Die spätere Restauration des Kapitalismus legte die Grundlage für die Machtübernahme ultrareaktionärer Kräfte etwa in Form der Taliban in Afghanistan oder die Zuspitzung bis zum Ausbruch eines verheerenden Bürgerkriegs wie in Syrien. Es ist dabei äußerst hilfreich, die Prozesse der kolonialen Revolution von 1945 bis in die 1980er Jahre zu verstehen und mit dem Werkzeug des Marxismus zu untersuchen.
Permanente Revolution
In etlichen westlichen Industrieländern spielte das Bürgertum früher eine durchaus progressive Rolle. Es sprengte die Ketten des Feudalismus und entwickelte die Produktivkräfte. Über Generationen wurde der bürgerliche Staat im Interesse der herrschenden Klasse mit seiner Armee, Polizei und Beamtenschaft als Herrschaftsinstrument entwickelt. In den (ex-)kolonialen Ländern hingegen war dies überwiegend nicht der Fall. Nach dem 2. Weltkrieg mussten die imperialistischen Länder Europas ihre direkte militärische Unterdrückung beenden und diese Länder in die formelle Unabhängigkeit entlassen. Der dabei entstehende bürgerliche Staat war nichts Statisches und Etabliertes. Dies führte in Verbindung mit der Schwäche des kolonialen Bürgertums zu einer relativen Unabhängigkeit des Militärs und Staatsapparates. Putsche und Gegenputsche waren Zeugnis von Instabilität und Widersprüchen dieser Gesellschaften.
Die Essenz von Leo Trotzkis Theorie der permanenten Revolution liegt darin, dass die Kapitalistenklasse der (ex-)kolonialen Länder unfähig ist, ihre eigentlichen historischen Aufgaben zu erfüllen: die bürgerliche und demokratische Revolution durchzuführen. Der Grund dafür liegt in ihrer Abhängigkeit von der herrschenden Klasse der imperialistischen Länder und ihrer Verbundenheit mit dem feudalen Großgrundbesitz. Die Banken haben Hypotheken am Landbesitz, die IndustriekapitalistInnen besitzen Land, die Großgrundbesitzer investieren in die Industrie und alle sind in ein Netz von Interessen gegen eine Veränderung verstrickt. Unter diesen Umständen, so Trotzki, fällt die Verwirklichung der Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution dem Proletariat zu, das sich damit aber nicht begnügen kann und dazu übergehen muss, die Aufgaben der sozialistischen Revolution anzupacken.
Die Probleme vieler (ex-)kolonialer Länder spitzten sich auch nach dem Übergang in die formale Unabhängigkeit zu und es konnte nicht länger auf eine Lösung in Form einer klassischen proletarischen Revolution „gewartet“ werden. Die alten Gesellschaften siechten unter den Widersprüchen der feudalistischen Überbleibsel und imperialistischen Ausbeutung. Unter solchen spezifischen Bedingungen war es möglich, dass Teile des Staatsapparates und der Intellektuellen von einer Radikalisierung erfasst wurden und sich auf die Seite der Revolution schlugen.
Der Marxismus lehrt, dass es keine absoluten Wahrheiten und keine abstrakten Blaupausen für historische Prozesse gibt. Die Geschichte zeigt eines: Wo die einzig progressive, revolutionäre Klasse aus diesen oder jenen Gründen ihre Aufgaben bei der Veränderung einer Gesellschaft nicht wahrnimmt, treten unter dem Druck der Ereignisse andere Kräfte, Klassen oder Schichten an ihre Stelle. „Die Natur verabscheut das Vakuum“, so ein lateinisches Sprichwort. Die in den revolutionären Prozessen entstandenen Staaten entwickelten nach dem Vorbild der damals relativ stabilen stalinistischen Staaten Sowjetunion und China die Produktionsweise einer zentral geplanten Wirtschaft und das staatliche Außenhandelsmonopol.
Proletarischer Bonapartismus
Eine gesunde Rätedemokratie konnte dabei nicht entstehen. Die Prozesse fanden meistens statt ohne die führende Beteiligung und Kontrolle des Proletariats, das mangels einer revolutionären Führung und teils ob seiner relativen Schwäche seine historische Rolle nicht erfüllen konnte. Deshalb kam es nicht zur Errichtung von ArbeiterInnendemokratie und transparenten Rätestrukturen wie in der jungen Sowjetunion, sondern zu totalitären Einparteienstaaten, die sich auf die Herrschaft des Schwertes stützten.
Das Beispiel Syrien
In den 1950er Jahren musste der französische Imperialismus Syrien endgültig in die Unabhängigkeit entlassen. Doch die Kapitalistenklasse des jungen Staats war unfähig, die sozialen Widersprüche dieser Gesellschaft zu lösen, geschweige denn dazu in der Lage das Land zu modernisieren. Zu groß die Abhängigkeit vom Imperialismus, zu eng die Verbundenheit mit den reaktionären Mullahs und Großgrundbesitzern. Dies führte zu einer revolutionären Stimmung innerhalb der Massen. Die herrschende militärische Elite wollte diese untergraben und drängte 1958 zu einer Union mit Ägypten, was zur kurzlebigen Vereinigten Arabischen Republik führte. Innerhalb dieser Republik wurden verschiedene progressive Maßnahmen wie eine Landverteilung umgesetzt. Genau dies wollte jedoch die herrschende syrische Offizierskaste verhindern. Sie kündigte die Union mit Ägypten bereits 1961 auf.
Dadurch war jedoch nichts gelöst und so spitzten sich die Widersprüche innerhalb der syrischen Gesellschaft soweit zu, dass 1963 eine andere Sektion des Militärs putschte und einen Prozess der Vergesellschaftung und Landverteilung in Gang setzte. Dieser Putsch brachte die „Arabische Sozialistische Baath-Partei“ an die Macht. Die syrische Offiziersschicht rekrutierte sich nicht aus dem Klein- und Großbürgertum, sondern aus der Unterschicht und insbesondere der damals unterdrückten alawitischen Minderheit.
Bis 1965 waren alle Großbetriebe teilweise oder vollständig verstaatlicht. Die Kapitalistenklasse und die feudalen Klassen der Gesellschaft wollten sich damit jedoch nicht abfinden. Die Mullahs brandmarkten die Regierung als „gottlos“ und die KapitalistInnen versuchten zu sabotieren. Dieser Widerstand wurde gebrochen. Dies führte zu einem weiteren noch radikaleren Putsch unter General Salah Jadid, um die Revolution und damit auch die eigene Haut der vorwärtstreibenden Offiziersschicht zu retten. Es wurde eine sich auf bäuerliche Massen stützende Armee aufgebaut, um endgültig die Macht der verrotteten, halb kapitalistischen, halb feudalen, pro-imperialistischen alten Eliten zu brechen. Eine neue Staatsmaschinerie entstand, fast die gesamte Industrie sowie Grund und Boden gelangten in Staatsbesitz. Die Regierung stützte sich jedoch nicht auf Organe der Massendemokratie in einem gesunden ArbeiterInnenstaat, sondern auf eine bäuerliche Armee. In Syrien war die ArbeiterInnenklasse aufgrund historischer Bedingungen damals nicht reif und groß genug, um die Revolution zu führen. Es fehlte ihr zudem an einer bewussten marxistischen Führung.
Bruch mit dem Kapitalismus
Als Folge dieser Entwicklungen in Syrien verließen die KapitalistInnen das Land und mit der Verstaatlichung des Schulwesens 1967 wurde auch den reaktionären religiösen Kräften ein Schlag versetzt. In der Weltpolitik wandte sich die Staatsspitze an die Sowjetunion und kam damit in die sowjetische Sphäre. Die Vorteile der Planwirtschaft wirkten sich sehr schnell aus: In den gesamten 1960er Jahren stieg das Bruttosozialprodukt pro Kopf um 80% und um 336% über den Zeitraum der 70er Jahre. Damit einher gingen spürbare Sozialreformen und große Fortschritte im Gesundheits- und Bildungswesen, die die Lebensverhältnisse für die Masse der Bevölkerung deutlich verbesserten.
Jedoch wie so oft in der Geschichte zeigte sich auch in Syrien eines: Nachdem der „revolutionäre Flügel“ einer Bewegung mit seinen radikalen Maßnahmen die Revolution konsolidiert hatte, übernahmen die „pragmatischen Elemente“ die Macht. So kam es innerhalb der Baath-Partei zwischen Hafis al-Assad und Salah Jadid zu einem Machtkampf, den Assad aufgrund seiner Rolle als Verteidigungsminister für sich gewinnen konnte. Diese Spannungen spitzten sich seit der Niederlage gegen Israel 1967 zu. Jadid versuchte vergeblich Assad abzusetzen und wurde von 1970 bis zu seinem Tod 1993 unter Hausarrest gestellt. Diese Vorgänge führten zur Errichtung eines hoch zentralisierten Regimes unter Hafis al-Assad, in dem Kräfte aus dem Militär auf allen Ebenen in Schlüsselpositionen vertreten waren.
Mit der Festigung seiner Macht machte sich Assad daran, die Wirtschaft wieder zu „öffnen“. In verschiedenen Schüben wurden wieder private Investitionen erlaubt und enteignete Produktionsmittel wurden, um Investitionen anzuregen, wieder an syrische KapitalistInnen zurück gegeben. So wurde die Wirtschaft wieder in Richtung Kapitalismus entwickelt und fanden ähnliche Prozesse wie in China unter Deng Xiaoping statt. Ein endgültiger Bruch fand jedoch noch nicht statt, da die zentrale Kontrolle der Staates über die Wirtschaft erhalten blieb. Noch 1986 waren Währung, Außenhandel und ein Großteil der Produktionsmittel unter staatlicher Kontrolle.
Mit dem Untergang der Sowjetunion beschleunigte sich dieser Prozess in Richtung Kapitalismus in Syrien rapide. Nahm man sich in den 1970ern noch die Sowjetunion und China bei der Errichtung der Planwirtschaft zum Vorbild, so wurde jetzt die Restauration des Kapitalismus nach chinesischem Muster angestrebt. 1990 zog der erste Kapitalist ins Parlament ein und 1991 wurde ein weiteres Gesetz zur Förderung privater Investitionen beschlossen.
Restauration und Verelendung
Aber erst nach der Jahrtausendwende Jahren schlug diese Quantität von Änderungen in eine neue Qualität um. Unter Baschar al-Assad, der nach dem Tode seines Vaters Hafis al-Assad im Jahre 2000 Staatschef wurde, entstand nach und nach ein Vetternwirtschafts-Kapitalismus. Staatliche Betriebe wurden privatisiert und gelangten in die Hände führender Amtsinhaber innerhalb des Regimes oder ihrer Verwandtschaft.
Dieser Weg wurde 2005 zementiert, als sich die „Reformer“ in der Baath-Partei gegen die „Konservativen“ durchsetzten. Hatten zunächst noch die staatlichen Betriebe die Wirtschaft beherrscht, so waren 2007 bereits 70% aller Betriebe in Privatbesitz. Nun kehrte auch ein großer Teil der sich im libanesischen Exil befindlichen syrischen Kapitalisten zurück. Immobilienpreise schossen in ungeahnte Höhen.
Bezahlt wurde diese Restauration des Kapitalismus von der Masse der Bevölkerung, die sich einer zunehmenden Verelendung und Arbeitslosigkeit ausgesetzt sah. Versuche des Regimes, mit sozialer Wohlfahrt die Probleme einzudämmen, versandeten im korrupten Staatsapparat, während sich in den Reichenvierteln von Damaskus absurder Luxus entfaltete. In dieser Polarisierung und der jahrzehntelangen Diktatur der Familie Assad mündeten die Verhältnisse nach dem Vorbild des „arabischen Frühlings“ 2011 in eine Revolution. Weil es aber keine starke und überzeugende revolutionäre Organisation gab, gewannen die vom Westen geförderten islamistischen Kräfte rasch an Boden und würgten die Revolution brutal ab. Unter kapitalistischen Verhältnissen gibt es für die Bevölkerung in Syrien und anderen Staaten der Region keine Hoffnung. So auch in Afghanistan, wo Ende der 1970er eine ähnliche bürokratische Revolution von oben stattfand, die fortschrittliche Reformen in Angriff nahm. Um dies zu stoppen, rüsteten die USA, Saudi-Arabien, Pakistan und andere die reaktionären islamistisch-fundamentalistischen Gruppierungen auf und bereiteten der Machtübernahme der Taliban den Weg. Was immer an „Zivilisation“ und Kultur bestand, wurde im Bürgerkrieg von den mit westlichen Geldern ausgestatteten „Gotteskriegern“ zerstört.
Nur eine neue internationale Revolution im Mittleren Osten zur Errichtung demokratischer Planwirtschaften kann einen Ausweg aus der endlosen Spirale von Bürgerkrieg, religiösem Fanatismus und Armut weisen. Dazu gilt es die Kräfte des Marxismus in diesen Ländern aufzubauen und zu verankern.
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