Kategorie: Deutschland |
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Editorial Funke Nr. 123: Gemeinsam kämpfen statt einzeln zur Schlachtbank gehen |
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Wir leben in stürmischen Zeiten und erleben fast tagtäglich, wie die alte Stabilität der Gesellschaft zerbröselt. Was jahrzehntelang als unerschütterlich galt, löst sich vor unseren Augen auf. Der Kapitalismus steht vor der tiefsten Krise in seiner Geschichte. Welche Konsequenzen ziehen Marxisten daraus? Wie bereiten wir uns auf die kommenden Erschütterungen und Auseinandersetzungen vor? |
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Die bürgerliche Welt spricht gebetsmühlenartig von der Corona-Krise und schiebt alle wirtschaftlichen Probleme auf das Virus. Demgegenüber haben wir von Anfang an betont: Die Pandemie ist nicht die tiefe Ursache der weltweiten kapitalistischen Überproduktionskrise, sondern Auslöser und Brandbeschleuniger. Sie macht alle Missstände, Widersprüche und Ungerechtigkeiten sichtbar, die schon längst vorhanden waren. Schon in den letzten Monaten des Jahres 2019 waren Krisensignale unübersehbar. Das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland wuchs im vergangenen Jahr nur noch um 0,6 Prozent. In der Autobranche zeichnete sich schon ab Herbst 2019 eine große Absatz- und Überproduktionskrise ab. Nun erreichen uns täglich Hiobsbotschaften über drohende Betriebssschließungen und Massenentlassungen – ob in der Auto- und Zuliefererindustrie, bei der Lufthansa, in Werften an der Küste oder bei der Warenhauskette Karstadt-Kaufhof. Millionen, die auch im Sommer noch mit deutlichen Einbußen in Kurzarbeit verharren und der Armutsgrenze nahe sind, stellen sich die bange Frage: Was kommt danach? Einbruch im „Speckgürtel“ Über viele Jahre war die hohe Exportabhängigkeit eine Stärke des deutschen Kapitalismus mit seinen hohen Exportüberschüssen. Daraus wird jetzt ein gewaltiger Nachteil. Es trifft verstärkt den Süden der Republik, wo man sich im „Speckgürtel“ rund um die Metropolen mit namhaften Großkonzernen wie Daimler, BMW, Audi, Siemens, ZF oder Bosch und vielen hundert Zulieferern jahrzehntelang auf der sicheren Seite wähnte. Jetzt weckt die angekündigte massenhafte Arbeitsplatzvernichtung plötzlich Existenzängste. Während die großen Fahrzeugbauer insgesamt 100 Milliarden Euro auf der hohen Kante haben, droht im Herbst eine neue Insolvenzwelle. Sie könnte vor allem kleinere und mittelgroße Firmen erfassen und im schlimmsten Fall eine Bankenkrise auslösen. „Die Insolvengefahr im Osten ist genau so groß, womöglich größer als im Westen“, befürchtet Joachim Ragnitz vom Ifo-Institut in Dresden. Diese Krise weckt bei Kapitalisten und ihren Interessenvertretern in Verbänden und Politik alte Begehrlichkeiten. Sie gehen in die Offensive gegen die abhängig Beschäftigten und ihre Gewerkschaften und holen alte Pläne aus der Schublade. Sie wollen unseren Lebensstandard und unsere Lebensqualität zerstören. Sie wollen tariflich abgesicherte Arbeitsplätze vernichten und bestenfalls prekäre Jobs schaffen. So können sich Beschäftigte der zur Abwicklung vorgesehenen Lufthansa-Töchter Germanwings und SunExpress bei einer neuen Tochterfirma zu deutlich schlechteren Bedingungen bewerben. Arbeitern der für den Verkauf freigegebenen Lufthansa-Tochter LSG droht ein Absturz ihrer Einkommen von mindestens 30 Prozent. Streiks sind auch in Corona-Zeiten möglich Dass auch in Corona-Zeiten Arbeitskämpfe gegen drohende Betriebsschließungen möglich sind, haben die Beschäftigten beim Getriebebauer Voith in der südlichsten deutschen Stadt Sonthofen im Allgäu demonstriert (siehe letzte Funke-Ausgabe und www.derfunke.de). Sie streikten wie eine Eins für einen Sozialtarifvertrag zur finanziellen Abfederung der Folgen des Arbeitsplatzverlustes in Form von Abfindungen und hofften, die Schließung vielleicht noch zu verhindern. Die Streikenden erfuhren viel Zuspruch aus Nah und Fern. Doch es fehlte eine weitergehende Perspektive für die Ausweitung des Kampfes gegen einen der großen deutschen und international operierenden Konzerne und eine der reichsten Familien Deutschlands. Während die Streikenden sich auf einen heißen Streiksommer einstellten, setzte die bayerische IG Metall-Bezirksleitung von Anfang an auf einen raschen Abschluss und Abbruch des Streiks und beendete den Arbeitskampf nach fünf Wochen. So standen die kämpferischen Sonthofener am Ende alleine da, auch wenn es Anzeichen für Solidarität aus anderen Voith-Werken gab. Der Sonthofener Betrieb hat bis zur Schließung offenbar noch volle Auftragsbücher. Es gab noch keine Anzeichen für eine Ermattung und Erschöpfung der Streikfront, die einen raschen Abbruch erzwungen hätte. Der Streik zeigte Wirkung und erzwang einige Zugeständnisse. Er hätte aber bei einer Fortsetzung mit hoher Wahrscheinlichkeit noch mehr Druck auf die Konzernspitze erzeugt und als Vorbild für viele andere Belegschaften bundesweit ausstrahlen können. Doch dieses wirtschaftliche Druckmittel wurde ohne Not aus der Hand gegeben. Trotz Zugeständnissen wird mit dem bevorstehenden Ende der Produktion auch eine Hochburg der Arbeiterbewegung zerstört. Und ein Betrieb mit einer kompetenten Belegschaft, die gesellschaftlich und ökologisch sinnvolle Produkte herstellen könnte. Jeder Kollege und jede Kollegin muss sehen, wo er oder sie bleibt. Statt kollektivem Zusammenhalt einer kampfstarken und selbstbewussten Belegschaft droht nun Vereinzelung. Existenzängste machen sich breit. Kolleginnen und Kollegen, die bisher solidarisch zusammen gearbeitet haben, konkurrieren nun vielleicht gegeneinander bei Bewerbungen um neue Arbeitsplätze bei einem anderen Betrieb. Wer nicht kämpft, hat schon verloren Während die IG Metall immerhin Streiks für Sozialtarifverträge als legales Mittel ansieht, um im Kampf für Arbeitsplätze das Heft des Handelns in die Hand zu bekommen, ist dies für Akteure in anderen Gewerkschaften ein Buch mit sieben Siegeln. So schließen die führenden Köpfe im ver.di-Fachbereich 12 (Handel) dies offensichtlich kategorisch aus. „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Diesen Spruch von Bertolt Brecht zitieren viele Gewerkschafter. Im Falle der Warenhauskette Karstadt-Kaufhof ist er besonders aktuell (siehe Bericht auf Seite 8). Hier entfaltet das Teile und Herrsche-Spiel und die Salamitaktik der Konzernleitung volle Wirkung. Nach jahrelangen Lohnopfern, die angeblich immer der Beschäftigungssicherung dienen sollten, zeigt sich: Lohnverzicht lohnt sich nicht. So wurde die Basis für einen gemeinsamen Kampf ausgehöhlt. Gewerkschaft und Gesamtbetriebsrat haben sich mit den Schließungen längst abgefunden, statt einen Streik zu organisieren. Jetzt ist offenbar „die Luft raus“ und die Demoralisierung groß. Bei den Kundgebungen vor den bedrohten Kaufhäusern herrschen Entsetzen und Wut. Aber Trauer, moralische Entrüstung über „gewissenlose“ Kapitalisten und Appelle an ihr Gewissen sind kein Ersatz für eine nüchterne kämpferische Strategie. Wir müssen der Wahrheit ins Auge blicken. Die herkömmliche sozialpartnerschaftliche Linie und der jahrzehntelange Schmusekurs der Gewerkschaftsspitzen mit dem Kapital führen in die Sackgasse. Wer das kapitalistische Privateigentum und das Diktat des privaten Profits dauerhaft akzeptiert, kann nur noch über Verschlechterungen verhandeln.So drohen in den kommenden Monaten im Kampf um die Zukunft kompletter Betriebe und bei der Abwehr von Massenentlassungen schmerzhafte Niederlagen und Rückschläge. Auch wenn hier und da hohe Abfindungen bei Arbeitsplatzverlust für Beschäftigte in rentennahen Jahrgängen vielleicht individuell verträglich sein mögen, ist die Arbeitsplatzvernichtung und Schließung von Betrieben für die Allgemeinheit keineswegs „sozial verträglich“. Damit predigen wir aber keinen Pessimismus. Denn die zwangsläufigen harten Rückschläge sind auch ein Weckruf an die jüngere Generation. Wer nicht kurz vor der Rente steht, sondern am Anfang seines Arbeitslebens, wird zwangsläufig kämpfen müssen, um sich auch nur annähernd eine menschenwürdige Existenz aufzubauen. So entsteht ein Nährboden für Kapitalismuskritik und sozialistische Ideen. Über kurz oder lang wird es heftige Ausbrüche von Klassenkämpfen geben, in denen wir gefordert sind. Darauf müssen wir uns heute mit voller Kraft vorbereiten. Marxisten müssen an all diesen Kämpfen aktiv mitwirken und dabei statt Partikularinteressen stets das Gesamtinteresse der arbeitenden Bevölkerung im Blick haben. Statt Vereinzelung defensiver Kämpfe müssen wir alle Kräfte bündeln und konzentrieren. Als ersten Schritt sollte der DGB gleich nach der Sommerpause bundesweit in allen Städten und Kreisen Beschäftigte aller Branchen, Mitglieder aller Gewerkschaften, Jugendliche aus Schulen und Hochschulen und prekär beschäftigte Wanderarbeiter aus Schlachthöfen, Baubranche und Landwirtschaft zu gemeinsamen Kundgebungen mobilisieren. Erfahrungen müssen ausgetauscht und Strategien für den Kampf formuliert werden. Die anstehenden Tarifrunden für den Öffentlichen Dienst und die öffentlichen Nahverkehrsunternehmen müssen der Ausgangspunkt für eine breite Gegenwehr sein. Um ihre Arbeitsplätze kämpfende Belegschaften müssen mit regelmäßigen Besuchen und Solidaritätskomitees aktiv unterstützt werden. Mit der sozialpartnerschaftlichen und prokapitalistischen Politik der gegenwärtigen Gewerkschaftsführung sind große Niederlagen vorprogrammiert. Aber Kritik allein reicht nicht. Wir müssen dringend eine starke marxistische Strömung in der Arbeiterbewegung aufbauen, die Einfluss auf den Gang der Ereignisse und Klassenkämpfe nehmen und der arbeitenden Klasse zum Sieg verhelfen kann. Unterstützt uns dabei! Die letzte Schlacht gewinnen wir! |