In der Tat waren die Ereignisse ab Herbst 1918 ein Meilenstein der Entwicklung und prägten auf ihre Weise das gesamte Jahrhundert. Ausgehend vom Kieler Matrosenaufstand erfasste die spontane Bewegung der Arbeiter- und Soldatenräte die Industriezentren. Monarchie und Militärdiktatur waren am Ende. Die bisher im Schatten stehende arbeitende Klasse erhob sich millionenfach, mischte sich ein und krempelte die Verhältnisse um. Generalstreiks und Arbeitskämpfe zeugten bis 1923 von ihrer potenziellen Macht. Die Gewerkschaften erlebten einen stürmischen Zustrom. Rasch stieg die Mitgliederzahl im DGB-Vorläufer ADGB von 966.000 im Jahr 1916 auf einen Höchststand von über acht Millionen im Jahr 1921 an.
Die Furcht der Herrschenden vor dem Verlust von Macht und Besitz war durchaus begründet. Als abschreckendes Beispiel diente ihnen die Russische Revolution von 1917. Dort setzte die von der Mehrheit der Arbeiter- und Soldatenräte getragene Sowjetregierung unter Führung der Bolschewiki schon in den ersten Wochen zahlreiche fortschrittliche Maßnahmen um und machte Ernst mit Arbeiterrechten und Gleichberechtigung von Frauen. In Deutschland war die Arbeitermacht Ende 1918 zum Greifen nahe.
Reform aus Angst vor der Revolution
Um der Revolution den Wind aus den Segeln zu nehmen, erfüllten die Herrschenden in Deutschland quasi über Nacht uralte Forderungen der Arbeiterbewegung, für die Generationen zuvor unter großen Opfern gestritten hatten. So etwa das Frauenwahlrecht. Im sogenannten „Stinnes-Legien-Abkommen“ vereinbarten Unternehmerverbände und Gewerkschaften – allen voran der Ruhrindustrielle Hugo Stinnes und der ADGB-Chef Carl Legien – unter anderem die Arbeitszeitverkürzung auf einen Acht-Stunden-Tag bei vollem Lohnausgleich, Arbeitslosenversicherung, Tarifautonomie, paritätisch besetzte Schlichtungsausschüsse und die Einrichtung von Arbeiterausschüssen in Betrieben ab 50 Beschäftigten zur Kontrolle der Einhaltung der Tarifverträge.
Die Gewerkschaftsspitzen fühlten sich geschmeichelt und mit den Arbeitgebern als „Sozialpartner auf Augenhöhe“. Auf einen Schlag sagten die Unternehmerverbände flächendeckende Tarifverträge für alle Branchen zu – davon können deutsche Gewerkschaften heute angesichts rapide sinkender Tarifbindung nur träumen.
Die herrschende Klasse und ihre Verbände hatten ihr eigenes Kalkül und wussten, was sie taten. „Es kam darauf an: Wie kann man das Unternehmertum von der Sozialisierung, Verstaatlichung und nahenden Revolution bewahren?“, plauderte der führende Stahlmanager Jakob Reichert Ende 1918 aus dem Nähkästchen. „Angesichts der wankenden Macht des Staates und der Regierung gibt es für die Industrie nur in der Arbeiterschaft starke Bundesgenossen: die Gewerkschaften.“
Im Gegenzug für die demokratischen und sozialen Zugeständnisse legten sich die Führungen von SPD und freien Gewerkschaften darauf fest, die Strukturen von Staat, Militär, Wirtschaft und Betrieben unangetastet zu lassen. Sie verzichteten auf die Absetzung selbst der reaktionärsten Persönlichkeiten aus Schlüsselpositionen und auf die Entmachtung der kaiserlichen Offizierskorps. Sie verbündeten sich mit den reaktionären Truppenteilen, die 1919 durch Deutschland zogen und in einem einseitigen Bürgerkrieg alle bestehenden Ansätze der Arbeitermacht zerschlugen und Tausende hinrichteten – allen voran Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.
Statt Selbstbestimmung nur kraftlose „Mitbestimmung“
Ob die damaligen Gewerkschaftsführer tatsächlich glaubten, dass die neue „Sozialpartnerschaft“ ewig halten würde und sie mit Hilfe der 1919 gebildeten „Weimarer Republik“ und ihrer Verfassung die demokratischen und sozialen Errungenschaften auf Dauer absichern könnten, ist im Nachhinein unwichtig. Jedenfalls betrachteten sie die in der Revolution als neue Machtorgane entstandenen Arbeiterräte und den in der Arbeiterklasse weit verbreiteten Ruf nach Sozialisierung der Betriebe mit Argwohn und traten allen Sozialisierungsbestrebungen entgegen. Dabei hätte letzten Endes nur eine direkte Demokratie auf der Grundlage einer vergesellschafteten Wirtschaft und einer Umwälzung des alten bürgerlichen Staatsapparats die Errungenschaften der Revolution abgesichert.
Betriebliche Arbeiterräte „würden die Betriebe in fortwährender Unruhe halten, würden sie politisieren und desorganisieren und die Produktion lahmlegen. […] denn ihr ganzes Wesen drängt nach […] politischer Betätigung im Großen. So wird also die Verpflanzung der Arbeiterräte auf das wirtschaftliche Gebiet nicht beruhigend wirken, sondern es wird neuen Zündstoff ansammeln, neue Revolutionsherde schaffen und das Wirtschaftsleben gefährlichen Krisen aussetzen“, schrieb das gewerkschaftliche Correspondenzblatt (Nr.10, 8.3.1919) und rechtfertigte damit das brutale Vorgehen der Militärs gegen die Räte und alle Ansätze von Arbeitermacht.
Doch gleichzeitig war die Arbeiterklasse durch die Erfahrungen in der Revolution und viele betriebliche und branchenweite Arbeitskämpfe 1919 so aufgewühlt, radikalisiert und politisiert, dass die SPD-geführte Regierung wenigstens in Worten und taktisch der Sehnsucht nach Selbstbestimmung und Sozialisierung der Produktionsmittel entgegenkommen musste. Die Sozialisierung wurde an Kommissionen delegiert und dort von den Bürgerlichen, Sozialdemokraten und Gewerkschaftsführern systematisch zerredet. Doch der Rätegedanke war im Massenbewusstsein verankert. Von der Idee der Arbeiterräte nach russischem Vorbild – als Machtorgane und Fundament einer sozialistischen Demokratie – blieben am Ende langer parlamentarischer Beratungen nur zahme und zahnlose Betriebsräte übrig, die auch in der Weimarer Verfassung verankert wurden. Von den ursprünglichen Sozialisierungs-, Kontroll- und Mitbestimmungsforderungen blieb nur ein matter Abklatsch übrig. Das im Januar 1920 verabschiedete Betriebsrätegesetz verdonnerte die Betriebsratsgremien zur „Unterstützung des Arbeitgebers in der Erfüllung der Betriebszwecke“ und dazu, „den Betrieb vor Erschütterungen zu bewahren“ sowie „Einvernehmen“ zwischen Arbeiterschaft und Arbeitgeber zu „fördern“.
Für viele Arbeiter war dieser Rückschritt eine Provokation. So kamen im Januar 1920 über 100.000 Menschen zu einer von USPD, KPD und linken Gewerkschaftern getragenen Demonstration vor dem Berliner Reichstag. Sie forderten für die Betriebsräte volles Kontrollrecht über die Betriebsführung statt begrenzter Mitwirkung. Preußische Polizei und Militärs schossen in die unbewaffnete Menge und tötete 42 Teilnehmer. So endete schon die Geburt des ersten Betriebsrätegesetzes 1920 mit einem Blutbad.
Papier ist geduldig
Alle weitergehenden Pläne zur Realisierung einer gleichberechtigten Mitbestimmung der Arbeiter und Gewerkschaften in der gesamten Wirtschaft blieben Papier. So sah die Weimarer Reichsverfassung 1919 über die Betriebsarbeiterräte hinaus nach Branchen gegliederte Bezirksarbeiterräte und einen Reichsarbeiterrat vor. 1920 wurde sogar ein (vorläufiger) Reichswirtschaftsrat aus Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern gebildet. 1922 bestimmte ein Gesetz erstmals die Entsendung von Betriebsratsmitgliedern in die Aufsichtsräte der Kapitalgesellschaften. Dies waren alles letztlich Manöver, um die Gewerkschaftsspitzen gefügig zu halten und die Arbeiterklasse vom revolutionären Kampf abzulenken. Letzten Endes flaute die revolutionäre Welle erst im Herbst 1923 ab. Für die Unternehmer war damit auch das Ende der Zugeständnisse erreicht. Der gesetzlich verankerte Achtstundentag wurde per Arbeitszeitverordnung im Dezember 1923 wieder ausgehebelt. Die Reformen vom November 1918 wurden schrittweise ausgehöhlt oder beseitigt. Dankbar für die Rettung ihrer Macht, ihres Besitzes und ihrer Privilegien waren die Eliten nicht. Der Faschismus zertrümmerte ab 1933 im Interesse des Kapitals die Arbeiterbewegung und ihre starken Organisationen.
Selbstbestimmung statt Co-Management
Die arbeitende Bevölkerung muss das Sagen in Wirtschaft und Gesellschaft haben. Es muss Schluss damit sein, dass „Nieten in Nadelstreifen“ auch nach erwiesenen Fehlentscheidungen gut abgesichert werden, während die Arbeiter und Angestellten die Konsequenzen von Fehlentscheidungen am eigenen Leib ausbaden müssen. Kontrolle und Verfügungsgewalt erfordern aber eine Änderung der Eigentumsverhältnisse. Erst wenn die Kommandozentralen der wirtschaftlichen Macht – Großkonzerne, Banken, Versicherungen – in öffentliches Eigentum überführt und der demokratischen Kontrolle durch Belegschaft, Gewerkschaften und Allgemeinheit unterworfen werden, können wir unser Schicksal in die eigene Hand nehmen und eine neue sozialistische Gesellschaft aufbauen.
In einer sozialistischen Demokratie könnte die arbeitende Bevölkerung kollektiv die politische und wirtschaftliche Führung übernehmen und nach dem Bedarf der Menschen demokratisch Investitionen, Produktion, Preise und Löhne festsetzen. Jeder arbeitende Mensch hat Kreativität und Erfahrung, die gebraucht wird. Die regelmäßig wiederkehrenden kapitalistischen Überproduktionskrisen könnten beendet werden.
100 Jahre nach der Deutschen Revolution stehen wir wieder am Vorabend großer Krisen. Wir müssen verhindern, dass bei einer künftigen Revolution wieder die Notbremse gezogen und das Kapital gerettet wird. Wir wollen uns nicht mit Brosamen, Brötchen und Brot abspeisen lassen, sondern die ganze Bäckerei übernehmen.
Sozialpartnerschaft und Co-Management
Die sozialistische Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts strebte die Überwindung der kapitalistischen Klassenherrschaft und eine klassenlose Gesellschaft an. Doch beim ersten großen Test versagten die Führer von Sozialdemokratie und Gewerkschaften. Fast alle schlugen sich im Weltkrieg 1914 auf die Seite der nationalen Kapitalistenklasse. Statt Sozialisierung der Produktionsmittel war nun „Mitbestimmung“ und vermeintliche „Gleichberechtigung“ der Arbeiter im Kapitalismus angesagt. Doch die 1920 gebildeten Betriebsräte als Organe begrenzter Mitbestimmung waren keine Ausgeburt „sozialpartnerschaftlicher“ Vernunft, sondern Nebenprodukt der Revolution und Zugeständnis der Herrschenden, die sich vor der Enteignung fürchteten.
„Revolution verhindern“
Nach dem 2. Weltkrieg hatte die Idee der Sozialpartnerschaft Hochkonjunktur. Über die Mitbestimmung in Konzernaufsichtsräten und teilweise als Personalvorstände machten Gewerkschafter und Betriebsräte traumhafte Karrieren. Wo dieses Co-Management hinführen kann, zeigte die Hartz-Korruptionsaffäre bei VW. Der Ex-Konzernbetriebsratschef Klaus Volkert bezog das VW-übliche Managergehalt und verlor seine eigene Arbeiterabstammung aus den Augen. Vor Gericht verteidigte er sich mit den Worten: „Ich und die anderen, wir waren bei VW viel mehr als Arbeitnehmervertreter. Wir haben die Aufgaben von Managern übernommen und dazu hat uns der Vorstand des Konzerns auch ermutigt.“
Wenig später brachte der Düsseldorfer Mannesmann-Prozess an den Tag, dass Ex-IG Metall-Chef Klaus Zwickel als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender beim Übergang zu Vodafone die 60-Millionen-Entschädigung für Ex-Konzernchef Esser abgesegnet hatte. Bei der Deutschen Bahn AG stimmten 2008 die Gewerkschafter im Personalausschuss des Aufsichtsrats für fette Bonuszahlungen an die Manager nach einem geplanten Börsengang. Maßgeblicher Unterstützer von Co-Management und Privatisierung war der langjährige Gewerkschaftsvorsitzende Norbert Hansen. Ihm bescheinigte SPD-Kanzler Gerhard Schröder 2004 bei einem Gewerkschaftstag in Anspielung an frühere gemeinsame Jahre im Juso-Bundesvorstand: „Norbert und ich haben früher die Revolution geplant, die wir heute gemeinsam verhindern müssen.“
Lenin beschrieb 1915, wie die Kapitalistenklasse im Zeitalter des Imperialismus „aus dem gigantischen Extraprofit die Arbeiterführer und die Oberschicht der Arbeiteraristokratie bestechen kann“ – und zwar „durch tausenderlei Methoden, direkte und indirekte, offene und versteckte“. Er definierte Arbeiteraristokratie als abgehobene Schicht, die „in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung vollkommen verspießert“ sei und „die Hauptstütze der Bourgeoisie“ und „wirkliche Agenten der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterbewegung“ bilde.
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