Es ist weitgehend in Vergessenheit geraten, dass zwischen 1918 und 1923 Deutschland wie kein zweites Land der Erde Schauplatz von Klassenkämpfen und Massenmobilisierungen der Arbeiterbewegung war. Wer weiß heute noch, dass 1920 ein spontaner Generalstreik, dem sich auch die eher konservative Beamtenschaft anschloss, alle Räder stehen ließ und den Versuch von rechten Reichswehr-Einheiten zur Errichtung einer Militärdiktatur („Kapp-Putsch“) in wenigen Tagen stoppte? Wer weiß noch, dass im August 1923 ein ähnlicher spontaner politischer Generalstreik Millionen mobilisierte und die verhasste reaktionäre Reichsregierung des Großkapitalisten Wilhelm Cuno zum Rücktritt zwang? Wer ist sich noch der Tatsache bewusst, dass sich zwischen 1916 und 1920 – vor dem Hintergrund von Krieg, Revolution und einer noch nie da gewesenen Streikwelle – die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen in Deutschland von einer Million auf über acht Millionen steil anstieg? Wer erinnert sich noch daran, dass in jenen Jahren neben der SPD zwei weitere Arbeiter-Massenparteien mit einer Millionen zählenden Anhängerschaft entstanden – die USPD und die KPD?
Während führende Vertreter des rechten Flügels der Sozialdemokratie wie Friedrich Ebert, Gustav Noske oder Philipp Scheidemann in (im Namen des „Sozialismus“) bei Ausbruch der Revolution 1918 zielstrebig das Bündnis mit der Reaktion suchten und die Revolution blutig unterdrückten, zeichnete sich die Führung der 1917 entstandenen USPD vor allem durch Unschlüssigkeit und Halbheiten aus. Aber auch nachdem 1920 die Mehrheit der USPD den Anschluss an die Kommunistische Internationale beschlossen hatte und die somit die KPD zu einer Massenpartei geworden war, zeigte sich in aller Schärfe, dass auch die (relativ junge und unerfahrene) Führung der KPD politisch den Anforderungen und Herausforderungen nicht gewachsen war.
Pierre Broué zeigt nicht nur viele Fakten auf, sondern er betrachtet dieses spannende Kapitel Geschichte der Arbeiterbewegung vom revolutionären Standpunkt aus. Er belässt es nicht dabei, über den Verrat der rechten SPD-Führung und konservativen Gewerkschaftsapparate zu lamentieren. Wie ein roter Faden zieht sich vielmehr die letztlich entscheidende Frage durch sein Werk: Worin lagen die schweren politischen, strategischen und taktischen Fehler und Irrtümer der Führung der linken Massenorganisationen, die letztlich die ungeheuren Kraftanstrengungen von Millionen zunichte machten? Warum hatte die Kommunistische Partei Deutschlands – anders als die russischen Bolschewiki mit Lenin und Trotzki an der Spitze – keine langfristig geschulte und gestählte Führung mit selbstständigen marxistischen Denkern, die den Herausforderungen von Revolution und Konterrevolution gewachsen gewesen wäre? Warum hatte die Ermordung von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und anderer erfahrener Mitstreiter in den ersten Monaten der Revolution so verhängnisvolle Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Entwicklung?
Revolutionäre Arbeiter in aller Welt hatten gehofft, dass eine siegreiche Revolution im hoch entwickelten Industriestaat Deutschland der isolierten und rückständigen Sowjetunion zu Hilfe kommen würde. Doch das Ausbleiben einer sozialistischen Revolution in Deutschland besiegelte ab 1923 endgültig die Herausbildung einer privilegierten bürokratischen Kaste in Russland, die sich von den Zielen des revolutionären Internationalismus lossagte und die Theorie vom "Sozialismus in einem Land" aufbrachte. Im revolutionären Deutschland der Jahre 1918 bis 1923 war die Arbeiterbewegung und die Linke am Zuge. Doch ihr Versagen führte dazu, dass wenige Jahre später - mit der 1929 hereinbrechenden Weltwirtschaftskrise - die Mittelschichten sich zunehmend den Nazis zuwandten und dort eine "radikale" Lösung zu finden glaubten. So hat die Niederlage der Deutschen Revolution 1918-1923 in mehrfacher Hinsicht das 20. Jahrhundert geprägt.
Wir stehen heute in Deutschland und weltweit wieder am Beginn einer neuen Umbruchssituation mit neuen und gewaltigen "historischen Schocks". Der Kapitalismus bietet uns keine Verbesserung von Lebensstandard und Lebensqualität mehr und schlittert weltweit in tiefe Krisen. Angriffe auf die Errungenschaften führen über kurz oder lang wieder zu einer starken Gegenwehr der arbeitenden Bevölkerung und Klassenkämpfen wie nach 1918. Der US-amerikanische Philosoph George Santayana hat es einmal auf den Punkt gebracht: „Wer sich weigert, aus der Geschichte zu lernen, der wird dazu verdammt sein, sie zu wiederholen.“
In diesem Sinne: Studieren wir die Geschichte unserer Bewegung und lernen wir daraus, indem wir uns auf die vor uns liegenden Erschütterungen vorbereiten und eine marxistische Alternative aufbauen.
Inhalt:
Vorwort Teil A: Pierre Broué, Die Deutsche Revolution 1918-1923 Anmerkungen/Fußnoten Bilder einer revolutionären Zeit Kurze Zeittafel Bibliographie des Verfassers Personenregister Liste der Organisationen Bücherliste / Lesetipps Teil B: Beiträge zur Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung SPD vor 1918: Reformistische Anpassung von Hans-Gerd Öfinger Rosa Luxemburg - Leben und Werk von Christoph Mürdter Hände weg von Rosa Luxemburg! von Leo Trotzki Rosa Luxemburg und die IV. Internationale von Leo Trotzki Leo Trotzki über Brandler und Thalheimer Leo Trotzki über Karl Kautsky Interview von Alan Woods mit Pierre Broué Das Theoriemagazin umfasst 176 Seiten und enthält 11 Seiten Bilder. Ein umfassendes Register und eine Zeittafel runden das Werk ab. ERHÄLTLICH IM ONLINE-SHOP Aufstand der Vernunft Nr.3 - Pierre Broué: Die Deutsche Revolution 1918-23 Mai 2005 178 Seiten Normalpreis/Solidaritätspreis €7/€9
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