Kategorie: Deutschland |
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Rassist in Nadelstreifen: Protest gegen Wiesbadener Sarrazin-Show |
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Bei einer Gesprächsrunde unter dem Motto "Freiheit die ich meine" am Dienstagabend im hessischen Justiz- und Integrationsministerium hat sich der Bundesbank-Vorstand und frühere Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) zu seinen als rassistisch kritisierten Aussagen über eine "mangelnde Integrationswilligkeit" großer Teile der türkisch- und arabischstämmigen Bevölkerung bekannt. Sarrazin war der "Star" der Abendveranstaltung mit dem Titel "Chancen und Grenzen der Integration". | |||
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Während vor dem Ministerium das örtliche Bündnis gegen Rechts und die Linksfraktion im Landtag mit Pappschildern gegen die Einladung Sarrazins und seine "Hetze gegen Migranten" protestierten, zeigte sich dieser im Saal vor ranghohen Vertretern von Politik und Verwaltung und einem mehrheitlich konservativen Publikum kein bisschen reumütig. "Emphatisch positiv" sei die Rückmeldung aus der Bevölkerung gewesen, so der "Politiker im Ruhestand ohne Massenbasis" (O-Ton Sarrazin), der sich als Sprecher der "Mehrheit in allen Parteien außer den Grünen" sieht. Es sei eine "krasse Fehllenkung", wenn türkische und arabische Familien in das Land kämen, "um nichts zu tun" und für ihre "reine Existenz" mehrere tausend Euro Hartz IV bezögen. "Wir reden über Menschen", konterte der türkischstämmige Medienunternehmer Kenan Kubilay: "Diese Beschimpfung ist falsch und erniedrigend." Er sei als achtjähriges "Gastarbeiterkind" in die Bundesrepublik gekommen und erinnerte daran, dass sein Vater das Land mit aufgebaut und "bis auf die Kirchensteuer" alle Steuern bezahlt habe. Der gastgebende Minister Jörg-Uwe Hahn (FDP) spielte an diesem Abend die Rolle eines liberalen Moderators, der Sarrazin gerne das Holzen überließ und gleichermaßen vor "verletztenden Überspitzungen" Sarrazins und "Denkverboten" seiner Kritiker warnte. Sarrazin rezitierte ein Feuerwerk von Zahlen und Statistiken. Diese habe er sich nach dem starken Echo aus dem Internet zusammengetragen, zumal ihm seine Tätigkeit bei der Bundesbank hierfür ausreichend Zeit lasse, gab er zu. Demnach zögen Heranwachsende mit Migrationshintergrund aus Vietnam oder Russland im Gegensatz zu türkisch- oder arabischstämmigen Jugendlichen beim Bildungsstand mit ihren deutschen Altersgenossen mindestens gleich, betonte er. "Die Wunde ist bekannt, aber was nützt es, Pfeffer und Salz reinzustreuen?", hielt ihm Kubilay entgegen: "Wir sitzen in einem Boot und wollen in Frieden unsere Kinder aufziehen." Lösungen müssten gemeinsam gesucht werden. Im übrigen sei Schulversagen bei "bildungsfernen Schichten" nicht nur ein Problem von Migranten. "Deutsch lernen ist zu 80 Prozent eine Bringschuld", erklärte Sarrazin. Sprache sei notwendig, aber nicht hinreichend für die Integration, zumal türkische und arabische Kinder meistens unter sich blieben. "Hier werden nur Negativbeispiele aufgebauscht", konterte Kubilay und erinnerte daran, dass es sehr viele erfolgreiche Migranten gebe. So hätten 60.000 türkische und türkischstämmige Unternehmer bundesweit rund 400.000 Arbeitsplätze geschaffen. Andererseits müssten Menschen mit ausländischem Namen bei gleicher Qualifikation im Schnitt drei- bis viermal so viele Bewerbungen um einen Arbeitsplatz schreiben wie Bewerber mit deutschen Namen. "In Nordamerika läuft die Integration über den Arbeitsmarkt", stellte Sarrazin fest. Die Grünen-Landtagsabgeordnete Mürvet Öztürk erinnerte indes an den jahrelangen Ausschluss von Flüchtlingen vom Arbeitsmarkt. "Wir haben keine Arbeit mehr", gab ein kritischer Zuhörer zu bedenken. Sarrazin, dessen Aussagen ein zuhörender Sozialarbeiter als "Tante-Emma-Rezepte" und "substanzlose Halbwahrheiten" kritisierte, wiederholte im Anschluss seinen Standpunkt vor zahlreichen Kameras und Mikrofonen. Mit einem kräftigen Händedruck signalisierte auch Christean Wagner, CDU-Fraktionschef im Landtag und Rechtsaußen seiner Partei, dass er ihm aus dem Herzen gesprochen hatte. „Statt über gleiche Bildungschancen für Migranten zu reden, wird ein Rassist in Nadelstreifen ins Ministerium eingeladen“, kritisierte hingegen die LINKEN-Abgeordnete Barabara die Veranstaltung als "intergrationspolitisch fatales Signal". Transparent der Linksjugend [´solid] führt zu Strafanzeige Mit einem versteckten Transparent hatten vier Mitglieder der Wiesbadener Linksjugend [´solid] die Veranstaltung aufgesucht, obwohl die Veranstaltung durch Polizei und Ordnungskräfte gut geschützt war und verstärkt Personenkontrollen im Eingangsbereich durchgeführt wurden. Zur Tarnung waren die Jugendlichen in Anzug und Krawatte erschienen, um im Vorfeld keine Aufmerksamkeit zu erregen. Nach dem ersten Redebeitrag von Sarrazin konnten zwei von ihnen das Transparent mit der Aufschrift: „Freiheit die IHR meint: Diskriminierung & Perspektivlosigkeit. Schluss damit!“ vom Rücken einer dritten Person reißen und es mit Buhrufen und Pfiffen entrollen und hochhalten. Doch binnen weniger Sekunden schritten Sicherheitskräfte ein und brachten die Gruppe ohne aktive Gegengewehr aus dem Saal. Die Polizei stellte die Personalien fest, erteilte Hausverbot und sprach einen Platzverweis für das Gelände um das Justizministerium aus. Gegen die Person, die das Transparent am Rücken befestigt in die Veranstaltung geschleust hatte, wurde Strafanzeige wegen „Vortäuschung falscher Tatsachen“ angedroht. Als "Beweismittel" wurden das T-Shirt, an dem noch Klebebandreste hingen, und das Transparent "gesichert". Die Demonstranten der Linksjugend['solid] kritisieren, dass die Einladung an Thilo Sarrazin einen Rückschritt in der Frage der Integration bedeutet, da mit einem Rassisten über eine solche Frage nicht konstruktiv diskutiert werden kann. Die Gruppe kritisiert ebenso Jörg Uwe Hahn aufgrund seiner "heuchlerischen Äußerungen" zum Flughafenausbau Frankfurt/Main und diskriminierenden Haltung gegenüber Hartz-IV-Betroffenen. Sarrazins Auftritt war schon vergangene Woche im Landtag Gegenstand einer von der Linksfraktion beantragten Aktuellen Stunde. Dabei hatte die Opposition Minister Hahn aufgefordert, Sarrazin wieder auszuladen. Der Bundesbänker habe "gegen die sozialdemokratischen Grundüberzeugungen verstoßen", monierte auch SPD-Mann Gerhard Merz. Gegen Sarrazin läuft derzeit in der Berliner SPD ein Parteiausschlussverfahren. Mit seinen rassistischen Sprüchen macht Sarrazin - gewollt oder ungewollt - Neonazis salonfähig, die am 8. Mai, dem Tag der Befreiung, in Wiesbaden aufmarschieren wollen. Für die "Biedermänner" in der hessischen CDU-FDP-Koalition, die sich immer wieder mit rassistischen Vorstößen hervortun und Hartz IV-Empfänger gegen Hartz IV-Ampfänger und gegen Menschen mit Armutslöhnen ausspielen wollen, ist Sarrazin ein willkommener Kronzeuge, dem sie bereitwillig jede Plattform bieten. Mobilisieren wir also mit aller Kraft für den 1. Mai - den Kampftag der Arbeiterbewegung - und den 8. Mai - den Tag der Befreiung - und stoppen wir gemeinsam die Neofaschisten und Rassisten! Erstveröffentlichung (gekürzt) Neues Deutschland 11. März 2010 |