Damals blickten viele linke Sozialdemokraten und Sozialisten in Europa nach Chile, wo drei Jahre zuvor der sozialistische Präsident Salvador Allende mit seinem Wahlsieg einen friedlichen, parlamentarischen Weg zum Sozialismus begründen wollte. Das klang für Jugendliche wie mich damals attraktiv. Dieser Traum wurde durch den blutigen Pinochet-Putsch jäh beendet. Wie an vielen Orten veranstalteten wir damals auch in der tiefsten schwäbischen Provinz Solidaritätsveranstaltungen und Demos. Dass führende Medien wie die FAZ und die Springerpresse und führende Politiker wie der damalige CDU-Generalsekretär Bruno Heck und der CSU-Chef Franz Josef Strauß offen Solidarität und Verständnis mit diesem Putsch an den Tag legten, empörte uns. „Angesichts des Chaos, das in Chile geherrscht hat, erhält das Wort Ordnung für die Chilenen plötzlich wieder einen süßen Klang“; schrieb Strauß im Parteiblatt Bayernkurier. „Das Leben im Stadion ist bei sonnigem Wetter recht angenehm“, erklärte Heck nach einem Besuch im Stadion der Hauptstadt Santiago, wo viele tausend linke politische Gefangene zusammengepfercht waren. Der Putsch und die anschließende Unterdrückungswelle kostete vielleicht 50.000 Linke, Sozialisten, Kommunisten und Gewerkschafter das Leben. US-Geheimdienste und führende US-Konzerne hatten bei den Putschplänen die Finger mit im Spiel.
Als Jusos und junge SPD-Mitglieder setzten wir das Thema Chile in der örtlichen Partei auf die Tagesordnung. Finger weg von einer antikapitalistischen Strategie und das Kapital ja nicht provozieren, lautete zu meiner Verwunderung die Botschaft rechter Sozialdemokraten. Das kam für mich nicht in Frage. Ich zog andere Konsequenzen. Wer es mit wirklichen Verbesserungen für die breite Masse der Bevölkerung ernst meint, der muss auch bereit sein, sich mit dem Kapital anzulegen. Die Herrschenden werden nicht freiwillig auf Macht, Eigentum und Privilegien verzichten. Sie werden ihren Staat in Bewegung setzen, um ihre Entmachtung zu verhindern. Wir brauchen daher eine Strategie, um ihren Widerstand zu überwinden. So wandte ich mich dem Marxismus zu und entdeckte in der Geschichte viele Parallelen für eine zu zaghafte Reformpolitik, die auf Gutgläubigkeit setzt und den Herrschenden nicht weh tun will. Dafür waren diese noch nie dankbar. Dafür spricht auch die deutsche Geschichte Bände. Die SPD-Führung rettete 1918 in der Novemberrevolution das Kapital vor der Revolution. 1933 brachte das Kapital Hitler an die Macht, der alle Arbeiterparteien verbot und SPD-Mitglieder ebenso verfolgen ließ wie Kommunisten und andere. Zweifellos betrieb Salvador Allende eine ehrgeizige Reformpolitik, die den arbeitenden Menschen und Armen zu Gute kam. Aber seine Hoffnung, durch Abkommen und Deals mit den rechten Generalen diese Politik abzusichern, war verhängnisvoll. Als in den Wochen vor dem Putsch die Basis der Linksregierung von ihren politischen Führern Waffen zur Selbstverteidigung forderte, weil es immer mehr Anzeichen für einen gewaltsamen Staatsstreich gab, wiegelten Allende und auch die Spitzen der Kommunistischen Partei ab. Sie wollten ja „nicht die Reaktion provozieren“. Ein verhängnisvoller Irrtum.
Das kostete nicht nur Allende das Leben, sondern es warf das Land und die Zivilisation um Jahrzehnte zurück. Nach der brutalen Ausschaltung der Arbeiterbewegung und ihrer Widerstandskraft wurde Chile zum Versuchskaninchen für eine Zerstörung des Sozialstaats, Privatisierung und Deregulierung unter dem Kommando der neoliberalen Think Tanks, der „Chicago Boys“. Auch zum Vorbild für die schrittweise Demontage und Privatisierung der gesetzlichen Rentenversicherung in der Bundesrepublik mit der „Riester-Rente“ seit der Jahrtausendwende, die hierzulande bald Millionen in die Altersarmut stürzen wird. Als wir am Nachmittag des 11. September 2001 völlig überrascht die Bilder vom grausamen Anschlag auf das World Trade Center und das Pentagon live mit erlebten, waren wir zuerst erschüttert und wie erschlagen. Doch bald begannen wir nüchtern nachzudenken und erste Mosaiksteinchen zusammen zu fügen. Daraus entstand ein erster Aufruf, mit dem wir auf die Straße gingen. Unsere Parolen waren dabei von Anfang an:
- Den herrschenden Kreisen der USA geht es nicht um Freiheit und Demokratie, sondern um wirtschaftliche und strategische Interessen, um Ölquellen und Pipelines, um Einfluss-Sphären und Vorherrschaft speziell in der Nahost-Region.
- Krieg ist Staatsterror und der Terror der Mächtigen.
- Nein zu Terror, Krieg und Fremdenhass. Nein zum Abbau demokratischer Rechte.
- Unsere Alternative: Solidarität von unten statt Bomben von oben.
Wir haben in Wiesbaden von Anfang an vor einem Irak-Krieg gewarnt und es auf den Punkt gebracht: Kein Blut für Öl! Speziell die Bush-Administration war so eng verflochten mit der Ölindustrie wie keine andere Regierung zuvor. Keine grundlegende Aussage und Aktion von damals haben wir zurückzunehmen. Unserer damaligen Aktivitäten sind im Internet dokumentiert. Zwei Jahre lang – von Herbst 2001 bis Sommer 2003 – führten wir wöchentlich Mahnwachen und Kundgebungen durch. Höhepunkte waren eine Reihe von Demos mit Hunderten und im Frühjahr 2003 bei Ausbruch des Irak-Krieges mit mehreren tausend TeilnehmerInnen.
Unvergessen geblieben sind uns auch die Vorwürfe in lokalen Medien und regierungsnahen Kreisen, wir seien mit unserer Kritik „antiamerikanisch“ oder „einseitig“, weil wir den Afghanistan-Krieg und die Bundeswehrbeteiligung strikt ablehnten. Mit jenen Redakteuren des Wiesbadener Kurier, die uns damals in Kommentaren verunglimpften, würde ich gerne zehn Jahre danach noch einmal öffentlich über alles debattieren. Auch mit jenen offiziellen hessischen „Friedensforschern“, die damals behaupteten, Bush werde besonnen reagieren und keinen Krieg vom Zaun brechen. Oder mit jenen, die meinten, Afghanistan werde schon deshalb „kein zweites Vietnam“, weil es dort keinen Dschungel gebe...
Unvergessen ist auch ein groteske Szene in der Wiesbadener SPD, in der ich damals für marxistische Positionen stritt. Die örtliche Wahlkreisabgeordnete Heidi Wieczorek-Zeul war Mitglied der Bundesregierung Schröder/Fischer, die ihre „uneingeschränkte Solidarität“ mit der Bush-Administration erklärte. Sie gehörte sogar dem Bundessicherheitsrat an und war über alles bestens informiert. Einige Wochen später forderte sie die Aussetzung der Bombardements auf Afghanistan während des Fastenmonats Ramadan. Dies brachte ihr die scharfe Kritik der CDU/CSU ein, die die Entfernung des „Friedensengels“ aus dem Kabinett forderte. Als ich dies Anfang November 2001 (taktisch) aufgriff und in einem Antrag die Forderung nach Aussetzung des Bombardements während des Ramadan unterstützte, trat „Heidi“ mit weinerlicher Stimme an das Mikrofon und forderte die Delegierten auf, meinen Antrag abzulehnen.
2003 wollte mir ein übereifriges städtisches Ordnungsamt eine Geldbuße von 1250 Euro aufbrummen, weil ich bei der Unterstützung eines spontanen Schülerdemo gegen den Irakkrieg mit dem Auto angeblich die Bannmeile um den Landtag verletzt habe. Dies löste eine internationale Solidaritätswelle aus. Die Stadt gab nach, überwies den Fall an das eigentlich zuständige Innenministerium, das die Geldbuße auf 25 Euro reduzierte. Diesen in Sammlungen aufgebrachten Betrag übergab ich dann demonstrativ in vielen kleinen Münzen in einem Marmeladenglas beim zuständigen Sachbearbeiter.
Zehn Jahre später ist die Forderung nach Abzug aller Truppen aus Afghanistan aktueller denn je und ein Alleinstellungsmerkmal der LINKEN. Dabei muss es bleiben. Krieg ist schrecklich – und „schrecklich profitabel“, wie Lenin einst sagte. Dass deutsche Konzerne dem saudi-arabischen Regime Panzer zur Niederschlagung von Aufständen in Bahrein und anderswo liefern, dürfen wir nie hinnehmen. Daher bleibt auch die Forderung nach Enteignung der Rüstungskonzerne und Umwandlung der Produktion in Richtung Herstellung ziviler Güter unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten und Gewerkschaften eine zentrale Forderung.
Die Parole „Solidarität von unten statt Bomben von oben“ ist aktueller denn je. Auch unsere alte Parole aus den 1990er Jahren: „NATO, Multis, Diktatoren, was habt ihr am Golf verloren!?!“ Wer die Zustände in der Region verbessern und den Menschen wirklich helfen will, muss revolutionäre Sozialisten und Gewerkschafter in der Region tatkräftig unterstützen. In den arabischen Ländern begehren die Menschen gegen vom Westen jahrzehntelang hochgepäppelte Diktaturen auf. Insbesondere in Tunesien haben die Gewerkschaften dabei eine entscheidende Rolle gespielt. Dies zeigt Wirkung: In Israel protestieren seit Wochen viele hunderttausend Menschen unterschiedlichster Herkunft und Weltanschauung gemeinsam gegen die untragbar gewordenen sozialen Zustände. Das ist die potenzielle Kraft, die die Zustände verändern könnte. Fremde Truppen und Intrigen westlicher Geheimdienste haben dort jedenfalls nichts zu suchen.
Erstveröffentlichung 11.9.2011
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