Imperialistisches Kräftemessen
Der unerschöpfliche Drang der kapitalistischen Produktionsweise nach Profit zwingt die Kapitalisten, nach immer neuen Märkten zu suchen und diese zu kontrollieren. Wenn aber die gesamte Welt unter den internationalen Monopolen und ihren imperialistischen Staaten – insb. USA, China und EU mit Deutschland an der Spitze – aufgeteilt ist, dann sind sie gezwungen sich gegenseitig zu berauben und die Ausplünderung der abhängigen und kleineren Staaten zu intensivieren.
Über die letzten Jahrzehnte haben sich die Anteile an der globalen Wirtschaftsleistung deutlich verändert. Zwischen den Jahren 2000 und 2019 ist das Volumen der globalen Wirtschaftsleistung deutlich gewachsen, doch der Anteil der USA ist von 20,4 % auf 15,1 % gesunken, der EU von 23,5 % auf 16,1 %, während der Anteil Chinas von 7,3 % auf 19,2 % gestiegen ist (gemessen in sogenannten PPP-Dollar laut „Atlas der Weltwirtschaft 2020/2021“). Gemeinsam teilen sie sich über 50 % der Wirtschaftsleistung, während alle anderen Länder von ihnen dominiert werden.
Mit dem Aufstieg Chinas zur Weltmacht, dem relativen Niedergang der USA sowie in viel stärkerem Ausmaß der EU verändert sich das Mächtegleichgewicht. Jetzt wird es von neuem ausgefochten. Die Globalisierung, also die Ausweitung der internationalen Arbeitsteilung und der wachsende Welthandel, verkehrt sich in ihr Gegenteil und wird rückläufig. Neben dem Rennen um die Dominanz auf dem Weltmarkt erstarken Prozesse der Entkopplung, der Handelsschranken und Wirtschaftskriege.
Wo vorher „Partner“ waren, finden sich heute „Wettbewerber“ und „systemische Rivalen“. Für Deutschland und die EU gilt das nicht nur in Bezug auf Russland und China, sondern auch auf die USA, wobei das letztere nur implizit ausgesprochen wird. Die Widersprüche im weltweiten kapitalistischen Geflecht zwingen die imperialistischen Mächte in offene Konfrontationen. Sie sind gezwungen, ihre Interessen auf Kosten der jeweils anderen durzusetzen.
Netz von Abhängigkeiten
Die Konfrontation der zwei Giganten USA und China zerreibt die EU und allem voran den deutschen Imperialismus. Letzterer hat von der langen Phase der Globalisierung und relativen Stabilität des Weltmarkts profitiert. So konnte der deutsche Kapitalismus in aller Welt Geschäfte machen, zur aktuell viertgrößten Volkswirtschaft aufsteigen und deutliche Exportüberschüsse machen. Doch das steht nun in Frage.
Der Wirtschaftskrieg der USA und EU gegen Russland hat Deutschland von den nötigen billigen Energiequellen abgeschnitten, was die Produktion und den Export deutscher Waren verteuert und deren Konkurrenzfähigkeit schwächt. Zudem sind die beiden Rivalen USA und China die zwei wichtigsten Einzelstaaten, mit denen Deutschland handelt. So haben deutsche Unternehmen im Jahr 2021 Waren im Wert von 104,6 Mrd. Euro nach China exportiert und gleichzeitig Waren im Wert von 142 Mrd. Euro importiert. In die USA wurden im selben Jahr Waren für 122 Mrd. Euro exportiert und im Wert von über 70 Mrd. importiert.
Dazu kommt, dass Deutschland keine von der EU unabhängige Rolle spielen kann. Die EU ist das zentrale Werkzeug der deutschen Kapitalistenklasse, um in der Weltpolitik mitspielen zu können. Sie ist zudem deren wichtigste Handelspartnerin. So wurden 2020 Waren im Wert von 546,7 Mrd. Euro aus der EU nach Deutschland importiert, während Waren im Umfang von 635,7 Mrd. in die EU exportiert wurden.
Wiederum hat China eine zentrale Stellung für den EU-Handel. 2021 wurden Waren im Wert von 696 Mrd. Euro zwischen China und der EU gehandelt. Das entsprach 16 % des gesamten EU-Warenverkehrs. Der Anteil der USA lag bei 15 %. China macht dabei 22 % der in die EU importierten Waren aus, während auf die USA 11 % entfallen. Hingegen gingen 18 % der Exporte aus der EU in die USA, während 10% nach China gingen.
Nun zwingen der Krieg in der Ukraine und die Konfrontation zwischen USA und China die Bundesregierung und das deutsche Kapital dazu, sich auf eine Seite festzulegen, um nicht völlig aufgerieben zu werden. Weil aber die wirtschaftlichen, politischen, diplomatischen und militärischen Beziehungen der EU-Mitgliedsländer zu den USA historisch tiefer gehen als zu China, ist die Richtung bereits festgelegt. Doch das wird einen enormen wirtschaftlichen und politischen Preis kosten.
Spaltungslinien an der Spitze
Die Abhängigkeit der EU-Länder von der NATO und damit den USA sowie die Abhängigkeit Deutschlands von der EU zwingen Deutschland immer stärker in eine enge Umlaufbahn um die USA. Diesen Unterwerfungskurs drücken die Grünen und die FDP in konzentrierter Form aus. Sie pochen am lautesten auf eine Stärkung der transatlantischen Beziehungen, eine stärkere Beteiligung am Ukrainekrieg durch Waffenlieferungen, Geld und Sanktionen sowie eine neue „Chinastrategie“. Im Mittelpunkt ihrer China-Agenda stehen Entkopplung und Protektionismus gegen chinesische Waren und Unternehmen in Europa. Sie wollen sich unmittelbar an der Eindämmungsstrategie der USA gegen China beteiligen.
Das trifft in weiten Kreisen der DAX-Konzerne auf keine Begeisterung. Diese unterhalten wichtige Handelsbeziehungen zu China und haben dort große Investitionen getätigt. VW verkaufte 2021 fast 42 % seiner Neuwagen in China und machte dort 40 % seines Gewinns. BMW mach fast 23 % seines Umsatzes in China, Siemens 13 %, Adidas 21 %, Merck 14,7 %, Bayer 8,7 %, Wacker 29 %, BASF 15 %. Eine Abkopplung von China kommt für diese Unternehmen nicht in Frage.
Die China-Reise des Bundeskanzlers machte jüngst Spaltungslinien innerhalb der Bundesregierung und zwischen den Konzernen und den Grünen deutlich. Im Vorfeld der Reise setzte Scholz gegen sechs Ministerien, den BND und das BfV die Beteiligung der chinesischen Staatsreederei Cosco in ein Containerterminal des Hamburger Hafens durch. Das und seine Reise ernteten reichlich Kritik, insbesondere von Außenministerin Annalena Baerbock. Dagegen stemmte sich Scholz öffentlich und sogar mit einem langen Gastbeitrag am 3. November in der FAZ, wo er seine Reise verteidigte.
In einem eigenen Gastbeitrag eilten ihm einige Tage später die Vertreter der Wirtschaftsdelegation (Konzernchefs der oben genannten DAX-Unternehmen), die ihn begleiteten, zur Stelle. Zwar seien sie ebenso der Meinung, dass es eine neue Chinastrategie im Sinne von „Partner, Wettbewerber und strategischer Rivale“ brauche, jedoch müssten die gemeinsamen Geschäfte im Vordergrund stehen.
„America First“ demütigt „strategischen Verbündeten“
Gleichzeitig demonstriert die US-Regierung ihre Macht und blickt nur auf die Interessen des US-Kapitalismus. Mit dem milliardenschweren Klimagesetz „Inflation Reduction Act“ (IRA), verspricht die US-Regierung enorme Subventionen für Unternehmen aus der Energie-, Verkehrs- oder Wasserstoffbranche. Der IRA hat strenge „Made in America“-Vorgaben auf so gut wie alle Herstellungsstufen, vom Abbau und der Aufbereitung der Rohstoffe über die Montage von Vor- und Zwischenprodukten bis zum Recycling. Subventioniert wird nur, wer in den USA produziert.
Das US-Kapital will industrielle Produktion aus der ganzen Welt in die USA verlagert sehen. Neue produktiverer Anlagen, Kontrolle über Liefer- und Produktionsketten sowie Rohstoffquellen und vor allem Profite, sollen die Dominanz der USA weltweit wieder stärken. Subventioniert wird alles, was in irgendeiner Form als „grüne“ Technologie gelten kann: von Batterien und Wasserstoff bis Windkrafträder und Solarparks. Das lockt auch VW, Audi, Siemens und Co., die deutsche Industrie will sich diese lukrativen Investitionen in den USA nicht entgehen lassen.
Der SPIEGEL (47/2022) schreibt, dass Joe Kaeser (langjähriger Siemens-Chef und jetziger Aufsichtsratsvorsitzender von Siemens Energy und Daimler Truck Holding) gesagt hat, dass Europa „nicht mehr nur mit China in einem Systemwettbewerb, sondern in gewissem Maße auch mit den USA“ steht. Das trifft den Nagel auf den Kopf. Mit diesem Subventionsprogramm und den protektionistischen Vorgaben will die USA ihre Arbeitslosigkeit exportieren und die USA reindustrialisieren. Alles auf Kosten auch ihres „strategischen Verbündeten“ Europa sowie der ganzen restlichen Welt. „America First“ gilt unverändert auch in der Biden-Regierung.
Die EU und auch die Bundesregierung können sich darüber nur entrüsten. Das sei ein „Verstoß gegen internationale Handelsregeln“ und der Beginn eines „Handelskriegs“ zwischen EU und USA, inmitten des Ukrainekriegs, beschweren sich EU-Politiker. So viel zur ungebrochenen Einheit des Westens: eine Fassade. Doch für eine Konfrontation mit den USA gibt es keine Einigkeit in der EU, die sich selbst in einer tiefen inneren Krise aufreibt. Es bleiben ihnen nur Bittstellungen an den „Verbündeten“. Der SPIEGEL drückte das wie folgt aus: „Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bekniete Biden auf dem G20-Gipfel auf Bali, das Gesetz zu entschärfen“. „Washington zeigen, dass wir Zähne haben“, wie es Grünenpolitiker Bütikofer verlautbarte, ist da nicht drin.
Drahtseilakt ins Ungewisse
Die SPD, deren Führungspersonal sich über Jahrzehnte der Kapitalistenklasse zuverlässig angedient hat, versucht, in der Bundesregierung die gegensätzlichen Interessen des deutschen Kapitalismus in dieser Gemengelage auszugleichen und weitere abrupte Brüche wie im Zuge der Pandemie und des Ukrainekriegs zu vermeiden. Die Angst vor einer Deindustrialisierung, „Wohlstandsverlust“ und enormen Klassenkämpfen treiben sie an.
Dafür arbeiten sie eng mit der herrschenden Klasse zusammen. Jüngst forderte Rainer Dulger, der Präsident des BDA (Dachverband der deutschen Unternehmerverbände), dass die Bundesregierung ein Rohstoffministerium einrichtet, um den Zugang des deutschen Kapitals zu seltenen Erden, Energiequellen und anderen wichtigen Rohstoffen sicherzustellen. Vor allem im Hinblick auf Afrika, Asien und Lateinamerika – Regionen in denen die USA und China ihre Machtsphären ausdehnen.
Hier bestätigt sich eindrücklich, dass der moderne Staat „nur ein Ausschuß [ist], der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet“, wie Marx und Engels im Kommunistischen Manifest darlegten. Die Regierung, die Unternehmerverbände, die Banken verschmelzen, um die Interessen der Kapitalistenklasse in der Welt durchzusetzen. Das ist ein zentrales Merkmal der imperialistischen Epoche, wie sie Lenin schon 1916 beschrieb.
Jedoch wird das Seil, auf dem die Bundesregierung und das deutsche Kapital zu balancieren versuchen, immer dünner. Die Abgründe umso tiefer. Die Widersprüche, in denen der deutsche Kapitalismus auf Weltebene verflochten ist, werden eine Lösung im Interesse des deutschen Imperialismus nicht zulassen.
Flucht nach vorn
Lars Klingbeil, Parteivorsitzender der SPD, äußerte sich bereits im Juni in einer Grundsatzrede zur „Zeitenwende“, dass Deutschland „Anspruch einer Führungsmacht haben“ müsse. Das bedeutet aus der Perspektive des deutschen Imperialismus, dass die EU mit Deutschland an der Spitze ein Machtzentrum werden soll. Im imperialistischen Kräftemessen um Einflusszonen, Ressourcen, Absatzmärkte, Technologien und Arbeitskräfte wollen sie sich gegen China, Russland aber auch die USA behaupten können.
Die fragile Position des deutschen Imperialismus in dieser Neuaufteilung der Welt zwingt die Bundesregierung und die deutsche Kapitalistenklasse zu einer Flucht nach vorn. Um ihre politische und wirtschaftliche Dominanz in der EU zu untermauern, wollen sie ihre militärische Macht in Europa ausbauen. Genau dafür stehen das 100 Mrd. Euro Sondervermögen sowie die Erhöhung der jährlichen Militärausgaben auf mindestens 2 % des BIP. Mit einer aufgerüsteten, finanziell deutlich besser ausgestatten und kriegsfähigen Bundeswehr hoffen sie, größere Druckmittel in der Hand zu haben, um die EU im Interesse des deutschen Kapitals zu lenken.
Doch die Spaltungen in der EU und die Krise dieses Staatenbundes werden dem deutschen Kapital keine größere Unabhängigkeit oder Handlungsfähigkeit geben. Ihre imperialistischen Interessen außerhalb Europas stärker durchzusetzen, das wird immer schwieriger werden. Auf kurz oder lang werden sie sich damit abfinden müssen, ein ungleicher „Verbündeter“ der USA zu sein – ein Verhältnis, das mehr Knechtschaft als Freundschaft gleicht.
Weitere und tiefere Spaltungen in der Regierung und der Kapitalistenklasse entlang dieser strategischen Fragen werden auftreten. Das bereitet noch mehr politische Instabilität, Polarisierung und damit revolutionäre Prozesse in Deutschland vor. Auf dieser Grundlage ist nur eines sicher: Der Niedergang des deutschen Imperialismus und mit ihm der EU wird sich fortsetzen.
Klassenkampf von unten!
Der Anspruch auf „Führungsmacht“ bedeutet Aufrüstung und wird einhergehen mit weiterer Inflation sowie enormer Sparpolitik. Die Klassengegensätze in Deutschland werden sich weiter zuspitzen. Wenn der Anteil für Rüstung am Staatshaushalt wächst, dann muss zwangsläufig in anderen Bereichen Geld wegfallen. Das wird die Krise der Infrastruktur und des Gesundheitswesens vertiefen, den Personalmangel in Kitas, Schulen, Kliniken und Behörden vergrößern, kulturelle und andere staatlich finanzierte Einrichtungen heruntersparen.
Somit ist auch klar, an wen sich Steinmeier in Fragen „Kraft zur Selbstbeschränkung“ wandte. Die Arbeiterklasse soll verzichten, damit der Staat seine Vernichtungsmittel hochrüsten kann. Diese Verzichtsethik wird jetzt schon in den Tarifkämpfen der DGB-Gewerkschaft erprobt. In „schwierigen Zeiten“ dürfte die Wirtschaft nicht mit hohen Lohnforderungen belastet werden. Doch der Niedergang des Lebensstandards, die kommenden Einbrüche und Turbulenzen werden Gegenreaktionen der Arbeiterklasse provozieren.
Imperialistische Konflikte, Militarismus und Aufrüstung des bürgerlichen Staates, die Stärkung seiner Repressionsmittel, geschehen nie im Interesse der Arbeiterklasse, sondern gehen immer auf ihre Kosten und sind gegen sie gerichtet. Um dieser Spirale der imperialistischen Konflikte ein Ende zu setzen, muss der Kapitalismus in Deutschland und weltweit gestürzt werden. Die Antwort der Arbeiterklasse auf die imperialistische Politik muss Klassenkampf sein.
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