Vor den revolutionären Ereignissen in Russland 1917 war das Land, insbesondere im Vergleich zu seinen europäischen Nachbarn, in vielerlei Hinsicht rückständig. Der Großteil des Landes war von dörflichen Strukturen bestimmt und die Alphabetisierungsrate war niedrig, vor allem bei Frauen lag sie nach einem Bericht von 1897 gerade mal bei 13,1 Prozent. Die Frauen waren Sklavinnen der patriarchalen Familie und die zaristische Gesetzgebung erlaubte es dem Mann, „seine“ Frau als Besitz zu betrachten.
In seiner Analyse der kapitalistischen Entwicklungen in Russland zwischen 1896 und 1899 studierte Lenin die Situation der Arbeiterinnen und ihrer doppelten Bürde. Arbeitende Frauen begannen ihre berufliche Tätigkeit meistens im Alter von 12 bis 14 Jahren, viele von ihnen sogar früher. Der Arbeitstag ging bis zu 18 Stunden und das zu Niedriglöhnen. Trotzdem erkannte Lenin, dass die industrielle Entwicklung ein Schritt hin zum Fortschritt war, da sie den Frauen erlaubte, sich außerhalb des Heimes einen Platz in der Gesellschaft zu nehmen. Dieser Prozess wurde vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 beschleunigt, da Frauenarbeit, durch den Abzug von Männern an die Front, notwendiger wurde. Vor allem in der russischen Textilindustrie machten Frauen bald die Mehrheit der Arbeitenden aus. Direkt dahinter stand die Metallindustrie.
Diese Entwicklungen sollten einen großen Einfluss auf die spätere revolutionäre Bewegung haben. Als es zur Bildung erster Arbeiterräte, sogenannter Sowjets, in den Fabriken kam, fanden sich auch einige Frauen unter den Delegierten. Diese Frauen haben sich für die Rechte der arbeitenden Bevölkerung und einen gemeinsamen Kampf für die Befreiung der Frau und der Arbeiterklasse eingesetzt.
Abgrenzung zur bürgerlichen Frauenbewegung
Historisch betrachtet war die Frauenbewegung ursprünglich durch den bürgerlichen Feminismus vertreten. Aber erst als die Frauen der arbeitenden Klasse diesen Kampf übernahmen, kam es zu nennenswerten Ergebnissen. Die bürgerliche Frauenbewegung kämpfte vor allem für das Wahlrecht, mit dem Ziel, ihre eigene soziale Stellung zu sichern, ohne damit die Lage aller Frauen, vor allem der Mehrheit der besitzlosen Arbeiterinnen, wirklich zu verbessern.
Die proletarische Frauenbewegung schloss die Geschlechterfrage nicht von anderen Kämpfen aus. Im Gegenteil, sie verband sie mit den politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnissen, die ihr tägliches Leben und ihre Unterdrückung bestimmten. Clara Zetkin beschreibt dies in einer Rede von 1907 beim Internationalen Sozialistenkongress zu Stuttgart: „Das Wahlrecht hilft den bürgerlichen Frauen die Schranken niederreißen, die in Gestalt der Vorrechte des männlichen Geschlechts ihnen Bildungs- und Tätigkeitmöglichkeit einengen. Es rüstet die Proletarierinnen in dem Kampfe, den sie für Erringung vollen Menschentums gegen Klassenausbeutung und Klassenherrschaft führen. Es befähigt sie in höherem Maße als bisher teilzunehmen an dem Kampfe für die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat zum Zwecke der Überwindung der kapitalistischen und zur Aufrichtung der sozialistischen Ordnung, in der allein die Frauenfrage ihre Lösung findet.“
Der Frauentag und die Forderungen
Clara Zetkin war nicht nur wegen ihrer Forderungen, sondern auch wegen ihrer Praxis eine bedeutende Kommunistin. Sie setzte mit weiteren Mitstreiterinnen bei der II. Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz in Kopenhagen durch, jedes Jahr den internationalen Frauentag zu organisieren. Zehntausende Frauen beteiligten sich beim ersten internationalen Frauentag an Demonstrationen in Deutschland am 19. Mai 1911. Am 8. März 1913 wurde der Frauentag dann auch mit ähnlichem Erfolg, durch die beiden führenden Kommunistinnen Alexandra Kollontai und Konkordiya Samoilova, in Russland eingeführt. Dieser Tag wurde 1917 am 23. Februar zum auslösenden Funken der Februarrevolution. Im westlichen Kalender fällt dieser Tag auf den 8. März, an dem wir noch heute den internationalen Frauentag feiern, Russland verwendete bis 1918 jedoch den julianischen Kalender.
Die Ereignisse begannen mit den Arbeiterinnen der M. Aivaz Fabrik in St. Petersburg. Sie schlugen ihren männlichen Genossen vor, diesen Tag für einen Streik zu nutzen, um besonders auf die doppelte Belastung der Frauen aufmerksam zu machen. Der Weltkrieg zwang den Frauen unerträgliche Lebensverhältnisse auf. In den Fabriken mussten sie pausenlos Schwerstarbeit leisten und danach die Bürde der Hausarbeit tragen. Zudem war die Nahrung extrem knapp, es herrschten Hunger, Erschöpfung, endloses Leid. Nach ihrer erfolgreichen Zusammenkunft entsandten sie Delegierte in andere Fabriken, woraufhin mehr und mehr Arbeiterinnen und Arbeiter sich dem Streik anschlossen.
Die Regierung in Petersburg versuchte die Proteste mit Hilfe des Militärs zu stoppen. Vor allem mit den Streikenden der Putilov Fabrik kam es zu starken Auseinandersetzungen. Die Arbeiterinnen waren an vorderster Front und überzeugten die Soldaten, sich den Streikenden anzuschließen und ihre Waffen stattdessen gegen die zaristische Monarchie zu richten. In wenigen Tagen kollabierte das alte System und die Revolution war im vollen Gang. Die direkte Beteiligung der Frauen am gemeinsamen Kampf der arbeitenden Klasse und die politische Machtübernahme durch die Sowjets und die Bolschewiki in der Oktoberrevolution 1917 eröffneten die Chance, emanzipatorische Forderungen der Frauen erstmalig umzusetzen.
Die Bolschewiki verstanden sich nicht als wohltätige Befreier der Frauen. Vielmehr war ihnen bewusst, dass nur eine vereinte Arbeiterbewegung, welche die besondere Rolle der Frauen durch ihre doppelte Bürde anerkennt, die Kraft hat, den Kapitalismus zu stürzen. Eine der treibenden Kräfte für die wirklich materielle Verbesserung der Umstände der Frau in der Sowjetunion war Alexandra Kollontai. Sie war die erste Frau, die Ministerin und später Diplomatin wurde, was ihr ermöglichte, viele der elementaren Forderungen durchzusetzen. So führte sie eine allgemeine Sozialversicherung und mit dem 1918 geschaffenen Ministerium für Mutterschaft und Kindheit eine materielle Absicherung für Mütter ein. Dazu gehörten 16 Wochen Mutterschaftsurlaub, Schutz vor schweren Arbeiten während der Schwangerschaft, Zugang zu Kliniken, Mutterschaftsberatung und Tagesstätten. Zuvor hatten Mütter oft bis zur letzten Sekunde gearbeitet oder sogar in der Fabrik gebären müssen. Die Selbstbestimmung der Frau über ihren Körper wurde 1920 mit der Entkriminalisierung von Abtreibungen erweitert. Auch veröffentlichte Kollontai viele Schriften über neue Beziehungsformen, die sich von der bürgerlichen Ehe distanzierten.
Lenin erklärt in einem Gespräch mit Clara Zetkin, vor welchen Aufgaben die revolutionäre Regierung in der Sowjetunion stand: „Wir gliedern die Frauen in die soziale Wirtschaft, Verwaltung, Gesetzgebung und Regierung ein. Wir öffnen ihnen alle Kurse und Bildungsanstalten, um ihre berufliche und soziale Leistungsfähigkeit zu heben. Wir gründen Gemeinschaftsküchen und öffentliche Speisehäuser, Wasch- und Reparaturanstalten, Krippen, Kindergärten, Kinderheime, Erziehungsinstitute verschiedener Art. Kurz, wir machen Ernst mit unserer programmatischen Forderung, die wirtschaftlichen und erzieherischen Funktionen des Einzelhaushaltes der Gesellschaft zu übertragen. Dadurch wird die Frau von der alten Haussklaverei und jeder Abhängigkeit vom Manne erlöst. Es wird ihr je nach Begabung und Neigung volles Wirken in der Gesellschaft ermöglicht. Die Kinder erhalten günstigere Entwicklungsbedingungen als daheim.“
Das Ziel war also ganz und gar nicht wie bei den bürgerlichen Feministinnen ausschließlich eine Teilhabe am Kapitalismus. Die revolutionäre Bewegung von 1917 wusste, dass das bestehende System von Grund auf verändert werden musste, um eine wirkliche Befreiung der Frau zu ermöglichen. In den Worten von Kollontai: „Natürlich hält dieses ultimative Ziel die proletarischen Frauen nicht davon ab, auch im Rahmen der herrschenden bürgerlichen Ordnung zu versuchen, ihre Emanzipation zu erreichen, aber die Realisierung solcher Forderungen wird konstant blockiert durch Hindernisse, errichtet vom kapitalistischen System selbst. Frauen können nur wirklich frei und gleich sein in einer Welt der vergesellschafteten Arbeit, Harmonie und Gerechtigkeit.“
Die Befreiung der Frau war und ist kein leichter Prozess, der sich allein durch Gesetze erreichen lässt. Vor allem in den Gebieten der Sowjetunion, in denen die Produktivkräfte weniger entwickelt und die patriarchalen Fesseln besonders eng gespannt waren. So wurde beispielsweise in Usbekistan im Jahre 1928 von 203 Fällen berichtet, in denen Frauen durch ihre Väter, Ehemänner oder Brüder ermordet wurden, weil sie sich der revolutionären Frauenbewegung anschlossen. Diese patriarchalen Fesseln spüren wir auch heute in Deutschland, wenn von Frauenmorden berichtet wird, die sich, statistisch betrachtet, jeden dritten Tag ereignen.
Stalinistische Degeneration
Die Revolution, die im Zuge des Frauentags 1917 entfacht war, breitete sich bald im ganzen Land aus. Viele Forderungen wurden umgesetzt und die Stellung der Frau erreichte ein Level, wie es bis zu diesem Zeitpunkt keine andere entwickelte Gesellschaft vorzuweisen hatte. Doch die Zerstörung durch den Weltkrieg und den Bürgerkrieg, das niedrige Produktionsniveau, die materielle und kulturelle Rückständigkeit in Russland waren enge Fesseln, die keinen Spielraum gaben, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Dafür war eine weltweite Revolution notwendig.
Mangel, Ungleichheit und wirtschaftliche Rückständigkeit brachten eine parasitäre Bürokratie mit Stalin an der Spitze an die Macht, die den revolutionären Prozess zusätzlich ausbremste und umkehrte. Die Revolution degenerierte und die Arbeiterklasse verlor die Kontrolle im ersten Arbeiterstaat. Diese Degeneration zeigte sich auch an der Stellung der Frau. Viele der ursprünglichen Errungenschaften gingen wieder verloren. Die alte Familienordnung wurde wieder propagiert, 1936 wurde Abtreibung trotz Widerstand in der Bevölkerung erneut verboten.
Trotzki schreibt in „Verratene Revolution“: „Es ist nicht gelungen, die alte Familie im Sturm zu nehmen. Nicht weil es an gutem Willen gefehlt hätte. Auch nicht, weil die Familie so fest in den Herzen wurzelte. Im Gegenteil, nach einer kurzen Periode des Misstrauens zum Staat, zu seinen Krippen, Kindergärten und ähnlichen Anstalten wussten die Arbeiterinnen und nach ihnen auch die fortgeschrittenen Bäuerinnen die unermesslichen Vorzüge der kollektiven Kinderpflege wie der Vergesellschaftung der gesamten Familienwirtschaft wohl zu schätzen. Leider erwies sich die Gesellschaft als zu arm und zu unkultiviert. Den Plänen und Absichten der kommunistischen Partei entsprachen die realen Mittel des Staates nicht. Man kann die Familie nicht ‚abschaffen‘, man muss sie ersetzen. Eine wirkliche Befreiung der Frau ist auf dem Fundament der ‚verallgemeinerten Not‘ nicht zu verwirklichen. Die Erfahrung veranschaulichte bald diese bittere Wahrheit, die Marx 80 Jahre zuvor formuliert hatte.“
Trotz all der Rückschritte war die Gleichstellung der Geschlechter der des Westens überlegen, vor allem in der Berufswelt. Das zeigt die Überlegenheit der Planwirtschaft über die Anarchie des Kapitalismus. In der Bildung, der Medizin, der Forschung oder in der Industrie als Ingenieurinnen, ja sogar als Kosmonautinnen waren Frauen stark vertreten. Sie waren zwar noch nicht von den Fesseln der Hausarbeit befreit und mussten immer noch eine doppelte Belastung stemmen, aber zumindest hatten sich die Fesseln erstmals in der Geschichte zeitweilig gelockert und einen Ausblick geschaffen, auf eine Welt, wie sie sein könnte.
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