Nach jahrzehntelanger Unterdrückung hatten sich die Massen ihrer korrupten Regimes entledigt und selbst in bürgerlichen Medien wurde von einer Aufbruchstimmung gesprochen. Zehn Jahre später ist das Ergebnis ernüchternd: Ägypten ist eine Militärdiktatur, Libyen und Syrien sind in Bürgerkriege versunken und bloß Tunesien erweckt den Anschein, als habe dort die Demokratie Einzug gehalten.
Tunesien
Durch die Proteste und nach dem Sturz des Präsidenten Ben Ali in Tunesien bildeten sich im ganzen Land revolutionäre Komitees. Dazu rief auf regionaler Ebene der Gewerkschaftsdachverband UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail) auf. In manchen Regionen, wie Redeyef, übernahmen die Komitees sogar die Verwaltung des gesellschaftlichen Lebens. Die UGTT ist stark in der Arbeiterklasse verankert, jedoch war der Gewerkschaftsapparat, der durch die Zusammenarbeit mit dem Regime Ben Alis korrumpiert wurde, bereit, die Übergangsregierung von Mohamed Ghannouchi bedingungslos zu unterstützen. Dieser Verrat der Gewerkschaftsführung wurde nur noch durch einen viel größeren Verrat, nämlich der Klassenkollaboration in Form des Quartetts des Nationalen Dialogs, übertroffen.
Das Quartett des Nationalen Dialogs ist ein Projekt der herrschenden Klasse, um den Kapitalismus in Tunesien nach der Revolution wieder zu stabilisieren. Es besteht aus der UGTT, dem Handels- und Industrieverband (UTICA), der NGO „Tunesische Liga für Menschenrechte“ und der Vereinigung der Rechtsanwälte. Für diese Bemühungen bekam das Quartett 2015 den Friedensnobelpreis.
Die bremsende Wirkung der UGTT und das Fehlen einer revolutionären Führung sorgten für Passivität in der Arbeiterklasse. Jedoch ist die Behauptung, dass der tunesische Kapitalismus stabilisiert worden sei, falsch. Im Februar dieses Jahres kam es erneut zu großen Protesten in Tunis. Die tunesische Wirtschaft konnte sich in den letzten Jahren nicht stabilisieren und die Coronapandemie hat diese Situation nur verschlimmert. So stieg die Arbeitslosigkeit unter den 15-24-Jährigen auf bis zu 36 Prozent. Ähnlich wie das Regime von Ben Ali reagierte die jetzige Regierung mit massiver Polizeigewalt auf die Proteste.
Ägypten
Nach dem Sturz Mubaraks übernahm der Oberste Rat der Streitkräfte die Macht. Die Massen waren gegen den Militärrat und hatten Illusionen in die islamistische Muslimbruderschaft, welche sich unter dem Regime Mubaraks als Opposition präsentieren konnte. Die Klassenverhältnisse innerhalb der Muslimbruderschaft waren gespalten. Während sich an der Basis die revolutionäre Jugend und ärmere Gesellschaftsschichten befanden, bestand die Führung aus reichen Geschäftsleuten. Diese Tatsache erklärt auch, warum das Militär mit der Muslimbruderschaft eine Allianz formte, um die Revolution zu bekämpfen. Nach der Präsidentschaftswahl 2012 wurde Mohammed Mursi, Repräsentant der Muslimbruderschaft, Präsident Ägyptens.
Die Massen realisierten jedoch sehr schnell, dass Mursi und die Muslimbruderschaft keine Alternative zum Militärrat darstellten. Daraufhin bröckelte soziale Basis der Muslimbrüder, die Massen gingen wieder auf die Straßen und das ganze System war erneut in Gefahr. Die herrschende Klasse fürchtete, dass diese Massenproteste das ganze System zu Fall bringen könnten, und appellierte an die Muslimbruderschaft, Zugeständnisse zu machen. Diese zeigten sich jedoch nicht gewillt nachzugeben, sodass im Juni 2013 das Militär Mursi absetzte und eine Militärdiktatur unter Abdel Fattah Al-Sisi errichtete.
Al-Sisi, welcher sich selbst als Verteidiger der Revolution bezeichnete, ging erbarmungslos gegen die Muslimbruderschaft, revolutionäre Arbeiter und die revolutionäre Jugend vor. Schätzungsweise sind ca. 60.000 politische Gefangene in ägyptischen Gefängnissen. Nach Jahren des Kampfes und enormer Repression durch die Konterrevolution waren die Massen erschöpft und gerieten in die Passivität.
Die Militärdiktatur Al-Sisis scheint gefestigt und stabil zu sein, aber in den letzten zwei Jahren kam es wieder zu sporadischen Streiks und Demonstrationen. Die Coronapandemie trifft Ägypten ebenfalls hart, wodurch die vermeintliche Stabilität des Regimes weiter unterhöhlt wird.
Nur eine Frage der Zeit
Die aktuelle schwere kapitalistische Krise und die Coronapandemie erschüttern alle Länder der Welt und zerstören den sozialen Frieden und die Stabilität eines jeden Landes. Es gibt kein Land, welches nicht davon betroffen ist. Bereits 2019 fegten revolutionäre Aufstände und Generalstreiks über Algerien und den Sudan. Die Massen waren sehr nah dran, die politische Macht zu erobern und die Gesellschaft in ihrem Interesse zu verändern. Jedoch fehlte auch ihnen in letzter Konsequenz eine kühne und unbeugsame revolutionäre Führung.
Die Ereignisse des 6. Januars – der Sturm auf das Kapitol – in den USA zeigen, dass selbst der Garant für kapitalistische Stabilität, in der Krise steckt. Die Proteste in Tunesien, Ägypten und der restlichen arabischen Welt werden sich in den nächsten Monaten und Jahren intensivieren. Die Arbeiterklasse wird sich abermals erheben gegen Unterdrückung und Ausbeutung. Es liegt an der hiesigen revolutionären Jugend und Arbeiterklasse aus den Fehlern des Arabischen Frühlings zu lernen und eine revolutionäre Organisation mit revolutionärer Führung aufzubauen, um die Revolution bis zum Sozialismus zu tragen.
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