Kategorie: Deutschland |
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Aktuelle Wahlanalyse: Ein mittleres Erdbeben und zunehmende Polarisierung |
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Die Spitzen der Unternehmerverbände, die Bankiers und Großindustriellen haben wieder einmal ihr Ziel wieder verfehlt. Sie haben nicht die Regierung, die sie wollten. Sie strebten eine klare Mehrheit für eine Regierung aus CDU/CSU und FDP. Zum dritten Mal in Folge – 1998, 2002 und 2005 – gibt es keine Mehrheit für die klassischen bürgerlichen Parteien. Demgegenüber hatten CDU/CSU und FDP fast 50 Jahre lang bei Bundestagswahlen immer eine klare Mehrheit – auch zwischen 1969 und 1982, als SPD und FDP zusammen die Regierung bildeten. |
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Die großen Verlierer der Wahl – auch wenn sich beide zu Siegern erklärten – sind CDU/CSU und SPD. Beide haben – im langfristigen Vergleich aller Bundestagswahlen – extrem schlecht abgeschnitten. Trotz Siegesfeiern im Willy Brandt-Haus und fanatischer „Gerhard“-Rufe gibt es für die SPD keinen Grund zum Jubeln. Weniger als 35 Prozent für die SPD sind kaum wesentlich mehr als die 33,5% bei der Wahl 1990, als sie kurz nach der Vereinigung BRD-DDR gegen Kohl einen aussichtslosen Kampf führte. Auf der anderen Seite musste die CDU/CSU eine herbe Niederlage einstecken. Nach dem Stand der Hochrechungen sind die 35 Prozent für die Union eine Katastrophe. Dies kommt einem Absturz gleich. Wann wenn nicht jetzt – nach sieben Jahren „Rot-Grün“ und angesichts hoher Massenerwerbslosigkeit – hätte die CDU/CSU eine bessere Chance gehabt, einen haushohen Sieg einzufahren? Es kommt einem Absturz gleich, wenn die CDU/CSU nur unwesentlich besser abgeschnitten hat als 1998, als Kohl abgewählt wurde; damals musste sie mit 35,1% ein herbe Niederlage einstecken. Somit stehen schwere Auseinandersetzungen in CDU und CSU an. Gerhard Schröder hatte mit der vorzeitigen Bundestagswahl ein klares Mandat für die Fortsetzung seiner Agenda-Politik angestrebt. Jetzt hat die bisherige Koalition aus SPD und Grünen ihre Mehrheit verloren. Schröder hatte ein gefährliches Spiel betrieben und mit dem Neuwahl-Abenteuer die Gefahr einer konservativen Mehrheit heraufbeschworen. Dass nun keine Mehrheit für Merkel-Westerwelle zu Stand gekommen ist, zeugt nicht von Begeisterung für Agenda 2010 und Hartz IV, sondern ist Ergebnis einer Mobilisierung der letzten Tage. Viele Arbeiter und Jugendliche bissen noch einmal die Zähne zusammen und waren entschlossen, eine rechte Wende zu stoppen. Sie spürten, dass unter Merkel/Westerwelle eine noch härtere Gangart des Sozialabbaus drohte. In NRW, wo die SPD am 22. Mai nach 39 Jahren aus der Regierung verdrängt wurde und der neue CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers prahlte, seine Partei sei jetzt die wahre „Arbeiterpartei“, lag die SPD mit über 40 Prozent wieder um über 7 Prozentpunkte vor der CDU. Die Angriffe auf soziale Errungenschaften und soziale Bewegungen der letzten Jahre (Streiks, Demos gegen Sozialkahlschlag, insbesondere Montagsdemos gegen Hartz IV) und die anhaltend hohe Massenarbeitslosigkeit haben die Polarisierung zwischen den gesellschaftlichen Klassen vertieft. Dies hat sich auch im Wahlergebnis niedergeschlagen. In beiden politischen Lagern wurde jeweils die konsequentere Linie gestärkt. So kamen die Verluste der CDU/CSU vor allem der FDP zu Gute, die sich in Sachen gewerkschaftsfeindliche Politik noch radikaler und schärfer äußerte als die CDU/CSU. Auf der anderen Seite schlugen sich die Verluste von SPD und Grünen weitgehend in einem Zuwachs der Linkspartei nieder. Obwohl SPD und Grüne einen betont „linken“ und „sozialen“ Wahlkampf führten und ihre Spitzenkandidaten so radikal redeten wie schon lange nicht mehr, konnten sie einen respektablen Erfolg der Linkspartei nicht verhindern. Neben den traditionellen Hochburgen im Osten verbuchte die Linke nach einem ersten Überblick auch in wichtigen westlichen Bundesländern klar über 5 Prozent und im Saarland sogar über 18 Prozent. Nach ersten Analysen (www.tagesschau.de) wählten 11 Prozent aller Arbeiter und 22 Prozent aller Arbeitslosen die Linkspartei. Dass die Linkspartei jetzt mit weit über 50 Mandaten im Bundestag vertreten ist, bringt eine enorme Chance mit sich. Nach über 50 Jahren (im ersten Bundestag 1949 war die alte KPD noch mit über 5 Prozent vertreten) hat sich jetzt erstmals eine starke linke Fraktion etabliert. Auch die gezielte Medienkampagne gegen die Linkspartei und ihre Spitzenkandidaten Gysi und Lafontaine konnte diesen Erfolg nicht verhindern. Erfreulich ist an diesem Wahlergebnis, dass die Faschisten weit abgeschlagen wurden. Aus dem von der NPD vor einem Jahr nach der sächsischen Landtagswahl groß angekündigten Siegeszug und Einzug in den nächsten Bundestag ist nichts geworden. Die Grundstimmung im Lande ist nicht rechts, sondern tendenziell eher kritisch, links und antikapitalistisch. Uns stehen stürmische Zeiten bevor. In diesem Lande ist etwas in Bewegung gekommen. Die herrschende Klasse hat nicht Regierungsmehrheit, die sie sich gewünscht hat. Die Arbeiterklasse hat – trotz großer Unzufriedenheit und Enttäuschung mit der bisherigen Regierungsbilanz – einen rechten Durchmarsch verhindert. Die Bereitschaft, über neue und konsequente Alternativen nachzudenken und den Kapitalismus in Frage zu stellen, wird zunehmen. Viele Erwartungen sind jetzt auf die Linksfraktion gerichtet. Hans-Gerd Öfinger, 18. September 2005 |