Kategorie: Deutschland

Editorial Funke Nr. 126: Superwahljahr - Unsere Wahl: Ein sozialistisches Programm

Ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl am 26. September 2021 fragen sich viele Arbeiter und Jugendliche, ob der Urnengang ihre brennenden sozialen und existenziellen Probleme lösen wird.

Bild: der funke


Aber der Satz „Alles Gute kommt von oben“ war noch nie richtig. Statt wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren und abzuwarten, ob die nächste Bundesregierung unsere Interessen auf dem Schirm hat, müssen wir uns organisieren. Das heißt: Vor der Wahl, im Wahlkampf und nach der Wahl Gleichgesinnte für ein sozialistisches Programm finden und uns für die großen künftigen Auseinandersetzungen fit machen.

Das Kapital und die tonangebenden Kreise der herrschenden Klasse sind über die Jahrzehnte mit unterschiedlichsten Konstellationen gut gefahren. Personen und Parteien kommen und gehen, die Loyalität der Regierenden gegenüber Banken, Konzernen und privaten Profitinteressen ist geblieben. Das deutsche Kapital schätzt auf Bundesebene stabile Mehrheitsverhältnisse und lotet auch jetzt verschiedene Optionen aus. Die bevorzugte Option wäre aus der Sicht vieler Kapitalisten eine Koalition aus CDU/CSU und FDP, den beiden traditionellen klassischen bürgerlichen Parteien, die durch tausend Bande mit ihnen verflochten sind und von ihnen auch finanziell am Leben gehalten werden. Aber weil es dafür nach Stand der Dinge keine Mehrheit gibt, bieten sich zwei Varianten an.

Die Unionsparteien werden wahrscheinlich auswählen können, ob sie die Koalition mit der SPD fortsetzen oder die Grünen ins Boot holen wollen. Viel deutet darauf hin, dass diesmal die gestärkten Grünen zum Zuge kommen werden. Ein Jamaika-Bündnis aus Union, Grünen und FDP, wie es 2017 angestrebt wurde und an der FDP scheiterte, wird wohl nicht mehr nötig sein. Auch eine „Ampel“ aus SPD, FDP und Grünen nach dem Vorbild von Rheinland-Pfalz hätte keine Mehrheit.

So oder so bekommt die herrschende Klasse dann nach der Wahl eine Koalitionsregierung, die ihr zu Diensten steht. Doch im anlaufenden Bundestagswahlkampf scheinen die Herrschenden und Regierenden entschlossen zu sein, vor dem Wahltag am 26. September nicht unnötig „Öl ins Feuer“ zu gießen und auf keinen Fall eine „unnötige“ Radikalisierung und Polarisierung heraufzubeschwören. Sie werden das Blaue vom Himmel versprechen und ihre Regie wird im Sommer eine heile Welt vorzugaukeln versuchen. So wurden auch die Regelungen zur Kurzarbeit bis Dezember 2021 verlängert. Auch in anderen Bereichen werden sie um Wahlgeschenke und viele schöne Ankündigungen bemüht sein. Weil die deutsche Staatsverschuldung im europäischen Vergleich derzeit noch relativ niedrig ist, wird in diesem Sommer zur Not auch noch die eine oder andere Milliarde locker gemacht, um das Wahlvolk einzulullen.

In der Bundestagswahl werden wir die LINKE kritisch unterstützen. Dass die Partei in der gegenwärtigen Krise laut Umfragen bei Werten zwischen sechs und neun Prozent stagniert, sollte eigentlich als Warnung dienen. In der Pandemie wirkte sie in der öffentlichen Wahrnehmung oftmals als blasser Teil des Blocks der etablierten Parteien und nicht als antikapitalistischer Gegenpol mit konsequenten Alternativen. Nun erhoffen sich manche von der Orientierung auf „Rot-Grün-Rot“, also eine Koalition mit SPD und Grünen eine neue gesellschaftliche Aufbruchstimmung. Dafür hat sich auch die neue Ko-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow bei ihrer Wahl durch den digitalen Parteitag Ende Februar 2021 vehement ausgesprochen.

„Grün-Rot-Rot“ wird im Bund nicht kommen

Doch eine Wechselstimmung wie etwa 1998 ist jetzt nicht spürbar. Damals mobilisierte nach 16 Jahren CDU/CSU/FDP-Regierung die Parole „Kohl muss weg“ Millionen. SPD und Grüne fuhren einen historischen Sieg ein. Inzwischen regiert die SPD seit 1998 bis auf vier Jahre von 2009 bis 2013 ununterbrochen mit. Weil sie viele Hoffnungen enttäuscht hat, bleiben ihre Umfragewerte schlapp. Eine rechnerische Mehrheit für SPD, Grüne und LINKE im Bund ist nicht in Sicht. Und selbst wenn, so wäre ein solches Bündnis extrem unwahrscheinlich. Die herrschende Klasse will es partout nicht und die tonangebenden Kräfte in SPD und Grünen wollen es faktisch auch nicht.

„Rot-Grün-Rot“ bzw. „Rot-Rot“ regiert und regierte bisher bereits in mehreren Ländern und wird von LINKE-Akteuren zunehmend auch in Kommunen angestrebt. Aber auf Bundesebene wäre die Vorbedingung für eine Zulassung von LINKE-Ministern in ein Bundeskabinett eine weitgehende Kurswende der LINKEN in der Außen-, Militär und Europapolitik und eine volle Kapitulation vor den „Sachzwängen“ und vor NATO und EU.

Am rechten Flügel der LINKEN und in der Delegation im EU-Parlament gibt es regelmäßige Positionierungen und Versuchsballons in diese Richtung. Solche Bestrebungen würden unter den gegenwärtigen Bedingungen jedoch die LINKE spalten und wären bei Parteitagen und an der Basis nicht mehrheitsfähig.

Die herrschende Klasse hat Jahrzehnte lang von jedweder Regierung profitiert und wird sich mit Zähnen und Klauen gegen jeden Versuch wehren, ihr wieder etwas wegzunehmen oder gar ihre Vorherrschaft in Frage zu stellen. Unter solchen Umständen gelten demokratische Spielregeln nicht mehr. Selbst wenn eine überzeugende Parlamentsmehrheit etwas anderes wollte, würden sich die Herrschenden damit nicht zufriedengeben. Sie haben dafür genügend Stützen in dieser Gesellschaft: Ihr Privateigentum an Produktionsmitteln, ihre Reichtümer und die historische Erfahrung damit, wie man alle Register zieht, um diese zu verteidigen. Die Mehrzahl der Medien und Wissenschaftler, tragende Institutionen, „Experten” und allerlei „Berater” sind (gut bezahlte) Verteidiger dieses Systems und begleiten uns fast täglich mit ihren vorgefassten Meinungen, hinter denen handfeste Interessen stehen.

Gegen eine Regierungsmehrheit, die ihr absolut nicht passen würde, hätte die herrschende Klasse genügend (legale und illegale) Mittel in der Hand, um alle Maßnahmen auszubremsen, die ihr nicht passen. Der Bundespräsident kann die Unterzeichnung von Gesetzen und damit ihre Verkündung im Bundesanzeiger verweigern oder verzögern. Der Bundesrat kann wichtige Gesetze stoppen oder ausbremsen. Das Bundesverfassungsgericht kann einzelne Gesetze für „verfassungswidrig“ erklären und deren Inkrafttreten stoppen. Der Staatsapparat wird letztlich nicht von einzelnen Ministern oder Staatssekretären gelenkt oder geführt, sondern von einem (überwiegend konservativen) Beamtenapparat, der sich loyal zu den herrschenden Zuständen und Kreisen verhält und in ihrem Sinne geschult und ausgebildet wurde. Letzten Endes hat jeder Staat eine Armee und andere bewaffnete Einheiten, die „notfalls” auch mit Gewalt (und auch illegal) die herrschenden Verhältnisse verteidigen. Und was die Geheimdienste betrifft: sie sind und bleiben undurchschaubar und können keiner parlamentarischen Kontrolle unterworfen werden.

Die allermeisten Gesetze werden nicht von Abgeordneten in mühsamer Kleinarbeit fabriziert, sondern von der einflussreichen Kapitallobby vorgegeben, von „Experten“ und beamteten Juristen formuliert und von den Abgeordneten letztlich nur noch formal abgesegnet. Die Abgeordneten wissen in den allermeisten Fällen oftmals nicht, worüber sie im Einzelnen abgestimmt haben und kennen den Wortlaut und vor allem die Folgen der Gesetze nicht. Meistens sind sie auch nicht persönlich von den negativen Folgen der Gesetze betroffen.

SPD und LINKE sind Parteien, die sich durch ihren historischen Bezug zur Arbeiterbewegung definieren. Wenn beide zusammen bei der anstehenden Bundestagswahl im September in der Summe vielleicht mit Müh und Not ein Viertel der abgegebenen Stimmen erringen (von den linken Kleinparteien ganz zu schweigen), ist dies zwar zahlenmäßig ein historischer Tiefstpunkt. Zum Vergleich: 1998 hatten sie in der Summe bei einer hohen Wahlbeteiligung 46 Prozent bundesweit. Aber ein möglicher Tiefstpunkt wäre absolut kein Hinweis darauf, dass der Bedarf an einer kämpferischen Arbeiterbewegung und einer radikalen Antwort auf die Probleme der Arbeiterklasse nicht mehr vorhanden sei.

Die Arbeiterklasse wird ihren Stempel aufdrücken

Mit der Entwicklung der kapitalistischen Krise verschwindet auch die alte Stabilität der Lebensverhältnisse. Auf die Arbeiterklasse und Jugend kommen zwangsläufig harte Schläge und Rückschläge zu. Das wird viele aus ihrer Gleichgültigkeit herausreißen. Viele waren und sind zu Opfern und Flexibilität bereit in der Hoffnung, dass es hinterher „wieder besser“ wird. Wenn solche Hoffnungen und Illusionen nicht aufgehen, dann ist früher oder später „Schluss mit lustig“ und dann kann alles in Wut umschlagen und sich in gesellschaftlichen Explosionen Bahn brechen. Dabei können auch kleine und scheinbar „nebensächliche“ Provokationen und „Zufälle“ große Bewegungen auslösen, weil sich insgesamt so viel Wut angestaut hat.

„Bald könnte Revolution in der Luft liegen, wenn das so weitergeht. Stellt die deutsche Mittelschicht irgendwann fest, dass ihr Betrieb pleite, ihr Arbeitsplatz verloren oder ihr Aktiensparplan wertlos ist, dann wird sie sich radikalisieren“, stellte vor einem Jahr der FDP-Bundestagsabgeordnete Marco Buschmann fest.

Die Krise wird ein Dauerzustand sein. „Frische“, unerfahrene Schichten der Arbeiterklasse ohne gewerkschaftliche Erfahrung werden in den Kampf treten. Rosa Luxemburg warnt vor dem Trugschluss, dass Streiks nur mit einem sehr hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad möglich seien. Im Kampf werden viele Arbeiter sehr schnell Erfahrungen sammeln und dazu lernen. Anders als vor 100 Jahren ist die arbeitende Klasse die große Mehrheit der Bevölkerung. Sie wird früher oder später der Gesellschaft ihren Stempel aufdrücken.

Unter den gegebenen Umständen wird diese Periode des Klassenkampfes auch von Rückschlägen und vorübergehenden Niederlagen für die Arbeiterklasse bestimmt sein. Dies ist angesichts der politischen Schwäche und mangelnder Perspektiven der derzeitigen Führung unvermeidlich. Gleichzeitig werden solche Rückschläge aber auch viele der Betroffenen zum Nachdenken zwingen, radikalisieren und letzten Endes die Grundlage für revolutionäres Bewusstsein schaffen. Diesen Prozess müssen wir im Rahmen unserer Kräfte aktiv und bewusst begleiten.

Unsere Aufgabe ist es nicht, künstlich irgendwelche Bewegungen anzufachen oder Phantom-Massenorganisationen zu proklamieren und diese durch ein verwässertes Programm den Massen anzupreisen. Die Krise des Kapitalismus wird das Ihrige tun, um Kämpfe anzustoßen, in denen die Akteure die Notwendigkeit neuer Programme und Organisationen erkennen und sich dieser Aufgabe stellen. Revolutionäre Marxisten müssen die geschulten Kräfte heranbilden, die diesen Prozess erklären und weitertreiben können. Dazu brauchen wir ein sozialistisches Programm mit vorwärtsweisenden Übergangsforderungen.

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