Die gescheiterte Revolution in Italien – Gramsci und das Biennio Rosso 1919-1920
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03. Januar 2020
Martin Kohler
Die neuste Veröffentlichung in der Roten Reihe von Der Funke ist jetzt erhältlich: Zum 100-jährigen Jubiläum schreibt unser Autor über die Lektionen der turbulenten «zwei roten Jahre» in Italien und über die Rolle des Marxisten Antonio Gramsci in der Turiner Rätebewegung.
Die Broschüre kann hier bestellt werden (Preis: Euro 4.- oder 6.- Solidaritätspreis). Wir veröffentlichen hier das Vorwort des Autors, das einen Ausblick auf den Inhalt der Broschüre gibt.
Vorwort:
Jubiläen geben uns einen Vorwand, über Dinge zu schreiben, über die wir ohnehin schreiben wollen, weil wir fest von ihrer Bedeutung überzeugt sind. Das ist hier nicht anders.
Vor hundert Jahren steuerte die Arbeiterklasse in Italien scheinbar unausweichlich auf den Bruch mit der kapitalistischen Ordnung zu. Heute ist in der Linken zu wenig bekannt über diese revolutionäre Periode, die als Biennio Rosso, die «zwei roten Jahre» 1919-1920, in die Geschichte einging. Das ist schade, denn sie ist ein äusserst lehrreicher Teil der Geschichte der internationalen Arbeiterklasse in ihrem Kampf für die eigene Befreiung.
In heroischen Aktionen lehnten sich die unterdrückten Arbeiter und Bauern gegen die ausbeuterische Ordnung der Kapitalisten und Grossgrundbesitzer auf, die ihnen auch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nichts als härteste Arbeitsqual und soziales Elend bieten konnte. Arme Bauern besetzten die Ländereien der Grossgrundbesitzer, die Arbeiter preschten in einer massiven Streikwelle vorwärts, besetzten Fabriken und bildeten Räte. Ihre Forderungen gingen weit über Lohnsteigerungen oder sonstige Verbesserungen im Rahmen des bestehenden Systems hinaus. In mehr als einem Fall nahm ihr Bestreben aufständischen Charakter an und zielte auf den Umsturz der gesamten Gesellschaftsordnung.
Die Offensive der Arbeiterklasse Italiens fand in der Bewegung der Fabrikräte in Turin ihren fortgeschrittensten Ausdruck. In der norditalienischen Automobilstadt, Heimat der Fiat-Werke, entwickelte das mächtige Industrieproletariat im Kampf eine schier unaufhaltbare Kraft. Im Herbst 1919 schlossen sich die Turiner Metallarbeiter in demokratisch gewählten Räten zusammen mit dem ausdrücklichen Ziel, die Macht der Kapitalisten in der Fabrik zu ersetzen und den Übergang in den Kommunismus einzuleiten. Auf dem Höhepunkt der Bewegung brachten sie die industrielle Produktion in den besetzten Fabriken unter die demokratische Kontrolle der Arbeiter und bewaffneten sich zur Selbstverteidigung gegen die Fabrikbesitzer. Das war der Ansatz einer Gesellschaft jenseits der kapitalistischen Herrschaft. Die herausragende Persönlichkeit der Turiner Fabrikrätebewegung war der Kommunist Antonio Gramsci. Geboren 1891 auf der Insel Sardinien war Gramsci 1911 als Student in die Industriehochburg gekommen. In den Wirren einer sterbenden kapitalistischen Ordnung war er derjenige, der die historische Entwicklung und die anstehenden Aufgaben am besten verstand. Er gab den spontanen Kämpfen der Arbeiter Form, trieb sie vorwärts und propagierte unermüdlich den Aufbau der Räte, in denen er ganz richtig die Keimzellen einer neuen Ordnung erkannte, in der sich die Arbeiter selbst regierten.
Gramsci ist heute zweifellos eine der bekanntesten Figuren aus der marxistischen Tradition. Zu diesem «Ruhm» kam er allerdings durch die falschen Leute aus den falschen Gründen – und eindeutig nicht wegen seiner führenden Rolle in der Turiner Rätebewegung. Was wurden seine Ideen nach seinem Tod verzerrt, gefälscht, abgestumpft und ihres revolutionären Gehalts beraubt! In Wahrheit stand Gramsci bis ans Ende seines Lebens fest auf dem Boden des revolutionären Marxismus – auch in seinen letzten Jahren, als er im faschistischen Gefängnis seine berühmten Gefängnishefte schrieb. Doch in den Elfenbeintürmen der Universitäten und in den Kreisen der reformistischen Linken wurde Gramsci in einen zahmen «Intellektuellen» und «Kulturtheoretiker» verwandelt. Sie haben ihn missbraucht und gegen den Marxismus ausgespielt, um ihrem Geplapper, eine Revolution sei heute unmöglich, einen «kritischen» und «subversiven» Anstrich zu geben.
Im Schicksal von Gramscis Erbe liegt eine traurige Ironie. Es sind genau solche reformistische Kräfte, die das Scheitern der Revolution in Italien 1919-1920 zu verantworten haben. Während des Biennio Rosso befand sich die bürgerliche Ordnung im Zusammenbruch. Das war der Ausdruck der tiefen Krise des gesamten Kapitalismus – und Gramsci verstand das sehr gut. Mit einem Sinn der höchsten Dringlichkeit opponierte er gegen diese realitätsfernen «Realisten», die mit jedem Tag mehr den Kontakt zu den sich radikalisierenden Massen verloren. Sie verlangten von diesen Massen ausgerechnet in der Situation Zurückhaltung, als der revolutionäre Bruch mit der bestehenden Gesellschaftsordnung für die unterdrückten Klassen der einzig mögliche Weg vorwärts darstellte.
Die Revolution in Italien scheiterte nicht am heldenhaften Kampf der arbeitenden Klassen. Sie scheiterte auch nicht an der Stärke ihres Gegners: Die Klasse der Kapitalisten und ihr bürgerlicher Staat hatten ihren Rückhalt in der Bevölkerung verloren und waren in sich gespalten. Im entscheidenden Moment waren sie ohnmächtig gegen die Stärke der Arbeiterklasse – die Macht lag für die Arbeiterklasse zum Greifen bereit! Die Revolution scheiterte an der verräterischen Rolle der eigenen Führungen der Arbeiterorganisationen. Diese weigerten sich, die Bewegung auszuweiten und die Machtergreifung zu organisieren. Mit dramatischen Konsequenzen: Sie führten die Arbeiterklasse in eine Niederlage, die direkt den Boden bereitete für die Gegenreaktion der herrschenden Klasse in Form des faschistischen Terrors.
Sozialistische Politik ist keine spassige Angelegenheit, die man tun oder lassen, die man machen kann, wie es einem beliebt. So funktioniert die Geschichte nicht, so funktioniert der Klassenkampf nicht. Für die eigenen Fehler wird man bestraft. Die Strafe für das Scheitern der Revolution war das Aufkommen des Faschismus. Das sind brutale Lektionen. Sie zeigen uns, wie unglaublich wichtig ein korrektes Verständnis der geschichtlichen Entwicklung und damit der Klassengegensätze in der Gesellschaft ist. Sie zeigen uns die Unverzichtbarkeit des Marxismus. Sie zeigen uns die Notwendigkeit einer Organisation bewusster Revolutionäre, die bereit ist, mit dem Kapitalismus zu brechen, und bedingungslos für den Sieg der unterdrückten Klassen zu kämpfen.
Diese Schlussfolgerungen aus Ereignissen, die hundert Jahre zurückliegen, befreien uns nicht von der Aufgabe, auch unsere eigene Zeit genau zu analysieren und unsere Perspektiven daraus abzuleiten. Aber zweifellos stehen wir heute wieder in einer Periode der Weltgeschichte, in der die organische Krise des Kapitalismus immer mehr Leute in den Widerstand treibt gegen ein System, das der arbeitenden Mehrheit der Weltbevölkerung keine Zukunft zu bieten hat. Es ist unsere Pflicht – von allen von uns mit einem aufrichtigen Willen, «alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist», um Marx’ Worte zu borgen –, die Erfahrungen der vergangenen Kämpfe zu studieren, um daraus zu lernen. Nur so schaffen wir uns die Werkzeuge für unseren Sieg.