Nur ein Jahr nach der Bundestagswahl sind sie nach der CDU/CSU zur zweitstärksten Partei aufgestiegen. Bundesweit erhalten sie in Umfragen derzeit sogar bis zu 24 Prozent. Bei den Frauen sind sie mit 28% noch vor der Union sogar stärkste Partei.
Warum so viel Zuspruch?
Diesen Höhenflug der Grünen hat nicht nur der Umstand gebracht, dass der trockene und heiße Rekordsommer, Dieselskandal und der Kampf gegen die Braunkohle am Hambacher Forst die Umweltfrage wieder auf die Tagesordnung setzen. Sie profitieren auch von der Schwäche und Krise der SPD und vom Chaos in der CDU/CSU. Vor allem aber waren sie die Hauptnutznießerin der Bewegung gegen den drohenden Rechtsruck. Sie profilierten sich als „Gegenpol zur AfD“ (Jürgen Trittin) und werden als „weltoffen“ und „liberal“ wahrgenommen. Schließlich präsentiert sich das grüne Führungsduo aus Annalena Baerbock und Robert Habeck, der als schleswig-holsteinischer Umweltminister bereits Regierungserfahrung mit CDU und FDP hat, als „frischer“ Kontrast zur Politik der Bundesregierung. Selbst die CDU-Generalsekretärin und mögliche neue Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer spricht über Merkels Regierungszeit von einer „bleiernen Zeit“. Natürlich hilft es den Grünen, dass sie schon seit 13 Jahren nicht mehr an einer Bundesregierung beteiligt sind. Dass sie aber in neun von 16 Bundesländern mitregieren und in Baden-Württemberg sogar den Ministerpräsidenten stellen, tritt in der öffentlichen Wahrnehmung eher zurück.
Schwarz-Grün in Hessen
In Hessen sitzen die Grünen seit 2014 in der ersten schwarz-grünen Koalitionsregierung in einem Flächenland, die als Vorzeigemodell für den Bund dient. Ohne allzu große Erschütterungen lief die erste Koalition relativ geräuschlos ab, obwohl es genug Gründe für Kritik gab und die Grünen sich geschmeidig an die CDU anpassten.
Die Grünen werden als glaubwürdige Verfechterin einer humanen Flüchtlingspolitik angesehen, die sich für Familienzusammenführung, Fluchtursachenbekämpfung und zivile Seenotrettung im Mittelmeer einsetzt. Doch die Bilanz der schwarz-grünen Regierung ist eine andere: In den ersten vier Monaten 2018 wurden knapp 600 asylsuchende Männer und Frauen aus Hessen abgeschoben. Dies waren laut Radiosender hr-info rund 50 Prozent mehr als im selben Zeitraum 2017. Nach Angaben des Innenministeriums sind die gestiegenen Zahlen darauf zurückzuführen, dass „Ausreisepflichtige“ konsequent abgeschoben wurden. Schon 2015 trat die Landtagsabgeordnete Mürvet Öztürk aus Protest gegen die Flüchtlingspolitik aus der Landtagsfraktion der Grünen und schließlich auch aus der Partei aus. Die geplante „Verschärfung des Asylrechts auf Kosten Schutzsuchender“ sei mit ihrem Gewissen nicht zu vereinbaren, so Öztürk. Sie kritisiert die Absicht, die Liste der sogenannten sicheren Herkunftsländer zu erweitern und den Flüchtlingen in den Erstaufnahmeeinrichtungen Sachleistungen statt Taschengeld zu geben.
Außerdem verabschiedete die Landesregierung ein Verfassungsschutzgesetz, das der Polizei mittels des sogenannten „Hessentrojaners“ das Mithören und Mitlesen auf Smartphones und Computern erlaubt. Die schwarz-grüne Koalition vereinbarte Einsparungen durch Stellenstreichungen und eine Aussetzung der Einkommenserhöhungen im öffentlichen Dienst, um die Schuldenbremse einzuhalten. Auch beim grünen Herz- und Magenthema Flughafen Frankfurt obsiegt der Anpassungsdruck. Wegen der „großen Bedeutung des Flughafens für Hessens Wirtschaft“ befürworten die Grünen den weiteren Ausbau und rollen mit dem Bau eines dritten Terminals dem Billigflieger Ryanair einen roten Teppich aus. Damit verraten sie im Grund ihre eigenen Ökoziele.
Umweltfragen im Mittelpunkt
In nahezu allen Bundesländern werden derzeit sogenannte Polizeiaufgabengesetze beschlossen, die der Staatsgewalt mehr Vollmachten verleihen. In den letzten Monaten fanden dagegen viele Demonstrationen statt. Vor allem die Grünen werden hierbei oft als Bündnispartner angesehen, obwohl sie wie in Hessen das Gegenteil praktiziert haben.
Entgegen ihrer „Realpolitik“ besitzen die Grünen noch das Ansehen einer „linken, weltoffenen und ökologischen“ Partei. Zum anderen entwickelte sich die Partei nicht nur in Hessen zu einer angepassten Regierungspartei, die auch in liberal-konservative Wählerschichten eingedrungen ist. Der Europa-Politiker Reinhard Bütikofer stellt fest, „dass die politische Mitte neu gestaltet wird, mit einer Verschiebung hin zu den Grünen.“
Die allseits präsente ökologische Frage wirkt. Der extrem trockene Sommer 2018 hat viele Menschen über die Klimakatastrophe grübeln lassen. 71% der Bevölkerung fürchten sich vor den Folgen. Schon im März 2011 rückte die Atomkatastrophe im japanischen Fukushima die Umweltfrage schlagartig in den Vordergrund. Eine Folge: Bei den Kommunalwahlen in Hessen kamen die Grünen auf 18,5 Prozent. Auch bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz erreichten sie Rekordwerte und kamen in beiden Ländern erstmals in die Regierung. In Baden-Württemberg kam der grüne Regierungschef Winfried Kretschmann bei Bürgerlichen und Kapitalisten so gut an, dass die Partei sich 2016 auf 30,3 Prozent steigerte und die CDU abhängte.
Linksliberale Partei
Die Mittelschicht erodiert weiter. Menschen mit mittleren Einkommen sind verunsichert, verärgert und orientierungslos. In dieser Umbruchsituation sprechen die Grünen wohlsituierte Wähler aus den Milieus der linken, ökologisch bewussten Mitte an. Immerhin sehen 40% der Bevölkerung in den Grünen eine Partei „für Leute, denen es gut geht“. Der Europa-Politiker Daniel Cohn-Bendit erklärt den Erfolg der Grünen: „Eine klassisch linke Partei sind die Grünen nicht mehr, wie man sie früher definiert hat. Ich würde nicht sagen, dass sie in der Mitte stehen… Sie sind linksliberal, ökologisch und europäisch. Auf der linken Flanke wollen manche Wähler eine radikalere Opposition. Das sind die Grünen erst mal nicht mehr.“ (Süddeutsche Zeitung, 26.10.2018)
Insgesamt ist die grüne Wählerschaft unter Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen etwa dreimal so stark wie unter Nicht-Akademikern. Der Bundesvorsitzende Robert Habeck spricht von einer „Reanimierung der demokratischen Mitte“. Die zunehmende soziale Spaltung und Polarisierung führt beim kleinbürgerlichen grün-liberalen Milieu zu einer Sehnsucht nach gesellschaftlicher Stabilität und einer „Zukunftsfähigkeit der Demokratie“, die sich als soziale und ökologische Modernisierung darstellt. Die FDP kann diese Rolle nicht ausfüllen, weil sie weiter als rein wirtschaftsliberale und kapitalhörige Partei angesehen wird.
Grüne Häutung
Die Grünen haben sich längst zum Sprachrohr eines ökologisch angehauchten Kapitalismus erhoben. Sie sind zu einer „stinknormalen“ bürgerlichen Partei geworden, die auf den Parteispendenlisten von Industrie, Banken und Versicherungen auf Augenhöhe mit CDU, CSU, FDP und SPD rangiert. In Bayern hätten sie gerne mit der CSU koaliert.
Radikalere Strömungen haben sich längst von der einstigen Öko-Partei abgewendet. Knackpunkte waren die deutschen Kriegsbeteiligungen im ehemaligen Jugoslawien 1999 und in Afghanistan 2001 unter der rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder (SPD) sowie die Agenda 2010, die bis 2005 umgesetzt wurde und das größte Sozialabbauprogramm nach 1945 darstellt. Die deutsche Militärpolitik war auch kein Streitthema bei den Verhandlungen von CDU/CSU, FDP und Grünen nach der Bundestagswahl 2017. Daran wären die Gespräche nicht gescheitert. Es gab sogar Überlegungen über einen möglichen Einsatz der Bundeswehr in Syrien. Trotzdem gelten die Grünen als „Friedenspartei“ und „Europapartei“. Im Programmentwurf für die Europawahl lobt die Führung der Grünen die Gründung der ständigen und strukturierten Zusammenarbeit im Militärbereich der EU-Staaten (Pesco). Außerdem habe die NATO „nach wie vor eine wichtige Bedeutung für die Sicherheit Europas“. In den geplatzten Jamaika-Verhandlungen 2017 akzeptierten sie die „schwarze Null“ und Schuldenbremse und plädierten für einen ausgeglichenen Haushalt, bevor die FDP die Gespräche beendete.
Grüner Kapitalismus?
Die Grünen appellieren an einen grünen Kapitalismus, der Wachstum und ökologische Nachhaltigkeit miteinander versöhnt. Damit soll die Welt gerettet werden, ohne die Eigentumsverhältnisse zu ändern. Durch marktkonforme Mittel (z.B. Emissionshandel) und auf den Konsumenten ausgerichtete Appelle soll der Kapitalismus von seinen ökologischen Auswüchsen befreit werden und sich in ein Wirtschaftssystem verwandeln, das privates Profitstreben mit ökologischer Nachhaltigkeit versöhnt. Dazu gehören grüne Finanzmärkte, grüne Steuern, grüne Aktien und Rendite. Die „ungezügelte Globalisierung“ soll durch eine Handelspolitik ersetzt werden, die „fair“ ist und „soziale und ökologische Standards“ in aller Welt ausbaut. Klimaschutz sei heute ein „Geschäftsmodell“, so die Grünen. Sie werben mit „Wirtschaftszweigen, die mit grünen Ideen schwarze Zahlen schreiben und schon heute die Märkte von morgen erschließen“. Das Elektroauto dient als Beispiel, um „die Zukunft der deutschen Automobilindustrie zu sichern“, sagt Winfried Kretschmann, Regierungschef im Autoland Baden-Württemberg. Also grüne Technologie als Exportschlager. Ein alternatives Verkehrskonzept nach den Bedürfnissen von Mensch und Natur, das eine Kampfansage an die Autolobby wäre, ist nicht in Sicht. So kämpft Kretschmann weiter für den Diesel als „Brückentechnologie“ und gegen zu hohe Abgasvorgaben.
Ökologie und Planwirtschaft
Das kapitalistische Wirtschaftssystem basiert auf ökologischem Raubbau. Wir müssen die Umwelt vor dem Kapitalismus retten und der globalen Umweltkatastrophe eine weltweite sozialistisch-demokratische Wirtschaftsordnungentgegenstellen. Diese setzt gesellschaftliches Eigentum und Kontrolle über die Schalthebel der wirtschaftlichen Macht voraus. Daher brauchen wir die Überführung der Industriekonzerne in öffentliches Eigentum unter demokratischer Kontrolle von Belegschaften, Gewerkschaften und Umweltverbänden.
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