir weiterhin bei der Gewaltfrage – Herrn Möllers Lieblingsfrage. Dieser schreibt:
"In unserer Gesellschaft gilt aber ein breiter Konsens, dass Gewalt kein Mittel der politischen Auseinandersetzung sein darf. Dieser Konsens beruht auf historischen Erfahrungen. Man muss diesbezüglich nicht immer bis in die Endphase der Weimarer Republik oder in die Nazizeit zurückgehen. Der Terror der RAF oder des NSU sind Mahnung genug, um immer wieder den Anfängen zu wehren, die sich gerade bei politischer Gewalt zunächst schriftlich und mündlich ausdrücken."
Es ist beim Bürgertum immer wieder absurd, wie man den Feudalismus durch sehr blutige Revolutionen niederstreckte (man achte auf die gewalttätige Sprache) und am Ende gar nichts mehr davon wissen möchte. Vielleicht hätten die französischen Revolutionärinnen und Revolutionäre mit ihrem unterdrückerischen Adel einfach nur diplomatisch reden sollen? Unsere heute existierenden liberalen Demokratien fußen auf blutigen, bürgerlichen Revolutionen. Man muss diesbezüglich aber nicht immer bis zu den bürgerlichen Revolutionen zurückgehen. Die historische Erfahrung in Deutschland ist eben jene, dass sogar "jeglicher Widerstand" legitim ist, wenn es um die Befreiung der Menschheit geht. Alleine mit Schrift und Wort gegen den deutschen Faschismus? Die unzähligen industriell ermordeten Menschen des deutschen Faschismus mahnen uns!
Was ist mit den Widerstandskämpfern in Spanien gewesen? Hätten auch diese lieber einen Aufsatz verfassen sollen, wieso General Franco kein netter Herr ist? Gewiss, wir leben heute nicht unter dem Faschismus. Aber es ist eine völlige Absurdität zu behaupten, dass uns unsere historische Erfahrung den Gewaltverzicht lehrt. Der Verfasser des Artikels darf gerne iranischen Oppositionellen was über die moralische Schlechtigkeit der Gewalt erzählen – vorausgesetzt, die Gewalt geht von jenen Oppositionellen aus und das staatliche Gewaltmonopol wird in Frage gestellt. Auf Verständnis wird er nicht stoßen.
Weiter im Text:
„Wer den offenen Brief der ARAG liest, gewinnt den Eindruck, dass die von Demonstranten in Hamburg verübte Gewalt reine Notwehr gegen eine »enthemmte« Polizei war. Und was ist mit dem Marodieren und Plündern zu Lasten der unteren Mittelschicht an Orten, wo überhaupt keine Polizeikräfte waren? Nicht einmal davon distanziert man sich.“
Die Frage der Gewalt ist nicht jene, ob sie stattfindet, sondern von wem die Gewalt ausgeht, welchen Zweck sie verfolgt und gegen wen sie gerichtet ist. Bei den Protesten in Hamburg machte es keinen Sinn einen Twingo anzuzünden, der wahrscheinlich auch noch einem lohnabhängigen Arbeiter gehörte, der es sich mühselig ansparte. Wir lehnen den individuellen Terror ab, weil er nicht zweckmäßig ist und Verwirrung in der Arbeiterklasse stiftet. Hier wird die Notwendigkeit einer in Parteien und Gewerkschaften organisierten Arbeiterklasse durch isolierte Einzelaktionen ersetzt. Letztlich nützt individueller Terror nur der bürgerlichen Propaganda, wie dies auch die Gießener Allgemeine Zeitung besonders deutlich demonstriert.Zudem ist die Frage der Gewalt überhaupt eine Frage des konkreten Kräfteverhältnisses der Klassen. Je ungleicher jenes Kräfteverhältnis, desto schmerzloser werden revolutionäre Prozesse die Gesellschaft in eine höhere Entwicklungsstufe befördern. Es ist eine Tatsache, dass die Arbeiterklasse in den letzten Jahrzehnten in Frankreich, Italien, Spanien, Großbritannien und Deutschland die Macht hätte übernehmen können, falls es eine wirklich revolutionäre Massenpartei der Arbeiterklasse gegeben hätte.
Wir haben zu keiner Zeit die Möglichkeit von Gewalt und Bürgerkrieg unter bestimmten Bedingungen geleugnet. Aber im Gegensatz zu den Bürgerlichen und den Reformisten, die immer versuchen, die Arbeiterklasse mit dem Gespenst der Gewalt und des Bürgerkriegs zu verängstigen, beziehungsweise im Gegensatz zu Teilen der radikalen Linken, die keine Gelegenheit auslassen, ihren Fetisch für eine „gewaltvolle Revolution“ zu verbreiten, betonen wir, dass eine friedliche Veränderung der Gesellschaft absolut möglich wäre. Ob die Jugend und Arbeiterklasse schließlich Gewalt anwendet liegt nicht in ihrer freien Entscheidung, sondern darin, ob ihnen diese Gewalt von Seiten des Staates aufgezwungen wird. Revolutionen sind die höchste Form der Demokratie, in denen die Bevölkerung ihren Ausbeutern den eigenen Willen aufzwingt. Ist eine revolutionäre Bewegung stark genug, werden die Herrschenden in eine regelrechte Paralyse verfallen
Das agieren der Polizei vermisst jegliche Verhältnismäßigkeit, dass selbst liberale Staatsbürger besorgt aufschrecken und darin ein Erodieren der „Grundrechte“ oder gar der „Freiheitlich demokratischen Grundordnung“ sehen. Herr Möller möchte bewusst kein Wort über die stattgefundene Polizeigewalt in Hamburg verlieren. Eher begnügt man sich eines Whataboutismus und verweist auf Plünderungen. Ist also jede Form der Gewalt seitens der Polizei in Ordnung, solange man nach bürgerlichen Recht straffällig geworden ist? Aber hieß es nicht erst vorhin, dass Gewalt nicht in Ordnung ist? Ist die Wahrheit vielleicht konkret und nicht abstrakt? Fragen über Fragen an Herrn Möller, bekommen wir Antworten?
Das Gewaltmonopol des Staates verfolgt nicht die Absicht zwischen Gegensätzen zu „vermitteln“ oder Menschen konkret vor Gewalt zu schützen. So auch Professor Mankiw, Vorsitzender des Rates der Wirtschaftsberater von 2003 bis 2005 unter George W. Bush, der in seinem weltweit bekannten Buch über (kapitalistische) Volkswirtschaftslehre schreibt:
„Wenn die unsichtbare Hand so wunderbar funktioniert, wozu brauchen wir dann die Regierung? Nun, eine Aufgabe der Regierung besteht gerade darin, die unsichtbare Hand zu schützen. Märkte werden nur dann richtig funktionieren, wenn die Eigentumsrechte durchgesetzt werden. […] Wir alle verlassen uns darauf, dass die staatlichen Institutionen wie z.B. die Polizei und die Gerichte unsere Rechte über die Güter sichern, die wir produzieren“. [6]
Die Gewalt, die Herr Möller und Konsorten in Schutz nehmen, ist jene, die eine Aufrechterhaltung der jetzigen Eigentumsverhältnisse versucht zu bewahren. Verständlich erhebt sich daraus eine Moral, die ein brutales Durchgreifen der Polizei legitimiert, aber auch jeglichen Widerstand delegitimiert, sobald dieser selbst gewaltvolle Elemente enthält. In dem Sinne ist der besagte Autor kein Pazifist, er ist lediglich jemand mit einer durch und durch bürgerlichen Moral.
Zu unserer Kritik und Solidarität der G20 Protesten: http://derfunke.de/index.php/rubriken/solidaritaet/2177-festival-der-autokratie-jetzt-erst-recht-solidaritaet-mit-den-g20-protesten-auf-nach-hamburg http://derfunke.de/index.php/rubriken/deutschland/2178-hamburger-g20-gipfeltreffen-machtdemonstration-der-herrschenden-klasse
Quellenverweise: [1] https://tinyurl.com/ybkkrhxx [2] https://tinyurl.com/y92oell4 [3] https://tinyurl.com/y94ejfgz [4] Süddeutsche Zeitung vom 20.05.2017[5] ZEIT ONLINE vom 13.07.2017
[6] Mankiw und Taylor: Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. 5 Auflage. Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart, Jahr 2012, Seite 13.
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