So wird Angela Merkel am 14. März mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD zum vierten Mal in Folge zur Bundeskanzlerin gewählt – auf den Tag genau 15 Jahre nach der von Exkanzler Gerhard Schröder (SPD) 2003 gehaltenen Regierungserklärung im Bundestag zur sogenannten „Agenda 2010“. Diese Agenda leitete nach dem Angriff auf die gesetzliche Rentenversicherung mit der „Riester-Rente“ vor allem mit den Hartz-Reformen das größte Sozialabbauprogramm der Nachkriegszeit ein. „Hartz IV“ brachte für Millionen Menschen Armut per Gesetz, eine Entwertung ihrer Biografien und Qualifikationen, Sanktionen, Schikanen und Entwürdigung der Betroffenen durch die Ämter, eine Ausgrenzung von sozialer Teilhabe sowie faktisch eine Enteignung von Kleinsparern. Deutschland wurde zum Vorreiter der Prekarisierung des Arbeitsmarkts. Heute arbeitet ein Viertel aller Berufstätigen in unsicheren, prekären Verhältnissen. Altersarmut nimmt von Jahr zu Jahr zu. Millionen Menschen stehen Woche für Woche bei den knapp 1000 Tafeln Schlange nach unverkäuflichen und gerade noch genießbaren Lebensmitteln oder wühlen in Mülltonnen oder Abfallkörben nach Pfandflaschen. Die Ungleichheit in der Vermögensverteilung ist wieder auf das Niveau von 1913 zurückgefallen.
All diese Zustände werden mit dem neuen Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD weiter zementiert. Zwar brüstete sich die SPD damit, konkrete Punkte im Koalitionsvertrag verankert zu haben. Doch bei näherer Betrachtung handelt es sich hier um Trostpflästerchen, die die klaffenden Wunden nicht annähernd bedecken können. Es bleibt bei der riesigen Ungleichheit zwischen den Klassen, bei Armutsrenten und Hartz IV, prekärer Beschäftigung und Niedriglöhnen, Zweiklassenmedizin und Pflegenotstand. Gleichzeitig werden Geflüchtete zu Sündenböcken abgestempelt und setzt die Koalition auf weitere Bundeswehreinsätze im Ausland. So soll die Bundeswehrpräsenz in Afghanistan aufgestockt werden und gleichzeitig Soldaten nach Irak entsandt werden.
Für diese Kontinuität sorgt auch das Personal in der neuen Bundesregierung. Der neue SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil ist ein glühender Anhänger der Schröderschen Agenda-Politik und im rechten SPD-Flügel bestens vernetzt. Der neue CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn hat sich schon vor seiner Vereidigung mit einem ebenso saloppen wie menschenverachtenden Spruch geoutet: „Niemand müsste in Deutschland hungern, wenn es die Tafeln nicht gäbe", so Spahn, denn mit Hartz IV habe "jeder das, was er zum Leben braucht".
Koalitionsverträge sind unverbindlich
Während sich die SPD-Spitze zu ihrer Rechtfertigung an einzelnen Sätzen und Buchstaben des Koalitionsvertrags festklammert, sollten wir eines nicht vergessen: Koalitionsverträge sind unverbindliche Vereinbarungen, die oft nicht eingehalten werden. So stand schon 2013 das Rückkehrrecht aus Teilzeit in eine Vollzeitbeschäftigung für alle im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD. Passiert ist nichts, so dass viele Frauen noch immer in der Teilzeitfalle fest hängen, weniger verdienen und später eine deutlich geringere Rente haben als Männer. Ein schlechtes Omen für die Koalitionsverhandlungen war Christian Schmidts „Alleingang“ in Brüssel. Ende November stimmte Bundesagrarminister Christian Schmidt (CSU) als Vertreter der Bundesregierung bei der Brüsseler EU-Kommission für die Verlängerung der Zulassung des Herbizids Glyphosat um weitere fünf Jahre.“ Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) hatte ihm noch kurz „telefonisch eindeutig erklärt, dass ich mit einer Verlängerung der Zulassung von Glyphosat weiterhin nicht einverstanden bin, auch nicht unter bestimmten Konditionen“. Schmidt missachtete diese Warnung und stimmt im Interesse der Agrarlobby zu.
Dieser Alleingang war offenbar ein klassischer Fall von Lobbyismus zugunsten von Konzernen wie Bayer/Monsanto, die Glyphosat produzieren und damit große Profite machen. Zwar sprach SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles von einem „massiven Vertrauensbruch“ und einer „schweren Belastung“ für die noch geschäftsführende Große Koalition (GroKo). Doch die Faust blieb in der Tasche und die SPD gab klein bei.
Vergessen wir auch nicht, dass viele Entscheidungen der letzten GroKo-Regierungen nicht einmal im Koalitionsvertrag standen, geschweige denn SPD-Programmatik waren. So etwa die Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre im Jahre 2007 oder der Einstieg in die Autobahnprivatisierung 2017.
Unmut an der SPD-Basis
Angesichts solcher Erfahrungen ist es nicht verwunderlich, dass sich an der SPD-Basis über die Jahre ein großer Unmut aufgebaut hat. So musste der inzwischen in der Versenkung verschwundene Ex-SPD-Chef Martin Schulz, der am Abend der Bundestagswahl noch die GroKo für beendet erklärt hatte, bei seiner späteren 180-Grad-Wende zusagen, dass die Basis mit einem Mitgliederentscheid das letzte Wort über die Annahme oder Ablehnung des Koalitionsvertrags haben werde.
Am Ende war das Anfang März verkündete Ergebnis klarer, als es viele erwartet hatten. So entfielen etwa zwei Drittel der abgegebenen gültigen Stimmen auf die vom Vorstand vorgegebene und vehement verfochtene Linie. Gemessen an der gesamten Zahl von knapp 464.000 Abstimmungsberechtigten stimmten bei einer Wahlbeteiligung von 81,6 Prozent unterm Strich knapp 240.000 oder 51,7 Prozent aller Mitglieder mit Ja.
Demgegenüber widersetzten sich 123.000 Mitglieder dem eindringlichen Rat der Parteiführung und der meisten Mainstreammedien und stimmten mit Nein. Dies ist eine stattliche Zahl von GroKo-Gegnern, gemessen an den rund 80.000 Neinstimmen beim vorigen Mitgliederentscheid Ende 2013 über die damalige GroKo. Ein Mitgliederbegehren gegen Schröders „Agenda 2010“ im Jahre 2003 wurde damals lediglich von 21.000 SPD-Mitgliedern unterschrieben und verlief im Sande.
Bemerkenswert ist, dass rund 25.000 Menschen seit Ende Januar einem Aufruf von Jusos und Verein #NoGroKo („Tritt ein – sag nein!“) gefolgt waren und kurzfristig in die SPD eintraten, um noch an der Abstimmung teilnehmen zu können.
Die allermeisten dieser SPD-Neumitglieder dürften mit Nein gestimmt haben. Dieser Aufruf war dem SPD-Apparat nicht geheuer. Er zog rasch die Notbremse und erklärte den 6. Februar zur Frist. Es gab auch Berichte über Fälle, in denen einzelne Ortsvereine die Aufnahme von neuen Mitgliedern verweigerten oder verzögerten.
Die meisten bürgerlichen Medien im In- und Ausland begrüßten das Ergebnis des SPD-Mitgliederentscheids. „Monatelang schwankte die SPD zwischen dem Wohl der Partei und dem des Landes. Nun hat sie sich wie so oft in ihrer langen Geschichte endlich entschieden – und zwar für das Land“, kommentierte der Redaktionsleiter des Heute-Journals, Wulf Schmiese, am 04.März 2018 das Abstimmungsergebnis: „Wenn es darauf ankam hat die SPD nie gekniffen. Immer hat sie ein Teil ihre Selbst geopfert um Chaos zu verhindern. Schon vor 100 Jahren war das so, da stand Deutschland wirklich am Abgrund, und Friedrich Ebert bekämpfte die eigene Linke, um einen demokratischen Staat zu ermöglichen. Das galt auch für Willy Brandt bei der allerersten großen Koalition, bei Helmut Schmidt, beim NATO-Doppelbeschluss, und für Gerhard Schröder bei seiner Agenda 2010. Jedes Mal riss der SPD dabei links ein Stück ab. Auch diesmal könnte das passieren. Denn, ja natürlich wäre die SPD als Oppositionsführerin wichtig gewesen. Es gab gute Argumente gegen die GroKo. Jetzt wurde für sie gestimmt und die ganze SPD sollte ihren Widerwillen ablegen, denn regieren und opponieren das geht schief.“
Bei genauerer Betrachtung überrascht das Ergebnis nicht. Zwar war bei dem Sonderparteitag am 21. Januar die Mehrheit für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit 56 Prozent relativ knapp und trat eine selbstbewusste Front von GroKo-Gegnern auf. Ohne den Parteivorstand, der beim Parteitag mit abstimmen durfte, wären es nur noch 52 Prozent aller Delegierten gewesen. Bei den regionalen Foren und Diskussionsveranstaltungen in den vergangenen Wochen waren geschätzt etwa zehn Prozent der Mitgliedschaft anwesend. Die meisten Mitglieder sind passiv und stimmten in den eigenen vier Wänden ab. Sie waren den Mainstream-Medien und vor allem der einseitigen Propaganda des Parteiapparats ausgesetzt, der im Anschreiben an alle Mitglieder, in einer Flut von E-Mails und im Zentralorgan Vorwärts einseitig für die GroKo warb und diese als angeblich „alternativlos“ darstellte.
Der Parteiapparat stützt sich zum einen auf eine älter werdende Schicht von Mitgliedern, die im vergangenen Jahrhundert noch „bessere Zeiten“ der Sozialdemokratie erlebt haben und aus Loyalität auch in den vergangenen Jahren mit der Führung durch dick und dünn gegangen sind. Vor allem durch die Agenda-Politik in der „Ära Schröder“ (1998 bis 2005) hat die SPD seit den 1990ern rund die Hälfte ihrer einstigen Mitgliedschaft und Wählerbasis verloren. Während zahlreiche Agenda-Kritiker damals austraten, ist gut die Hälfte der heutigen SPD-Mitgliedschaft erst seit 2005 eingetreten.
Schützenhilfe bekam der SPD-Apparat auch von den Spitzen der DGB-Gewerkschaften, die sich bedingungslos für die GroKo ins Zeug legten. Dass diese Linie auch in den Gewerkschaftsapparaten höchst umstritten ist, zeigt der von kritischen ehren- und hauptamtlichen Gewerkschaftern gestartete Aufruf „Sozial statt GroKo-Politik“.
Während sich die GroKo-Gegner in der SPD und insbesondere die Jusos in dieser Auseinandersetzung mächtig ins Zeug gelegt haben, sind aber auch Schwächen und Unzulänglichkeiten der GroKo-Gegner deutlich geworden. Während es in der Labour Party um die Errungenschaft einer linken Führung mit linkem Reformprogramm geht, die es zu verteidigen gilt, war dies in der SPD ein Abwehrkampf gegen die GroKo. Zudem war die von vielen als Alternative zur Groko vorgeschlagene Tolerierung einer Minderheitsregierung Merkel durch die SPD sicher keine hoffnungsvolle, begeisternde Aussicht oder Alternative. Der schwammige und sehr allgemeine Begriff der „Erneuerung“ der SPD war in aller Munde, ohne dass dies in ein klares Programm gefasst wurde. So hatte der Parteiapparat mit seinem Schreckgespenst von drohenden Neuwahlen letzten Endes ein leichtes Spiel.
Vor allem fehlten den NoGroKo-Aktivisten ein sozialistisches Programm und die Entschlossenheit, den Kampf gegen den SPD-Apparat konsequent und „bis zum bitteren Ende“ auszufechten. Die SPD-Führung ist eng und loyal mit dem Kapital verflochten und von ihm abhängig. Sie hat die kapitalistischen „Sachzwänge“ verinnerlicht und wird sich immer fügen, wenn es um die Profitinteressen der Konzerne, Banken und Versicherungen geht. Das Kapital nutzt die SPD-Spitze vor allem in Krisenzeiten, um die Drecksarbeit von Kürzungen und Sozialabbau zu verrichten. Wer sich ihr loyal unterordnet und mit leeren Phrasen über „Einheit der Partei“ und „Loyalität“ einlullen lässt, hat verloren.
Demgegenüber setzt eine sozialistische Strategie auf die Eigentumsfrage und Überführung der Schaltstellen der wirtschaftlichen Macht in Gemeineigentum. Was wir nicht besitzen, können wir auch nicht kontrollieren und planen. Wirkliche Sozialreformen sind nur möglich, wenn der gesellschaftliche Reichtum uns allen gehört und zu unserem Wohle eingesetzt wird. Im Sinne dieser Ziele haben seit über 150 Jahren Generationen von Aktiven und Pionieren die Arbeiterbewegung aufgebaut und dafür große Opfer gebracht. Diese Ideen sind auch im 21. Jahrhundert aktuell geblieben. Wir reichen allen die Hände, die sich in diesem Sinne der Tradition von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg verpflichtet fühlen. Bereiten wir uns auf die unvermeidlichen Klassenkämpfe der kommenden Jahre vor und bauen eine starke marxistische Alternative in der Arbeiterbewegung auf!
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