Kategorie: Deutschland

Er war ein Neoliberaler, der wusste, was er wollte - Was wir von Otto Graf Lambsdorff lernen können

Zum Tode des früheren FDP-Vorsitzenden und Bundeswirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff sind viele Medien voll des Lobes über einen maßgeblichen Protagonisten des Neoliberalismus in der Bundesrepublik.
Dabei war der Graf, der in diesen Tagen in vielen Todesanzeigen gewürdigt wird, zeit seines Lebens vor allem eines: ein treuer Sohn und Diener seiner Klasse.



Vor seiner Polit-Laufbahn wirkte er als Generalbevollmächtigter der Düsseldorfer Privatbank Trinkaus und Mitglied des Vorstandes der Victoria-Rückversicherung AG. Die von ihm verkörperte Nähe von wirtschaftlichen und politischen Kommandozentralen kam in der Flick-Affäre zum Vorschein, als in den 1980er Jahren bekannt wurde, dass das FDP-geführte Bundeswirtschaftsministerium dem Flick-Konzern in den 1970er Jahren eine Steuerbefreiung in Höhe von knapp einer Milliarde DM erteilte. Die strafrechtlichen Ermittlungen beendeten seine Ministerlaufbahn. 1987 musste Graf Lambsdorff wegen Steuerhinterziehung 180.000 DM Geldstrafe zahlen. Davon unbeirrt war der Graf von 1988 bis 1993 FDP-Bundesvorsitzender und seit 1993 Ehrenvorsitzender der FDP. Von 1988 bis Juli 2008 wirkte er als Aufsichtsratsvorsitzender der Iveco Magirus AG.

Geschichte gemacht hat Graf Lambsdorff vor allem mit seinem "Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit", das als "Lambsdorff-Papier" Anfang September 1982 abrupt das Ende von 13 Jahren "sozialliberaler" Koalition einleitete und den Weg bereitete für das konstruktive Mißtrauensvotum vom 1. Oktober 1982. Damals wählten CDU/CSU und FDP den SPD-Kanzler Schmidt ab und setzten Helmut Kohl an seine Stelle.

Das "Lambsdorff-Papier" liest sich wie ein Drehbuch für alle seitherigen Bundesregierungen. Es listet im Detail eine Palette von Maßnahmen des sozialen Kahlschlags auf, die seither schrittweise verwirklicht wurden: Verringerung des Arbeitslosengelds und Begrenzung der Bezugsdauer auf 12 Monate, schärfere Zumutbarkeitsregelungen für Sozialhilfeempfänger, Streichung des Schüler-BAFöG und Umstellung des BAFöG für Studierende auf Voll-Darlehen, Anhebung der Mehrwertsteuer, mehr Eigenbeteiligung und Selbstvorsorge in der Sozialversicherung, stärkere Beteiligung der Rentner an der Krankenversicherung, Anhebung der Altersgrenze, erleichterte Abschiebung arbeitsloser Ausländer, Privatisierung öffentlicher Aufgaben und Unternehmen, Lockerung des Kündigungsschutzes, keine "Verschärfung" der Mitbestimmung, um nur einige zu nennen.

Um diese Ziele abzuarbeiten und schrittweise zu verwirklichen, musste Graf Lamsbdorff nicht unbedingt selbst in der Regierung sitzen. Dafür fanden sich andere wie Kohl und der langjährige Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU), die beide 16 Jahre lang - von 1982 bis 1998 - am Kabinettstisch saßen. Davon will Blüm, der heute als "soziales Gewissen" durch die Lande und Talkshows tingelt, nichts mehr wissen.

1982 verstand die SPD-Führung das Lambsdorff-Papier als "Provokation", hielt seine Kernpunkte für "unzumutbar" und erklärte das Ende der SPD-FDP-Koalition. Jahrelang wetterten SPD- und Gewerkschaftsführer gegen den "vorbestraften Marktgrafen" und seine "soziale Kälte". 16 Jahre später jedoch hatten sich die Zeiten geändert. Nun fanden sich einflussreiche sozialdemokratische Emporkömmlinge wie Schröder, Müntefering, Hartz, Riester, Clement, die bereitwillig und konsequent die noch unzureichend umgesetzten Punkte des Lambsdorff-Papiers in Angriff nahmen. Ihnen kamen dabei viele gemäßigte Sozialdemokraten an der Spitze der Gewerkschaften zur Hilfe, die die neoliberale Agenda mit ihren angeblichen "Sachzwängen" inzwischen geschluckt hatten und statt Mobilisierung und Gegenmacht auf Co-Management, Kamingespräche im Kanzleramt und Schmusekurs setzten.

In der Opposition konnten die FDP und ihr Ehrenvorsitzender Graf Lambsdorff seelenruhig mit ansehen, wie sich die SPD erneut mit sozialer Demontage die Finger beschmutzte. Die Aussöhnung mit der SPD-Führung wurde endgültig besiegelt, als Lambsdorff 1999 im Auftrag von Kanzler Gerhard Schröder die Verhandlungen über die Entschädigungen für ehemalige NS-Zwangsarbeiter führte.

Von Graf Lambsdorff können wir lernen, wie man kontinuierlich (Klassen-)Interessen vertritt, einen langen Atem an den Tag legt und unbeirrbar an seinen Zielen festhält, auch wenn sie "utopisch" wirken und in den nächsten zwei Legislaturperioden oder zu unseren Lebzeiten nicht durchsetzbar scheinen. "Diese Überlegungen gehen über den konventionellen Rahmen der bisher als durchsetzbar angesehenen Politik hinaus. Die politischen Schwierigkeiten ihrer Durchsetzung werden nicht übersehen", schrieb Graf Lambsdorff im September 1982. Er und seine Klasse wussten was sie wollen und arbeiteten zielstrebig darauf hin. Hätten die SPD- und Gewerkschaftsführer in den letzten Jahrzehnten nur einen Bruchteil dieses Klassenbewusstseins, dieser Kühnheit und dieser Hartnäckigkeit bei der Umsetzung der Interessen der Lohnabhängigen an den Tag gelegt, dann wären die meisten Ideen des Grafen ein Stück Papier geblieben.

Die von Graf Lambsdorff und anderen Vordenkern des Neoliberalismus versprochene Beseitigung der Massenerwerbslosigkeit durch starkes Wirtschaftswachstum ist ausgeblieben - damals wie heute. Statt Bekämpfung der Arbeitslosigkeit erleben wir eine Bekämpfung der Arbeitslosen und eine stetige Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen. Die von dem Grafen verteidigte Wirtschaftsordnung steckt in ihrer schwersten Krise seit 80 Jahren und muss noch zu unseren Lebzeiten überwunden werden, und zwar "über den konventionellen Rahmen der bisher als durchsetzbar angesehenen Politik hinaus".

Erstveröffentlichung am 8.12.2009 in der Tageszeitung Neues Deutschland.

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