Kategorie: Deutschland

Ja zur Impfung – Nein zur Spaltung

„Zurück zur Normalität“, dafür wirbt die Regierung seit Monaten. Doch die Pandemie wandelt sich in eine endemische Krankheit – Corona ist Teil der Gesellschaft, eine neue Normalität entsteht. Wie damit umgehen?

Bild: live-karikaturen.ch CC-BY-SA 4.0


Immer mehr zeichnet sich in der Corona-Debatte ab, dass sich die Corona-Pandemie von einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung zu einem individuellen medizinischen Problem wandelt. Die Marschrichtung der Bundesregierung ist klar: Die Gesellschaft soll die Verantwortung zur Stabilisierung der Profite (Milliarden Euro Hilfsgelder für Großkonzerne) übernehmen, während die Gesundheit der Allgemeinheit und ihr Umgang mit widersprüchlichen und schlecht vorbereiteten Maßnahmen individualisiert wird. Ebenso hat sich nach fast zwei Jahren in der Debatte über die Notwendigkeit von ausreichendem Personal in Pflege und Kindergärten, Luftfiltern in Schulen, die Verantwortung der Arbeitgeber für nicht-krankmachende Arbeitsplätze etc. kaum etwas geändert.

Impfen schützt

Die verwendeten Impfstoffe sind geeignet, um einen schweren Krankheitsverlauf und Langzeitschäden zu verhindern. Es gibt zurzeit kein anderes Mittel (Selbstmedikation) oder präventives Verhalten („gesund leben“), um das Risiko einer schweren Erkrankung mit Langzeitfolgen so effizient wie mit der Impfung zu vermeiden. Daher sollten sich jede und jeder impfen lassen, die dazu die Möglichkeit haben, um sich und seine Umgebung jedenfalls für einige Zeit zu schützen. Dies bedeutet aber nicht das Ende der Pandemie.

… aber beendet die Pandemie nicht

Der individuelle Impfschutz lässt nach gewisser Zeit nach, wobei der Schutz vor schweren Krankheitsverläufen erhalten bleibt (in vier Monaten von 91% auf 77% bei BioNTech, kaum Einbußen bei Moderna laut US-Gesundheitsbehörde). Ein weiterer Faktor ist die Entwicklung ständig neuer Virus-Varianten. Bei einer Durchimpfungsrate von 63,6% bringt die 4. Pandemiewelle das Gesundheitssystem im Impfvorreiterland Israel einmal mehr an die Kapazitätsgrenzen. Am 14.9. verzeichnete das Land mit einer 7-Tagesinszidenz von 1254 den bisher höchsten Wert seit dem 17.1.21, wo der Wert bei 981 lag. Die Regierung begrenzte daher die Gültigkeit des Impfzertifikats auf sechs Monate (fünf Monate nach Genesung), eine Verlängerung für weitere sechs Monate gibt es nach einer dritten Impfung und erste Wissenschaftler argumentieren bereits jetzt die Notwendigkeit einer vierten Impfung. Positiv ist, dass sich trotz der höchsten Fallzahlen seit Beginn der Pandemie die Anzahl der Todesfälle in etwa halbiert hat (am Höhepunkt der 3. Welle am 25.1.21 65 Tote pro Tag im Wochendurchschnitt, am Höhepunkt der 4. Welle am 14.9. 33 Tote pro Tag im Wochenschnitt).

Die durchwachsenen Resultate in Israel sind ausreichend klar, um die Idee, dass die Pandemie mit der Verfügbarkeit der Impfung vorbei sei, zu widerlegen. Eine neue Krankheit, deren Behandlung aufwändig ist und die das gesellschaftliche Leben verändert, ist gekommen, um auf absehbare Zeit zu bleiben.

Ein globaler Ausblick

Der Weltkapitalismus leistet diesem Umstand mächtigen Vorschub. Die Impfversorgung in weiten Teilen der Welt erfolgt stoßweise meist durch reiche Länder unter dem Gesichtspunkt von imperialistischer Einflussnahme. In Afrika haben weniger als 2 Prozent der Bevölkerung Impfschutz. Durch die begrenzte Dauer des Impfschutzes zusammen mit der Variantenentwicklung bedeutet dies in weiten Teilen der Welt uneingeschränkten Spielraum für die ständige Reproduktion und Adaption des Virus auf globaler Ebene. Eine demokratische wissenschaftliche Debatte und Gesundheitsstrategie frei vom Profitinteresse einzelner Akteure ist notwendig. Die reale Entwicklung ist jedoch genau gegenteilig:
Profitinteressen von Pharmakonzernen, von diversen Wirtschaftszweigen (die diese oder jene Maßnahmen von „ihren“ Politikern einfordern) und nationalstaatliche Konkurrenz dominieren den Umgang mit der Pandemie.

Um das zu veranschaulichen:

  • Der Nettogewinn von BioNTech betrug im zweiten Quartal 2021 2,8 Mrd. € bei einem Umsatz von 5,3 Mrd. €, was eine Profitrate von über 50% ergibt. Die BioNTech-Mehrheitseigentümer Andreas und Thomas Strüngmann sind heute mit einem Privateigentum von 52 Mrd. US $ die reichsten Deutschen, Minderheitsaktionär und BioNTech-Gründer Ugur Sahin schafft es mit einem Vermögen von mehr als 18 Milliarden „nur“ unter die Top 10 der Superreichen.

  • Noch ein interessantes Detail aus der Geschäftsbilanz: In der Jahresbilanz von BioNTech scheinen 370 Mio. € Zuschüsse auf, als Ausgaben für die Impfstoffentwicklung wurden jedoch nur 239 Mio. € verbucht. Das heißt, die Öffentlichkeit zahlt nicht nur vollständig für die Entwicklung des Impfstoffes (die dann für die Kapitalisten risikofrei und profitabel verkauft werden), sondern selbst Teile der Zuschüsse flossen schon direkt in die Taschen der Eigentümer.

Das sind in Milliarden gegossene gesellschaftliche Machtverhältnisse. Dies ist nicht allein ein moralisches Problem. Es ist eine Machtkonzentration von Profitinteressen, die Milliarden von Menschen mit fehlender Kaufkraft außen vor lässt, die die wissenschaftliche Debatte beschränkt und die Gesundheitspolitik diesen Profitinteressen unterordnet. Die WHO empfiehlt im Gegensatz zu Israel die dritte Impfung nicht, weil sie eine Zuspitzung der globalen Impfstoffknappheit fürchtet. Die FAZ schreibt am 4.10.21:
Das oberste Ziel muss lauten, den Impfschutz zu retten. Da helfen großzügig verabreichte Drittimpfungen weniger als eine globale Politik, die Mutationen verhindert – Mutanten, gegen die unsere Vakzine auch dreifach machtlos sein könnten.“

Aber es gibt auch eine Auseinandersetzung über die medizinische Sinnhaftigkeit fortgesetzter Impfungen, was in der USA zu einem offenen Konflikt im Staatsapparat geführt hat. Mitte August verkündete die Biden-Administration, dass ab 20. September die „Booster-Impfungen“, also die dritte Impfung für alle, beginnen soll. Das zuständige Zulassungsgremium, die US-Arzneimittelbehörde, war offensichtlich in diese Pläne nicht eingebunden und sagte die Auffrischungs-Impfung drei Tage vor ihrem Start ab. Sie empfiehlt die dritte Impfung nur für ältere Menschen und Risikogruppen. Der Immunologe und Präsidentenberater Anthony Fauci stellte sich dann vor Biden, begründete die Meinungsverschiedenheiten mit einer sich ständig ändernden Datenlage und drückte seine Überzeugung aus, dass die Arzneimittelbehörde ihre Empfehlung noch verändern werde.

Nein zur Spaltung und Diskriminierung

Wie wir wiederholt argumentierten, gibt es keine einfache technische Lösung der Krise. Im Sommer ist die Idee von „Zero-Covid“ in der Praxis (Australien, Neuseeland, Südkorea) gescheitert und die Hoffnung, dass die (jetzt bestehenden) Impfstoffe alle pandemiebezogenen Probleme lösen, wird nicht mehr lange aufrecht zu erhalten sein. Die herrschende Klasse nutzt die Pandemie jedoch, um ihre eigenen gesellschaftlichen Interessen voranzutreiben.
Marxistinnen und Marxisten begreifen die Gesellschaft als Einheit widersprüchlicher Klasseninteressen. Es ist für uns daher nicht verwunderlich, dass im Zuge der aktuellen Debatte zur Steigerung der heimischen Impfquote von den Bürgerlichen just jene Themen gesetzt werden, die ihrer allgemeinen Zielorientierung (Steigerung der Unternehmensprofite, Einsparungen im Gesundheits- und Sozialsystem) dienen.

Wir dürfen nicht vergessen, dass hinter der Pandemie bereits die nächste kapitalistische Wirtschaftskrise lauert und sich die Kapitalisten bereits darauf vorbereiten. Dafür sollen die Arbeiterinnen und Arbeiter in Form von Entlassungen, Sparmaßnahmen und Angriffen auf die Arbeitsbedingungen bezahlen.
Die Gesundheitsminister von Bund und Ländern haben im September beschlossen, dass ungeimpfte Arbeitnehmer ab 1. November keinen Lohnersatz mehr erhalten sollen, wenn sie in Quarantäne müssen. Dies betrifft alle, für die eine Impfempfehlung vorliegt und die sich auch impfen lassen können, sich aber dagegen entschieden haben.

Wohin das führen kann, sehen wir bereits in Italien, dessen Regierung bereits die nächsten Schritte vorbereitet: Wer ab dem 15. Oktober ohne Zertifikat zur Arbeit erscheint, muss mit bis zu 1000 Euro Bußgeld rechnen, spätestens am fünften Tag wird der gesamte Lohn eingezogen.
Auch wir rufen zur Impfung auf und unterstützen eine großangelegte Impf-Kampagne. Aber diese muss eingebettet sein in eine großflächige, koordinierte und konsequente Kampagne zum Kampf gegen die Pandemie. Bei einer Corona-Politik, welche ständig an den Profitinteressen der Kapitalisten orientiert war und ist (inklusive die Pharma-Konzerne, die sich mithilfe öffentlicher Forschungsgelder eine goldene Nase an den Impfstoffen verdienen), ist es absolut verständlich, dass in der Bevölkerung eine große Skepsis gegenüber der aktuellen Corona-Politik der Bundesregierung besteht.

Wofür wir kämpfen

Vor dem dritten Pandemiewinter herrscht eine allgemeine Maßnahmemüdigkeit und eine gesellschaftliche Spaltung entlang der Impffrage. Einmal mehr betonen wir, dass sich jeder und jede, der/die keinen besonderen Ausschlussgrund hat, sich impfen zu lassen, dies tun soll und dafür auch zu werben. Gleichzeitig verstehen wir, dass die Impfung allein kein Zurück zur Normalität bedeuten wird.
Alle diskriminierenden und spalterischen Maßnahmen dienen letztlich dem Interesse der Herrschenden und ihrer Profite, da die Einheit der Arbeiterklasse und die Arbeiterbewegung – die einzige Kraft, die der eigennützigen Politik der Bourgeoisie eine Alternative entgegenhalten könnte – geschwächt werden. Diese Spaltung muss von der Arbeiterbewegung daher rundweg zurückgewiesen werden.

Stattdessen brauchen wir:

  • Nein zur Spaltung, Nein zur Heuchelei der Herrschenden: Gesundheit vor Profite!

  • Wir bezahlen eure Wirtschaftskrise nicht: Entlassungsverbot, 100% Lohngarantie und Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich!

  • Keine Profitmaximierung durch Diskriminierung und Spaltung am Arbeitsplatz. Die Belegschaften und Betriebsräte müssen darüber diskutieren, welche Maßnahmen durchgesetzt werden müssen, um eine Gesundheitsprävention für alle zu gewährleisten.

  • Niederschwellige Möglichkeiten zur Impfung in Betrieben, Schulen und den Unis!

  • Beibehaltung und Ausbau kostenloser Covid-Testmöglichkeiten in Betrieben, Schulen und den Unis!

  • Einen Kampf für die Offenlegung aller Verträge zwischen Regierungen und Impfstoffherstellern

  • Abschaffung des Patentschutzes und Verstaatlichung der Pharma-Industrie unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten und der Bevölkerung!

  • Investitionen in die Impf-Forschung und eine wissenschaftliche Informationskampagne der Bevölkerung statt Impfzwang!

  • Massive Investitionen in den Gesundheitssektor! Aufstockung des Pflegepersonals, mehr Lohn und kürzere Arbeitszeiten!

  • Ein Investitionsprogramm in Kitas, Bildungseinrichtungen, Seniorenheime.

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