Dass dabei Vizekanzler und Bundesfinanzminister Olaf Scholz, der Kandidat des Establishments und der Parteirechten, durchfiel, war eine kleine Sensation, die kurzfristig manchen die Sprache verschlug und die Mainstreammedien aus der Fassung brachte. 45 Prozent im Basisvotum für das Duo Klara Geywitz und Olaf Scholz sind eine Klatsche für den rechten Parteiflügel. 53 Prozent der abstimmenden Parteimitglieder favorisierten das neue, bisher weitgehend unbekannte Duo an der Parteispitze aus Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans (ESKABO). Dabei hatten Regierungsmitglieder und bürgerliche Medien unaufhörlich für Scholz/Geywitz getrommelt und nach angeblich repräsentativen Umfragen deren Sieg „prognostiziert“.
Doch die befürchtete „Rebellion“ und „Revolution“ und von manchen an die Wand gemalte „Spaltung“ blieb aus, als sich ESKABO in Windeseile und Rekordgeschwindigkeit anpassten und unter dem Druck des Regierungsflügels und der herrschenden Klasse fügten. Statt Corbyn-Effekt, statt mutigem Aufbruch und Schlusstrich unter die arbeiterfeindliche Sozial- und Rentenpolitik, statt Abkehr von der Agenda 2010 und ihren Urhebern und Verteidigern und Ende der Großen Koalition (GroKo) waren vorweihnachtliche Harmonie, Friede, Freude, Eierkuchen und Konsenssoße angesagt. Dies schlug sich in den lauwarmen programmatischen Parteitagsbeschlüssen und Manövern des Parteitags nieder. So wurde kurzerhand die Zahl der stellvertretenden Parteivorsitzenden auf fünf heraufgesetzt, weil die maßgeblichen Akteure eine panische Angst vor einer demokratischen Wahl der Delegierten zwischen dem vermeintlich radikalen Juso-Chef Kevin Kühnert und der Gallionsfigur der Parteirechten, Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hatten.
Kühnert hatte sich in der Kür der zahlreichen Bewerber für den SPD-Vorsitz schon in der ersten Runde im September und damit ziemlich früh für ESKABO ausgesprochen und die Jusos darauf eingestimmt. „Die Erneuerung der SPD wird außerhalb der GroKo sein oder sie wird nicht sein“, hatte er noch vor zwei Jahren erklärt. Jetzt ist Kühnert neuer stellvertretender SPD-Vorsitzender und hat es mit einer tatsächlichen Erneuerung und einem GroKo-Ausstieg nicht mehr so eilig. Faktisch durchgesetzt hat sich jenseits der neuen Köpfe an der Parteispitze der Regierungsflügel, also alle, die direkt oder indirekt an den lukrativen Regierungsposten hängen oder als Abgeordnete mögliche Neuwahlen fürchten wie der Teufel das Weihwasser.
Die inhaltlichen Beschlüsse des Parteitags sind so angelegt, dass sie den Fortbestand der GroKo auf keinen Fall behindern. Nach unverbindlichen Gesprächen mit CDU und CSU über einzelne Wünsche der SPD und neue Vorhaben wird sich der Vorstand mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einzelnen kosmetischen „Nachbesserungen“ zufrieden geben. Die erniedrigende Hartz IV-Grundsicherung soll künftig „Bürgergeld“ heißen. Sanktionen und Leistungskürzungen bis 30 Prozent sollen weiter möglich sein. Die Forderung nach Ende der Schuldenbremse und mehr Investitionen in die Infrastruktur lässt die Frage offen, welche Klasse dafür aufkommen soll.
Auch wenn einzelne zaghafte Sozialstaatsforderungen oberflächlich betrachtet gut klingen und einen „Aufbruch in eine neue Zeit“ signalisieren sollen, bringen sie keine grundlegende Abkehr von dem Kahlschlag an Sozialstaat und Arbeitnehmerrechten, der seit gut zwei Jahrzehnten unter maßgeblicher SPD-Beteiligung vollzogen wurde. Schließlich hat die SPD seit 1998 in 17 von 21 Jahren im Bund regiert. Die größten sozialpolitischen Rückschritte der Nachkriegszeit tragen die Namen und Handschrift sozialdemokratischer „Emporkömmlinge“: Riester und Hartz. „Wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt“, sagte der damalige SPD-Kanzler Gerhard Schröder Anfang 2005 beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Vergessen wir nicht den ehemaligen Vizekanzler, SPD-Chef und Arbeitsminister Franz Müntefering, der als Vater der „Rente mit 67“ Walter Riesters Kahlschlag bei der gesetzlichen Rentenversicherung fortsetzte und den Marsch in die Altersarmut für Millionen Menschen beschleunigte. Die auf dem SPD-Parteitag demonstrativ gefeierte jüngste Einigung zwischen Unionsparteien und SPD zur Grundrente ist angesichts der schmerzhaften Einschnitte bei Renten und Rentenerwartungen nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Am gewohnten Straßenbild mit älteren Menschen, die in Abfallbehältern nach Pfandflaschen suchen und am Boom von Tafeln als feste Einrichtung der Armenspeisung wird sich nichts ändern. Während Berufstätige mit einem „perspektivisch“ von der SPD angestrebten Stundenlohn von 12 Euro nach 35 Beitragsjahren im Alter weiterhin an der Armutsschwelle verharren und erst ab 15 Euro auf eine „armutfeste“ gesetzliche Rente hoffen könnten, kommen Bundestagsabgeordnete nach nur acht Jahren Parlamentstätigkeit bereits auf 2000 Euro Alterspensionsanspruch und mit jedem weiteren Jahr auf weitere 250 Euro, womit sie ausgesorgt haben.
Talfahrt
Arbeitende Menschen hingegen, die sich Sorgen um ihre Zukunft machen und Angst davor haben, etwa nach schwerer Krankheit lang vor dem Rentenalter aus der Arbeitswelt aussortiert zu werden, wenden sich zunehmend von der Sozialdemokratie ab. So lässt sich der langfristige rasante Niedergang verstehen, den die frühere „Hoffnungsträgerin“ und traditionelle Arbeiterpartei SPD seit gut 20 Jahren hingelegt hat. 1998 wurde sie mit 21 Millionen Zweitstimmen und 41 Prozent zur stärksten Partei. 2017 errang sie mit 9,5 Millionen Stimmen (20,5 Prozent) nicht einmal halb so viele Stimmen. In aktuellen Umfragen der letzten Wochen lag sie zwischen 13 und 16 Prozent, bei Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Bayern schnitt sie nur noch einstellig ab. Und diese langfristige Erosion der Wählerbasis erklärt auch das rasante Kommen und Gehen an der Parteispitze. In 25 Jahren hat die Partei 12 Parteivorsitzende verschlissen. Der Anfang 2017 als „Wunderwaffe“ mit 100 Prozent Zustimmung aufs Schild gehobene Martin Schulz war schon nach einem Jahr am Ende. Auch seine im Mai 2018 gewählte Nachfolgerin Andrea Nahles hielt sich nur ein Jahr und verabschiedete sich dann im Groll gänzlich aus dem Politbetrieb.
Ihre Ankündigung, mit der Schröder-Ära brechen zu wollen, haben ESKABO wohl nicht wirklich ernst gemeint. Aber gerade der Wille eines Teils der Basis nach einer Kursänderung hat ESKABO an die Parteispitze gespült. Aber anstatt die Basis zu organisieren, dem Druck und der Sabotage des Parteiapparats und der Bürokratie in Regierung, Bundestagsfraktion und Willy-Brandt-Haus zu widerstehen und den Kampf gegen die Schröderianer zu führen, zeigten sie sich rasch gefügig und anpassungsfähig. Einem Jeremy Corbyn können sie offenbar nicht das Wasser reichen. Ein „Corbyn-Effekt“, also ein scharfer Linksruck und Zustrom von Hunderttausenden Arbeitern und Jugendlichen wie bei der britischen Labour Party, ist in der SPD nicht in Sicht.
So bestätigt sich unsere Annahme, dass die SPD auch mit ESKABO und Kevin Kühnert als neue Führungsfiguren eine Partei zwischen allen Stühlen bleiben würde, ganz im Interesse der herrschenden Klasse, der sie seit Jahrzehnten die Stange hält, unabhängig davon, wer gerade den Parteivorsitz inne hat. Vor einem halben Jahr hatte sich der Juso-Vorsitzende noch für die Enteignung von Großkonzernen wie BMW ausgesprochen und damit ein starkes Echo gefunden. Geschwätz von gestern?
Bürokraten und Kapitalisten unter einer Decke
Die SPD hat aus besseren Zeiten einen starken bürokratischen Apparat geerbt und ist in hohem Maße von staatlichen Mitteln und Mandatsträgerbeiträgen abhängig, welche deutlich über 40% der Gesamteinahmen der Partei ausmachen. Anhaltender Mitgliederschwund und der Verlust von Mandaten verschärfen die finanziellen Engpässe und machen den Parteiapparat noch käuflicher für Kapitalspenden und Lobbydruck. Die Partei könne sich nicht mehr „den Apparat einer 40-Prozent-Partei mit den Einnahmen einer 20-Prozent-Partei leisten“, so Bundesschatzmeister Dietmar Nietan. „Aufgrund der finanziellen Situation wird das Budget für die anstehende Bundestagswahl in 2021 deutlich geringer ausfallen müssen.“ Neben Naturfreunden und Arbeiterwohlfahrt gehörten vor allem Unternehmerverbände und Großkonzerne wie Volkswagen, Audi oder RWE zu den wesentlichen Sponsoren des jüngsten SPD-Parteitags. Dies wirft ein Licht auf die Abhängigkeit des SPD-Apparats vom großen Kapital. Dass Saskia Esken nun sagt, über Steuersenkungen für Unternehmen könne man mit der SPD immer reden, solange ein „Ausgleich an anderer Stelle“ erfolge, ist kein gutes Omen für eine „neue Zeit“. Die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung ebenso wie die Erfahrung in anderen Ländern wie Frankreich, Griechenland, den Niederlanden, Österreich oder Brasilien zeigt eines: Die herrschende Klasse bedient sich in Krisenzeiten mitunter gern der Sozialdemokratie mit ihrer kapitalfreundlichen Politik und legt sie dann beiseite, wenn sie ihre Schuldigkeit getan und sich selbst demontiert und ausgelaugt hat. Wie lange brauchen die deutschen Kapitalisten noch die Dienste der SPD-Führung?
Ein fragwürdige und unrühmliche Rolle spielten in den vergangenen Wochen übrigens auch die Spitzen der Gewerkschaftsapparate und Arbeiteraristokraten wie der Daimler-Gesamtbetriebsratsvorsitzende, die sich im Mitgliederentscheid für Scholz und die GroKo ins Zeug legten und damit den falschen Eindruck weckten, die arbeitende Bevölkerung und Gewerkschaftsbasis stehe geschlossen hinter dem rechten SPD-Flügel. Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann war bereits vor zwei Jahren ein energischer Befürworter eines Eintritts der SPD in die GroKo nach der Bundestagswahl 2017. Beim jüngsten SPD-Parteitag behauptete er, mit Sozialdemokraten in der Regierung sei es immer gut um Arbeitnehmerinteressen bestellt gewesen. Diese Behauptung blendet vor allem die leidvolle Erfahrung der letzten beiden Jahrzehnte mit Riester, Hartz, Agenda 2010 und Rente 67 aus. Für Gewerkschaftsspitzen mag es bequem sein, durch einen direkten Draht in die Ministerien und Lobbyarbeit die eine oder andere Sache zu regeln und dies als großen Erfolg darzustellen. Letztlich werden angesichts der heraufziehenden tiefen Krise des Kapitalismus die Gewerkschaften sich wieder auf Mobilisierung der Basis, Druck von unten und Klassenkampf besinnen müssen, um bestehende Errungenschaften überhaupt zu halten. Es ist unübersehbar, dass sich die Kapitalisten zunehmend von „Sozialpartnerschaft“ und „Co-Management“ mit der Gewerkschaftsführung weg bewegen.
Selbstaufgabe oder Klassenkampf?
Als am Abend des 30. November der Sieg von ESKABO im Mitgliederentscheid bekannt wurde, schlug manchen in der Partei DIE LINKE das Herz höher und keimten kurzfristig neue Hoffnungen auf „Rot-Rot-Grün“ auf. Manche träumen gar von einer Wiederannäherung und Verschmelzung beider Parteien. Schlagen wir uns solche Illusionen aus dem Kopf. Die LINKE braucht ein konsequent sozialistisches Programm und keine programmatische Verwässerung. Mehrheiten für eine kämpferische sozialistische Politik finden sich nicht im Parlament und kommen auch nicht durch Manöver und Kopfgeburten bürokratischer Apparate zustande. Wir müssen neue Bündnisse auf der Straße und in Betrieben, Schulen, Hochschulen und Wohngebieten schmieden und dorthin unsere Aktivitäten verlagern. Reichen wir allen kritischen und klassenkämpferischen bisherigen SPD-Mitgliedern und -Wählern die Hand und orientieren wir uns an den revolutionären marxistischen Traditionen der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung. Von Rosa Luxemburg haben wir gelernt, dass jede noch so kleine und bescheidene Reformforderung heute auf Kritik, Widerstand und Sabotage der Herrschenden stößt, die sich mit Händen und Füßen gegen jeden Eingriff in ihre Profite wehren. Darum müssen Reformziele in einem revolutionären Übergangsprogramm mit der notwendigen Enteignung und Vergesellschaftung von Spekulanten, Großkonzernen und Versicherungen verbunden werden.
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