Kategorie: Deutschland

Thüringer Signale

Es gehört mittlerweile fast schon zum täglichen Brot, wenn wir einer Landtagswahl in einem der 16 Bundesländer eine mit einem Erdbeben oder einem Wirbelsturm vergleichbare Signalwirkung und Warnfunktion bescheinigen.


Die Wahl am 27. Oktober 2019 im 2,2 Millionen-Einwohnerland Thüringen gehört mit Sicherheit zu dieser Kategorie und bestätigt gleichzeitig Tendenzen, die bereits zwei Monate zuvor in Sachsen und Brandenburg deutlich wurden.

Das Wahlergebnis ist vor dem Hintergrund einer deutlich gestiegenen Wahlbeteiligung eine weitere Klatsche für die Parteien der kleinen Berliner Bundesregierung, die man lange als „große“ Koalition (GroKo) bezeichnete. So kamen CDU und SPD mit 21,8 bzw. 8,2 Prozent zusammen gerade mal auf 30 Prozent und damit nicht einmal ein Drittel der gültigen abgegebenen Stimmen. Für beide sind diese Werte historische Tiefstände im Land. In besseren Zeiten hatte die CDU in Thüringen schon mal über 50 und die SPD knapp 40 Prozent. Jetzt verlor die Union erneut zweistellig. Erstmals seit 1990 ist die CDU nicht mehr die Nr. 1 bei Thüringer Landtagswahlen, sondern landete hinter der LINKEN und AfD auf Platz drei.

Erinnern wir uns: vor genau einem Jahr kündigte Kanzlerin Angela Merkel nach einem Zehn-Prozent-Verlust der CDU in Hessen ihren Rückzug vom CDU-Vorsitz an. Unter ihrer Nachfolgerin „AKK“, die sich mit knappstem Vorsprung gegen Merkels Erzrivalen Friedrich Merz als neue CDU-Chefin durchsetzte, ist der Zustand der Partei noch desolater. Die Kampfansage von Merz und andere Stimmen etwa aus der Jungen Union verheißen der CDU heftige innerparteiliche Spannungen und Stürme. Und in der SPD sehen sich GroKo-Gegner in ihren Warnungen bestätigt. Unterdessen setzt die Führung und Parteibürokratie auf Fortsetzung der GroKo und will ihren Favoriten Olaf Scholz mit medialer Hilfe zum neuen Vorsitzenden machen. Damit setzt sich der Niedergang fort.

FDP und Grüne nahmen mit 5,0 bzw. 5,2 Prozent ganz knapp die magische Fünf-Prozent-Hürde. Die großbürgerliche FDP musste bis zuletzt zittern und lag am Ende um ganz fünf Stimmen über der entscheidenden Schwelle. Sie schwächelt im Osten ohnehin, weil hier die Kapitalistenklasse und das gehobene Kleinbürgertum weniger stark verankert sind als im Westen und damit der Nährboden für die Liberalen viel weniger hergibt. Auch die Grünen, die vor allem in Großstädten und unter jüngeren Menschen mit höherer Bildung stärker verankert sind und so etwas wie eine modernere, weltoffene FDP des 21. Jahrhunderts darstellen, schwächeln im Osten. In Thüringen schnitten sie noch einmal deutlich schlechter ab als acht Wochen zuvor in Sachsen (8,6%) oder Brandenburg (10,8%). Der Grünen-Hype könnte sich damit dem Ende zuneigen.

Rekordergebnis für die LINKE

Mit 31 Prozent ging die LINKE als strahlende Siegerin aus der Wahl hervor und konnte damit die verheerenden Niederlagen von Brandenburg und Sachsen kurzfristig in den Hintergrund rücken. Das ist ein Grund zur Freude, aber kein Grund zur Selbstgefälligkeit. Thüringen ist das einzige Land, in dem die LINKE seit 1990 bei jeder Landtagswahl zulegen konnte. Gleichzeitig jedoch hat die bisherige Koalition aus LINKEN, SPD und Grünen keine Mehrheit mehr im Erfurter Landtag. Der seit fünf Jahren regierende Ministerpräsident Bodo Ramelow setzte im Wahlkampf so sehr auf seine in Umfragen ermittelte Popularität, dass er auf vielen Wahlplakaten ohne das Logo der Partei auftauchte. Eine Wechselstimmung, die einen anderen Kopf in der Staatskanzlei wollte, gab es nicht.

Neben diesem Persönlichkeitsfaktor dürften andere wesentliche Faktoren gezogen haben. Es wäre auch falsch, Wahlerfolge nur mit dem Charisma einzelner Persönlichkeiten zu erklären. In vielen Wahlen in vielen Ländern kommt eine Gesetzmäßigkeit zur Geltung: Wenn die arbeitende Klasse die Wahl hat zwischen zwei ähnlichen sozialdemokratischen, reformistischen Parteien mit ähnlichem Programm, dann entscheidet sie sich im Streben nach Einheit und Stärke immer für die Größere der beiden. Dies musste die LINKE in Brandenburg schmerzhaft erfahren, als die Menschen nach zehn Jahren Regierungsbeteiligung kaum Unterschiede zur nach wie vor tonangebenden Landes-SPD erkannten. LINKE-Mitglied René Wilke, Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder), zieht daraus den Schluss, „dass sich die Linke und die SPD in Zukunft ernsthaft fragen müssen, ob es langfristig eine Berechtigung für beide Parteien gibt“ – eine Ansicht, die wir nicht teilen. In Thüringen zog die LINKE nach dieser Gesetzmäßigkeit noch weiter Stimmen von der schwächelnden SPD an. Erfolge und kleine Verbesserungen, die es in den letzten fünf Jahren gab, wurden der führenden Regierungspartei und ihrem Ministerpräsidenten angerechnet.

Ein weiterer Faktor für die Stärke der LINKEN liegt allerdings auch in der Polarisierung, die den Wahlkampf zunehmend prägte. Dass Umfragen seit Monaten ein Kopf an Kopf-Rennen zwischen Ramelows LINKEN und der Rechtspartei AfD voraussagten, mobilisierte zusätzlich Stimmen. Die Gefahr, dass AfD-Führer Björn Höcke, der laut Gerichtsbeschluss als Faschist bezeichnet werden darf, Ramelow und die LINKE überflügeln könnte, schreckte auf und wirkte zusätzlich mobilisierend.

So besann sich die rot-rot-grüne Koalition gerade noch rechtzeitig vor der Wahl auf konkrete und populäre Maßnahmen wie die Einführung eines zweiten beitragsfreien Kindergartenjahres oder die Abschaffung der Straßenausbaubeiträge, was in einem von Dörfern und Kleinstädten geprägten Land vor allem auch die vielen kleinen Eigenheimbesitzer ohne große Einkommen entlastet. Gewerkschaften freuen sich über ein neues Vergabegesetz in Thüringen. Damit wird bei der Vergabe öffentlicher Aufträge an private Firmen ein vergabespezifischer Mindestlohn von 11,42 Euro für den Fall verlangt, dass es keinen repräsentativen Tarifvertrag gibt. Dies entspricht nach DGB-Angaben der untersten Stufe des Tarifvertrages für die Landesbeschäftigten. Ein kleines, aber wichtiges Signal in einem Land, das trotz statistisch niedriger Arbeitslosigkeit ein Niedriglohnland mit weiter sinkender Tarifbindung ist. Ein Ergebnis davon ist, dass nach verschiedenen Auswertungen am 27. Oktober in Thüringen 31 Prozent der Arbeiter, 34 Prozent der Angestellten, 33,7 Prozent der männlichen und 40,2 Prozent der weiblichen Gewerkschaftsmitglieder LINKE wählten und die AfD hier nicht behaupten kann, stärkste Arbeiterpartei zu sein. Allerdings legte sich die rot-rot-grüne Koalition mit dem Bekenntnis zur Schuldenbremse auch Fesseln an. So fehlen immer noch viele Lehrer an Thüringer Schulen und fällt Unterricht aus. Zu den dunklen Punkten der letzten fünf Jahre gehört auch die Zustimmung zu einem Finanzpaket im Bundesrat 2017, mit dem die Autobahnprivatisierung eingeleitet wurde. In Thüringen fanden seit 2014 auch mehr Abschiebungen statt als in den Vorjahren.

AfD-Aufstieg als Warnschuss

Dennoch sind die 23,4 Prozent für die AfD ein Warnschuss für die Linke und die Arbeiterbewegung und reihen sich ein in die vergleichbaren jüngsten Erfolge des Rechtspartei in Sachsen und Brandenburg. Eine Mehrheit der AfD-Anhängerschaft machte hier ihr Kreuzchen bewusst und aus Überzeugung und nur eine Minderheit wählte die AfD aus Protest und Unzufriedenheit. Damit ist der rechte „Flügel“ in der AfD gestärkt.

Der Aufstieg der AfD speziell im Osten hat seine Gründe. Thüringen ist eine Brutstätte der militanten Neonaziszene und Mutterland der Neonaziterrorbande NSU, die über viele Jahre durch ein System gut bezahlter Verfassungsschutzagenten und V-Leute alimentiert wurde und mordend durch das Land zog. Dennoch kam es unter dem Druck der SPD nicht zur Auflösung des rechtslastigen Landesamts für Verfassungsschutz, das noch vor gar nicht allzu langer Zeit den Abgeordneten Bodo Ramelow überwachte.

Und schon melden sich in der CDU erste Politiker zu Wort, die auf die AfD zugehen und mit ihr kooperieren wollen. Im neuen Landtag hat der Bürgerblock aus AfD, CDU und FDP eine rechnerische Mehrheit, auch wenn die Bundes-CDU und maßgebliche Kreise der herrschenden Klasse und Unternehmerverbände derzeit von einem Pakt mit der AfD nichts halten. Die AfD-Spitzen werden sich rasch dem Kapital als sein Werkzeug andienen. Als sich Höcke im Frühjahr 2018 in eine Demonstration von Eisenacher Opel-Beschäftigten und IG Metall einreihen wollte, wurde er von Arbeitern und Gewerkschaftern vertrieben. Wir müssen die AfD und Umfeld mit einem klaren Klassenstandpunkt entlarven und bekämpfen – jetzt erst recht.

Höcke und der brandenburgische AfD-Landesvorsitzende Andreas Kalbitz sind übrigens von ihrer Herkunft und Biografie „Wessis“ und tummelten sich schon vor der AfD-Gründung in der extrem rechten Szene. Beide vertretren die gefährliche Verschwörungstheorie vom „Großen Bevölkerungsaustausch“, der international bereits vielen Rechtsterroristen zur Rechtfertigung von Terrortaten gedient hat. Sie wissen mit ihrer rassistischen Demagogie aber die Stimmung im Osten für ihre Zwecke gut zu nutzen. „Vollende die Wende!“, so eine ihrer Wahlkampfparolen in Anspielung auf die Revolution im Herbst 1989 in der damaligen DDR. Viele Menschen haben erfahren, wie nach der Angliederung an die BRD die Wirtschaft der ehemaligen DDR mit Hilfe der Treuhandanstalt von westlichen Kapitalisten privatisiert und platt gemacht wurde und dadurch viele Hoffnungen und Lebenspläne zerstört wurden. Der Einwohnerschwund in Thüringen hält – abgesehen von Erfurt und Jena – weiter an.

Dass Konterrevolutionäre wie die AfD mit hohlen, revolutionär klingenden Phrasen auf Stimmenfang gehen, ist nichts Neues. Das tat Hitlers NSDAP vor 1933 auch schon. In Thüringen saßen Nazis schon vor 1933 in der Landesregierung. Bis 1923 gab es allerdings eine „Arbeiterregierung“ der Arbeiterparteien SPD und KPD, die dann unter dem Druck der Reichswehr und rechter Kreise verdrängt wurde.

Was nun?

Rein hypothetisch könnten AfD, CDU und FDP Ramelow und seine Regierung abwählen und einen neuen Regierungschef ins Amt hieven. Dies wäre allerdings ein Tabubruch, zu dem CDU und FDP derzeit nicht bereit zu sein scheinen. Somit könnte die Regierung auch nach der Konstituierung des neuen Landtags vorerst im Amt bleiben, wenn auch als Minderheitsregierung. Dies könnte sich über Jahre hinziehen. Ramelow und die LINKE sind gestärkt und sollten diese Position als stärkte Landtagsfraktion selbstbewusst für eine konsequente linke Offensive nutzen. Sie sollten keine Minute für Kooperationsverhandlungen mit CDU und FDP oder Gedanken an mögliche inhaltliche Zugeständnisse an die Bürgerlichen verschwenden, weil dies die AfD weiter stärken könnte. Sie sollten die Tribüne des Landtags und des Bundesrats nutzen, um statt bürgerlicher Konsenssoße handfeste Probleme der arbeitenden Bevölkerung vorzubringen und konsequente Alternativen aufzuzeigen.

Die Mehrheiten für eine kämpferische sozialistische Politik finden sich nicht im Parlament. Wir müssen sie uns auf der Straße und in Betrieben, Schulen, Hochschulen und Wohngebieten suchen und dorthin unsere Aktivitäten verlagern. Also raus auf die Straße und vorwärts zum Aufbau einer lebendigen Partei mit Wurzeln in Stadt und Land, Betrieben, Schulen und Hochschulen, die in den aktuellen Bewegungen mit eigenen Ideen sichtbar wird. Dazu brauchen wir eine gründliche politische Schulung der Mitgliedschaft in marxistischer Theorie und Geschichte der Arbeiterbewegung. Die anstehende Programmdiskussion muss dazu genutzt werden. Wissen ist Macht.

Jede noch so kleine Reformforderung stößt heute auf Kritik, Widerstand und Sabotage der Herrschenden, die sich mit Händen und Füßen gegen jeden Eingriff in ihre Profite wehren. Darum müssen Reformziele in einem revolutionären Übergangsprogramm mit der notwendigen Enteignung und Vergesellschaftung von Spekulanten, Großkonzernen und Versicherungen verbunden werden.

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