Während die meisten Unterhändler und Akteure noch am Sonntagabend mit einer Einigung auf der Grundlage von Formelkompromissen rechneten, gab sich ausgerechnet die FDP als konsequenter rechter „Hardliner“ und ließ die Gespräche demonstrativ platzen.
Dem Vernehmen gehörten Fragen wie der Familiennachzug von Geflüchteten oder die Zukunft einiger Kohlekraftwerke zu den angeblich unüberwindbaren Knackpunkten. Dabei hatten speziell die Grünen sich in den vorhergehenden Verhandlungsrunden in allen für sie bislang wichtigen Fragen bis zur Unkenntlichkeit verbogen und dies mit „Patriotismus für das Land“ (Cem Özdemir) und „Bereitschaft zur Verantwortung“ begründet.
Dabei hatte sich schon abgezeichnet, dass die angestrebte Vier-Parteien-Regierung viele Wünsche der herrschenden Klasse aufgreifen würde und die FDP Teile ihres Programms umsetzen könnte: Mehr Umverteilung von unten nach oben, Privatisierungen, eine Aufweichung des Arbeitsgesetzes, Abschaffung der Rente mit 63 und vieles mehr. Die längst zur Partei der Besserverdienenden mutierten Grünen hätten um der vermeintlichen Regierungsbeteiligung willen in keiner dieser Fragen ernsthaft Widerstand geleistet. Die Unternehmerverbände freuten sich schon auf eine ihnen geneigte Regierung und müssen nun murrend zur Kenntnis nehmen, dass ausgerechnet die FDP eine bürgerliche Regierung ausbremste.
Bislang war die FDP stets ein konsequentes Sprachrohr der herrschenden Klasse und wurde dafür von den Konzernen, Banken und Versicherungen durch großzügige Spenden am Leben gehalten. Nun scheint die Kommunikation zwischen der herrschenden Klasse und ihren politischen „Marionetten“ gestört zu sein. Die Verhältnisse sind ins Wanken gekommen. „Besser nicht regieren als falsch regieren“, meint FDP-Chef Lindner. Dies ist ein Bruch mit der eigenen Geschichte, zumal die FDP in 46 von bisher 68 Jahren BRD-Geschichte mit in der Regierung saß, als kleine Partei des großen Kapitals wesentlich die Linie bestimmte und das „Mitgestalten“ predigte. Was Lindner mit seinen Schachzügen anstrebt, ist Gegenstand heftiger Spekulationen. Bald werden wir mehr wissen.
Solche Zustände gab es in der BRD-Geschichte noch nicht. Nie zuvor wurde wenige Wochen nach einer Bundestagswahl von möglichen Neuwahlen gesprochen. Bisher wurden in aller Regel nach Bundestagswahlen rasch Koalitionen unterschiedlichster Zusammensetzung gebildet, mit denen die herrschende Klasse insgesamt gut leben konnte. Dafür rissen sich brave und kapitaltreue Politiker quer durch die Bank immer am Riemen.
Doch nun will die SPD nach der verheerenden Wahlschlappe vom 24. September nicht mehr koalieren und seit Sonntag auch die FDP nicht. Die Parteien, die derzeit überhaupt noch Regierungsämter anstreben – CDU, CSU und Grüne – stellen im Bundestag die Minderheit. Ob sich SPD und FDP doch noch breitschlagen und für eine Regierungsbildung erwärmen lassen, wie lange das Kabinett Merkel geschäftsführend weiter amtiert und ob im Frühjahr nach einer Bundestagsauflösung neu gewählt wird, wird sich in den nächsten Tagen und Wochen zeigen. Auf jeden Fall ist Angela Merkel, die bis vor kurzem als „ewige Kanzlerin“ angesehen wurde und die Interessen der herrschenden Klasse geschmeidig vertritt, in der Innenpolitik und international angeschlagen und wird daher zunehmend als „lahme Ente“ wahrgenommen.
Bisher erschien Deutschland als Hort der Stabilität und klarer Verhältnisse. Damit ist jetzt Schluss. Die Krise der politischen Repräsentanz an der Spitze des Staats ist erster Vorbote tiefer gesellschaftlicher Verwerfungen und Erschütterungen, wie wir sie bereits in vielen anderen Ländern erleben. Und das alles bereits unter relativ günstigen Bedingungen einer noch boomenden deutschen Exportwirtschaft und eines hohen Überschusses im Bundeshaushalt.
Natürlich wird in diesem Winter nicht die Anarchie in Deutschland ausbrechen. Das Kabinett Merkel mit seinen Ministern aus CDU/CSU und SPD bleibt geschäftsführend im Amt. Bundespräsident Steinmeier ist durch seine Karriere unter Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) ein erfahrener Moderator und Interessenvertreter der herrschenden Klasse. Die Bundestagsmehrheit für die Fortsetzung internationaler Bundeswehreinsätze gegen den Willen der Linksfraktion ist gesichert. Die gesamte konservativ-reaktionäre Staatsmaschinerie besteht weiter und bleibt intakt.
Druck von unten
Dennoch sollte die politische Krise „da oben“ die arbeitende Klasse, Gewerkschaften und Basisbewegungen ermutigen, den Druck „von unten“ zu steigern und einen heißen Winter zu eröffnen. Die IG Metall-Tarifrunde und der Kampf gegen Massenentlassungen im Siemens-Konzern wie auch viele andere soziale Konflikte sollten miteinander verknüpft werden. Die Wut über Wohnungsnot und steigende Mieten in Ballungsgebieten und über viele andere Zustände wächst.
Die politische Krise schreit nach einer grundlegenden politischen Alternative. Was wir derzeit erleben, ist nur der Vorbote einer tiefen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erschütterung, die in den kommenden Jahren unser Leben prägen wird. Die LINKE, die mit 9,2 Prozent der Stimmen 69 Abgeordnete im Bundestag stellt, hat es in der Hand, eine starke, wahrnehmbare antikapitalistische Systemalternative aufzubauen und damit auch der rechten AfD das Wasser abzugraben. Der zurückliegende Bundestagswahlkampf war in dieser Hinsicht viel zu blass. Wichtige Punkte wie Hartz IV, Privatisierungen, die Eigentumsfrage, die Forderung nach Vergesellschaftung der Banken, Solidarität mit den Geflüchteten und Internationalismus fehlten auf den Plakaten und in vielen Reden. Eine Kampagne für Neuwahlen sollte daher mit einem offensiven sozialistischen Programm verknüpft werden.
Wenn jetzt wieder Vergleiche mit der Weimarer Republik gezogen werden, kann es für uns nur eine Konsequenz geben. Die linke und Arbeiterbewegung muss die Machtfrage stellen und Illusionen begraben, dass es im Kapitalismus einen harmonischen Interessenausgleich zwischen den Klassen geben könnte. Bereiten wir uns in diesem Sinne auf stürmische Zeiten vor und verankern wir den Marxismus in der Bewegung! Es gibt viel zu tun. Wir packen es!
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