Kategorie: Deutschland

Zeitenwende: Nach der Wahl ist vor der Wahl

Ein Erdbeben kommt selten allein. Bei der Bundestagswahl im September 2017 wurden CDU, CSU und SPD abgestraft. Zwei Monate später sind die Sondierungen zwischen CDU/CSU, FDP und Grünen geplatzt. Ausgerechnet die FDP bremst zum Verdruss der Unternehmerverbände eine bürgerliche Regierung aus. Nun sind die Verhältnisse ins Wanken geraten.


Während Trumps Präsidentschaft in den USA, das Brexit-Referendum und die revolutionäre Massenbewegung in Katalonien die westliche Welt erschütterten, erschien Deutschland bisher als Hort der Stabilität und idyllische Hochburg der „Sozialpartnerschaft“. Angesichts von zwei Prozent Wirtschaftswachstum und einem angeblichen „Jobwunder“ war Kanzlerin Merkel zuversichtlich, dass sie auch nach der Wahl rasch eine stabile Regierung bilden und im Interesse der herrschende Klasse weiter regieren könnte.

Jetzt ist sie stark angeschlagen. Die bisherigen Regierungsparteien Union und SPD gewannen im September nur knapp über 50% der Stimmen. In der vorherigen Wahlperiode ab 2013 hatten die sogenannten „Volksparteien“ noch eine stabile Zweidrittelmehrheit, in früheren Jahrzehnten in der Summe Stimmenanteile zwischen 70 und 90 Prozent.

Sichtbarer Ausdruck der Zeitenwende ist der Einzug der Rechtspartei AfD in den Bundestag. Der Bürgerblock aus CDU/CSU, FDP, AfD und Grünen hat ein stärkeres Gewicht. Die beiden aus der Tradition von Sozialdemokratie und Arbeiter*innenbewegung stammenden Parteien SPD und LINKE ziehen derzeit nicht einmal 30 Prozent der Wähler*innenschaft an.

Doch wenn viele von einem „Rechtsruck“ reden, ist dies nur eine oberflächliche Beobachtung. Schließlich legte vor allem in größeren westdeutschen Städten DIE LINKE überdurchschnittlich zu und nahm viele Neumitglieder auf. 60 Prozent der AfD-Wähler*innenschaft halten sich selbst nicht für rechts und wählten die Rechtspartei nicht wegen ihres Programms, sondern als Ausdruck eines verzweifelten Protests. Viele treibt die Sorge und Enttäuschung um, dass ihre Anliegen nicht von den etablierten Parteien gehört und angegangen werden. Die AfD schürt Angst vor „dem Islam“ und Flüchtlingen. Damit soll von bestehenden sozialen Problemen wie Altersarmut, Arbeitslosigkeit, prekärer Beschäftigung, Arbeitsplatzabbau, usw. abgelenkt und eine Spaltung der arbeitenden Bevölkerungen entlang nationalistischer Linien erreicht werden. Dies entspricht letztlich auch den Interessen der herrschenden Klasse.

Als Konsequenz aus der Wahl steht die Union vor einem Rechtsruck. In der CSU herrscht nach dem historischen Tief von 38 Prozent in Bayern Panik und Angst vor massiven Verlusten auch in der Landtagswahl 2018. In der Sachsen-CDU wird offen über Koalitionen mit der AfD nachgedacht.

Nun fordert die herrschende Klasse mehr Angriffe gegen die arbeitende Klasse, um die Profite der Banken und Konzerne zu sichern und auszubauen. Als kleine und feine Partei des Kapitals hat sich dafür stets die FDP angeboten. Sie möchte den vermeintlichen „sozialdemokratischen Generalkonsens“ zwischen Unionsparteien, SPD und Grünen brechen. Die Forderung nach Abschaffung des Solidaritätszuschlags und Steuersenkungen für „mittlere und kleine Unternehmen“ sowie das Festhalten an der „schwarzen Null“ bedeuten eine weitere Vermögensumverteilung von unten nach oben. Die FDP fordert mit weiten Teilen von CDU und CSU eine Abschaffung der Rente mit 63, Privatisierungen und eine Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes. Doch anstatt diese Dinge im Interesse des Kapitals in einer „Jamaika“-Regierung in Angriff zu nehmen, kneift FDP-Chef Lindner in letzter Sekunde und steigt aus. Offenbar ist das Verhältnis zwischen dem Kapital und seinen politischen Handlangern gestört.

Keine Erneuerung der SPD

Viele erwarteten vor der Wahl eine Fortsetzung der bisherigen „Großen Koalition“. Doch der historische Absturz der SPD war so tief, dass sich die SPD-Spitze aus Angst vor dem Abstieg in die Bedeutungslosigkeit einer Regierungsbildung verweigert und den Gang in die Opposition angekündigt hat. Nach dem Ende der Jamaika-Verhandlungen ist auch wieder eine Große Koalition möglich. Eine Neuauflage der GroKo würde unweigerlich zu einer Zerreißprobe in der SPD führen. Es gibt zwar eine politische Gärung an der Basis, diese findet jedoch keinen organisierten Ausdruck. Eine linke Galionsfigur à la Jeremy Corbyn ist in der SPD nicht in Sicht. Eine „Erneuerung“ der Partei findet nicht statt. Die wichtigsten Posten wurden überwiegend wieder an den konservativen Seeheimer Kreis vergeben.

Wo DIE LINKE als Alternative zur bestehenden Ordnung gesehen wird, insbesondere im Westen, kann sie viele Menschen erreichen und binden. Sie hat 2017 mehrere tausend Neumitglieder hinzugewonnen, darunter viele jüngere Menschen. Doch im Osten hat sie stark verloren. In Thüringen etwa hat sie im Vergleich zu 2009 gut 40 Prozent ihrer Wähler*innenbasis verloren. Eine zentrale politische Schwäche liegt darin, dass sie der seit 2008 andauernden kapitalistischen Krisenverwaltung keine wirklich radikalen Lösungen entgegensetzen konnte.

Wenn SPD-Chef Martin Schulz nun taktisch „Mut zur Kapitalismuskritik“ predigt, sollte DIE LINKE dies aufgreifen und radikale sozialistische Lösungen aufzeigen. Nur mit klaren sozialistischen Antworten auf die Alltagsprobleme im real existierenden Kapitalismus kann sie ein wirklicher Gegenpol zum sogenannten Establishment werden. Denn die Basis für reformistische Illusionen in den Kapitalismus bröckelt.

Betriebliche Kämpfe

Deutschland profitiert zwar von seiner Exportmacht, den relativ billigen, aber hochqualifizierten Arbeitskräften und der Vorherrschaft in Europa. Doch die momentan gute Konjunktur mit einer Wachstumsrate von rund zwei Prozent wird nicht ewig anhalten. Für eine weitere Ausdehnung des Welthandels besteht kaum Spielraum. Besonders Deutschland ist durch seine übermäßig auf Export orientierte Wirtschaft sehr anfällig für einen künftigen weltweiten Abschwung.

Die Tendenz zur Monopolisierung hält an. Dies zeigen die Übernahmen von Monsanto durch Bayer, von Opel durch PSA oder von Air Berlin durch die Lufthansa ebenso wie die geplante Fusion von ThyssenKrupp und Tata Steel oder das Zusammengehen der Bahnsparten von Siemens und Alstom. Opfer sind die betroffenen Beschäftigten. PSA fordert von Opel ein „Sanierungskonzept“ mit Stellenabbau. Hauptleidtragende sind hier viele Leiharbeiter*innen, die auf die Straße gesetzt werden. Für Protest und böses Blut sorgen geplante Betriebsschließungen bei Siemens. So wird es wohl mehr betriebliche Kämpfe geben. Auch die Metall-Tarifrunde könnte diesmal nicht so „glatt“ ablaufen wie in den Vorjahren. Warnstreiks sind ab Anfang Januar 2018 möglich. Die bisherigen Proteste und Streiks von Pflegekräften sind erst der Anfang.

Trotz des Dieselskandals und der damit einhergehenden Klagen und Prozesse hat sich die VW-Aktie gerade wieder auf das Vorkrisenniveau gesteigert. Die Börse hat den Skandal abgehakt, was verständlich ist, da die Bundesregierung den Skandal überhaupt nicht kritisch aufgearbeitet hat oder gar die Autobauer*innen zu wirklichen Konsequenzen gedrängt hat. Die deutsche Autoindustrie hat ihre Position zu Lasten der Konkurrenz in anderen europäischen Ländern gestärkt. Auf sie entfallen zwei Drittel der europäischen Autoproduktion. Doch die PKW-Produktion stagniert seit der schweren Krise von 2008/2009 weltweit. Die internationale Überproduktionskrise wird auch Deutschland nicht verschonen.

Kehrseite der niedrigen offiziellen Arbeitslosenquote und der Rekordbeschäftigung ist die um sich greifende Prekarisierung mit zunehmender Teilzeitarbeit, Minijobs, Leiharbeit und Werkverträgen. Die wirtschaftliche Perspektive für Millionen Menschen ist dementsprechend schlecht, die Rente reicht für viele nicht mehr für einen sorgenfreien Lebensabend. Der Dumpingdruck steigt. 40 Prozent der Bevölkerung haben heute real weniger Geld zur Verfügung als vor 20 Jahren und keine oder so geringe Ersparnisse, dass sie ohne Sozialhilfe nur wenige Wochen überleben könnten. Obdachlosigkeit und Wohnungsnot nehmen ständig zu. Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum für Gering- und Normalverdiener*innen brennt vor allem in Ballungsgebieten auf den Nägeln und birgt sozialen Sprengstoff.

Unruhige Zeiten und Klassenkämpfe

Angela Merkel und die großen Unternehmer*innenverbände haben bisher keinen Frontalangriff gegen die Arbeiter*innenbewegung gestartet. Stattdessen sollen Gewerkschaftsspitzen und Betriebsräte bei Verschlechterungen „konstruktiv“ mit ins Boot gezogen werden. Statt Kriegserklärungen wurde und wird der Einfluss von Betriebsräten und Gewerkschaften mit wohlwollender Begleitung durch den Staat indirekt beschnitten – etwa durch Ausgliederungen, Heerscharen von Leiharbeiter*innen, Subunternehmen und Werkvertragsarbeiter*innen, durch Tarifflucht, Zerschlagung von Betrieben und Konzernen und Spaltung von Belegschaften. Doch es gibt auch Kapitalist*innen, die mit aller Gewalt Betriebsrats-Bashing betreiben und ihren Betrieb zur gewerkschaftsfreien Zone machen wollen.

So stehen wir vor unruhigen Zeiten. Es wird deutlich, dass der Klassenkampf kein Relikt aus dem 19. Jahrhundert ist, sondern unseren Alltag bestimmt. Viele vor allem junge Menschen möchten sich aktiv gegen die AfD und Neonazis, für Solidarität mit Geflüchteten und radikale Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe engagieren. In all diesen Bewegungen wird deutlich, dass der Kapitalismus weltweit keine sicheren Lebensperspektiven bietet. Illusionen in das herrschende System werden schwinden. Umso mehr kommt es darauf an, dass wir auf die plötzlichen und scharfen Wendungen und Erschütterungen vorbereitet sind und für einen radikalen Bruch mit dem Kapitalismus und ein sozialistisches Programm eintreten. Das ist auch der beste Beitrag, um die rechten Rattenfänger zu stoppen.

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