Damals hielt die ungeheure Kampfbereitschaft der französischen Arbeiter die Welt in Atem. Auf dem Höhepunkt der Bewegung hielten 11 Millionen Arbeiter und Angestellte (bei einer Gesamtzahl von 15 Millionen, von denen nur 2,3 Millionen gewerkschaftlich organisiert waren) ihre Betriebe besetzt. Nicht nur alle Industriebetriebe, auch Theater, Bauernhöfe, Banken, Bahnhöfe, Schulen, Universitäten, Hotels, Kaufhäuser, Regierungsdienststellen und Schiffe waren weitgehend lahmgelegt oder übernommen worden. Arbeiter-, Bauern- und Studentenkomitees waren überall wie Pilze aus dem Boden geschossen. Fernseh- und Rundfunksender befanden sich unter Kontrolle der dort Beschäftigten. Armee, Marine und Polizei waren angesteckt und wurden als total „unzuverlässig“ bezeichnet. Die staatlichen Machtorgane des Kapitals waren lahmgelegt, das Staatsoberhaupt de Gaulle war unauffindbar verschwunden. Wie schon im Jahre 1936 - während der riesigen Welle von Sitzstreiks, als Matrosen und Soldaten bei Arbeiterdemonstrationen mitmarschierten und die Internationale sangen - hätte die Arbeiterklasse in dieser Situation auf vollkommen friedliche Weise die Macht erobern können. Aber was geschah stattdessen? Weshalb war das Regime wenige Wochen später wieder fest im Sattel?
Anfänge der Kämpfe
Seit dem Kriegsende 1945 hatte Frankreich eine riesige Industrialisierungswelle erlebt. Innerhalb von 10 Jahren hatte sich die Anzahl der Menschen mit Autos, Fernsehern, Kühlschränken und einem Haus auf dem Lande rapide erhöht, jedoch verschleierte das glänzende, verchromte Modell Frankreich von 1968 ein großes Ausmaß wirklichen Elends. “5-6 Millionen Franzosen leben nahe am Existenzminimum. Ein Viertel der Arbeiter verdient weniger als 150 Francs pro Woche. Arbeitslosigkeit - von der wahrscheinlich mehr als 500.000 betroffen sind - und Kurzarbeit sind neue, fremde Erscheinungen in einem Land, das 30 Jahre lang nur Vollbeschäftigung gekannt hatte“, berichtete mitten im Generalstreik die englische Zeitung „The Observer“. Am 1. Mai demonstrierten Hunderttausende unter der Parole „10 Jahre sind genug!“ unter Anspielung auf den 10. Jahrestag der Machtübernahme von Präsident Charles de Gaulle. Vor dieser Kulisse der allgemeinen Unzufriedenheit veranstalteten die Studenten am folgenden Tag Demonstrationen für die Aufhebung der Geschlechtertrennung in Wohnheimen. Diese Demonstrationen wurden von der Polizei mit brutaler Gewalt zerschlagen. Am 3. Mai wurden die Universitäten geschlossen. Als Reaktion darauf gingen die Studenten in den folgenden Tagen zu Tausenden auf die Straßen. Die ersten Straßenschlachten fanden statt. Die Parolen wurden schnell allgemeiner und politischer.
Arbeiter und Studenten
Die Studentenkämpfe legten nur den Funken an den Zunder. Ihre Proteste fanden sofort ein unmittelbares Echo bei der Arbeiterklasse. Von den ersten Tagen der Barrikaden- und Straßenkämpfe an genossen die Studenten die Unterstützung von mehr als 80 Prozent der Pariser Bevölkerung. Als am 6. Mai eine friedliche Demonstration von den CRS-Spezialeinheiten der Polizei hinterhältig angegriffen wurde, öffnete die Bevölkerung von Paris die Haustüren, um die Flüchtenden vor CRS-Gewehrkolben und Polizei-Gummiknüppeln in Schutz zu nehmen. Um die Wirkung des massiv eingesetzten Tränengases zu lindern, wurde eimerweise Wasser aus den Fenstern auf die Straßen gegossen.
Die Brutalität der CRS erregte die Empörung der Arbeiter, insbesondere nachdem die Belegschaft der ORTF (Radio und Fernsehanstalt) darauf bestanden hatte, dass darüber ein Film im Fernsehen gezeigt wurde. Besonders jüngere Arbeiter erblickten in den Studentenkämpfen eine Alternative und schöpften Mut aus der Tatsache, dass diese offensichtlich Risse in der gaullistischen Eintönigkeit zeigten. Bald traten sie selbst in den Streik - bei Sud Aviation (Flugzeugfabrik) gegen Entlassungen, bei der Post für höhere Löhne. Der Druck auf die Massenorganisation der Arbeiterklasse wuchs. So riefen schließlich die Führungen von CFTD (ehemaliger katholischer Gewerkschaftsbund) und CGT (größter Gewerkschaftsbund, mit kommunistischer Mehrheit) für Montag, den 13. Mai, einen 24-stündigen Generalstreik aus. Er war als Druckmittel gegen die Regierung gedacht, und gleichzeitig als Sicherheitsventil, um den in den Tiefen der Arbeiterklasse angestauten Druck gefahrlos abzulassen. Es gelang aber nicht, die Bewegung durch diese begrenzte Aktion zu dämpfen. Im Gegenteil: die massiven Arbeitsniederlegungen - eine Million allein in Paris! - ermutigten die Arbeiter nur noch mehr. Am nächsten Tag kehrten die Arbeiter von Sud Aviation nur in ihre Fabrik bei Nantes zurück, um sie zu übernehmen, den Direktor einzusperren und an alle Arbeiter zu appellieren, sie zu unterstützen und ihrem Beispiel zu folgen!
Besetzung und Räte
In den folgenden Tagen verbreitete sich diese Welle von Besetzungen ohne jegliche Unterstützung durch die Gewerkschaften oder die kommunistische Partei wie ein Lauffeuer und gipfelte in der totalen Lahmlegung der Wirtschaft am Ende der dritten Woche. Gegen den ausdrücklichen Willen der Führung der Kommunistischen Partei (damals einzige Massenpartei der Arbeiterklasse) wurden gleichzeitig auf allen Ebenen Aktionskomitees gebildet, Arbeiterkomitees in den Fabriken, Komitees von Ärzten, Krankenschwestern und Patienten in Krankenhäusern, von Bauern in Lagerhäusern und auf den Höfen, von Studenten und Schülern auf Universitäten und an Schulen.
Ein Arbeiter-, Studenten- und Bauernrat regierte buchstäblich ganz Loire-Atlantique um die Stadt Nantes! Er kontrollierte den Verkehr, die Versorgung mit Wasser, Elektrizität, Gas und Lebensmitteln. Landarbeitergewerkschaften erklärten sich bereit, die Streikenden zu ernähren. Arbeiter und Studenten halfen bei der Nahrungsmittelproduktion, die Preise wurden drastisch gesenkt.
Jeder Winkel der französischen Gesellschaft wurde von dem Aufruhr erreicht und angesteckt: die juristische Fakultät „lehnte die Gesellschaft ab“, sogar die Totengräber und Meteorologen streikten. Die Polizeigewerkschaft sprach von einer „äußerst gefährlichen Situation“, weil viele ihrer Mitglieder mit den Forderungen der Arbeiter sympathisierten und selbst mit Streikaktionen drohten. Fußballspieler besetzten Stadien und Richter organisierten sich gewerkschaftlich!
Staat machtlos
Der Staatsapparat hing in der Luft und befand sich in Auflösung. Regierungsbeamte diskutierten allen Ernstes, wie und in welcher Form sie die Macht übergeben sollten! De Gaulle, die Verkörperung des „starken Staates“, packte seine Koffer und teilte dem anwesenden US-Botschafter mit: „Das Spiel ist aus!“ Er floh aus Paris und wurde von Radioreportern als „vermisst“ gemeldet. Die Macht lag für die Arbeiterklasse in Reichweite. Was jetzt noch fehlte, war eine Verbindung der Komitees auf örtlicher, regionaler und nationaler Ebene und die Bildung einer von diesen Komitees getragenen Arbeiterregierung.
Ein solches oberstes nationales Arbeiterkomitee wäre von Anfang an eine demokratische Volksvertretung gewesen. Man hätte durch demokratische Wähl- und Abwählbarkeit aller Funktionen und Bezahlung durchschnittlicher Facharbeiterlöhne an alle Funktionäre und Komiteemitglieder dieses Komitee einer absoluten Kontrolle durch die Basis unterwerfen können. Vereinigt durch eine entschlossene Führung hätte die Arbeiterklasse die gesamten gesellschaftlichen Reichtümer in Besitz nehmen können. Eine solche Regierung hätte schon in den ersten Stunden ihrer Amtszeit alle Großkonzerne und Banken in Staatseigentum überführen, Organe aus den Reihen der organisierten Arbeiter zum Schutz dieser Maßnahmen bilden und somit die Grundlage für eine geplante Wirtschaft unter demokratischer Arbeiterkontrolle schaffen können.
Rolle der Arbeiterorganisationen
Doch nichts dergleichen geschah. Während die Massen instinktiv vorwärts drängten, wurden sie zurückgezerrt - von ihren eigenen Führern! Der Führung der Kommunistischen Partei fiel in dieser vorrevolutionären Situation nichts Besseres ein, als Neuwahlen zu fordern. Sie sprach sogar offen davon, dass es darauf ankäme, „die Bewegung wieder zurück in sichere parlamentarische Bahnen zu lenken“. Auf dem Höhepunkt der revolutionären Streikbewegung bekundeten CGT- und CFDT-Führer ihren Wunsch, mit der Regierung zu verhandeln - mit einer Regierung also, die praktisch nicht mehr bestand, keinerlei Macht mehr besaß und teilweise ins Ausland geflohen war. Die KP bestand darauf, dass der Kampf streng auf Löhne und Arbeitsbedingungen beschränkt sei, auf die „unmittelbaren Forderungen“ der 40-Stunden-Woche, eines höheren Mindestlohnes und größerer sozialer Sicherheit. Als am 27. Mai Georges Seguy, der Generalssekretär der CGT in den Renault-Werken in Billancourt auftrat, um stolz zu verkünden, dass er in dreitägigen Verhandlungen Erhöhungen der Grundlöhne bis zu 80 Prozent und die besten Sozialleistungen seit Kriegsende für die Arbeiterklasse herausgeholt hätte, wurde er ausgepfiffen und seine Rede wiederholt von einer aus 30.000 Kehlen gebrüllten Parole unterbrochen: „Gouvernement populaire!“ (Volksregierung).
Ein Renault-Arbeiter schilderte einige Jahre später seine Erfahrungen und Eindrücke: „Wir wollten alles verändern und wir hatten schon fast alles verändert. Wir erwarteten, dass sich unsere Führer an die Spitze stellten. Es war eine Revolution, ja eine Revolution, und wir dachten, die KPF würde sie anführen. Sie wollte jedoch gar keine Revolution. Als sie nur Neuwahlen forderte, wussten wir nicht, was wir tun sollten, es herrschte große Unsicherheit. Ein paar Wochen später haben viele Streikende wieder de Gaulle gewählt, weil sie von den Linken die Schnauze voll hatten.“
Lehren
In diesen Worten kommt klar zum Ausdruck, woran es der französischen Arbeiterklasse in jenen Maiwochen am meisten mangelte: an einer entschlossenen Führung, die den Weg zu Ende gegangen wäre, den die Massen spontan schon eingeschlagen hatten, anstatt alles abzubremsen. Die Mehrheit der Arbeiter erhoffte sich diese Führung von der KPF. Als diese entschlossene Führung jedoch ausblieb, wurden sie unsicher. Als sich die KP ganz gegen ihre Aktionen stellte, resignierten sie schließlich. Wohl versuchten sie noch tagelang, sich der offiziellen KPF-Politik entgegenzustellen. Sie zogen instinktiv und spontan in die richtige Richtung, doch es ging über ihre Kräfte, sich mitten im Kampf aus dem Stegreif etwa eine neue Partei zu schaffen.
Umschwung
Mehrere Wochen herrschte in Frankreich eine Situation der Doppelherrschaft - oder, wenn man es so will, der Doppelmachtlosigkeit. Ohne eine organisierte Führung, die die Kämpfe koordiniert und ihnen Ziel und Richtung vorgegeben hätte, entglitt der Arbeiterklasse die Macht wieder, die schon zum Greifen nahe war. Wochenlang war die Reaktion wie gelähmt, die „Bollwerke der Ordnung“ befanden sich in einem Zustand hochgradiger Zersetzung. Doch die langen Kämpfe erschöpften die Massen, die Haltung ihrer Führung entmutigte sie. Am 30. Mai kehrte de Gaulle nach Paris zurück, da er wieder „Morgenluft“ witterte. Er war in Baden-Baden gewesen, um die Unterstützung durch General Massu zu gewährleisten, der an der Spitze der 70.000 Mann starken französischen Rheinarmee stand. Sofort wurde die Auflösung des Parlaments verkündet und Neuwahlen ausgeschrieben. Eine üble Hetzkampagne folgte, gegen die „Roten“, „die Bedrohung durch eine totalitäre Diktatur“ usw. Erst jetzt, nach mehr als zwei Wochen Generalstreik, als die Straßen von Paris mit Unrat verstopft waren, und nachdem sich keine der großen Arbeiterorganisationen als fähig erwiesen hatte, schöpfte die Kapitalistenklasse wieder genug Mut zum Gegenangriff. Panzer und Truppen formierten sich um Paris, eine reaktionäre Demonstration zog eine Million Teilnehmer an, auf der Parolen gerufen wurden wie „der Kommunismus kommt nicht durch“, „Cohn-Bendit (ein Studentenführer, d. Verfasser) nach Dachau“, „erschießt Mitterrand“. In den folgenden Tagen wurden die Arbeiter durch Truppen wieder aus den Fabriken getrieben, wobei sie nur vereinzelt aktiv Widerstand leisteten. Einige linke Gruppierungen wurden verboten, ihre Führer verhaftet und des Landes verwiesen. Demonstrationen durften bis auf weiteres nicht stattfinden.
Wie konnte diese völlige Umkehrung des Kräfteverhältnisses so plötzlich zustande kommen? Schon Marx und Engels hatten erklärt, wie in revolutionären gesellschaftlichen Krisen sich die kämpfenden Klassen das Gleichgewicht halten können, jedoch nur für kurze Zeit, manchmal Monate, manchmal Wochen, manchmal nur einen Tag lang, wenn es um die Machteroberung durch die Arbeiterklasse geht. Wenn eine konsequente Führung an der Spitze der Arbeiterbewegung in einer solchen Situation fehlt, kann die Gelegenheit auf lange Zeit verpasst sein und die Reaktion für Jahrzehnte die Oberhand gewinnen. Neue große Kämpfe stehen bevor, in Frankreich wie in ganz Europa. Wenn die Lehren der vergangenen Kämpfe richtig gezogen und begangene Fehler vermieden werden, besteht kein Grund, warum es der Arbeiterklasse nicht gelingen könnte, ihre nächste Chance voll zu nutzen.
|