In seinem Roman „Schwarzenberg“ beschrieb der Schriftsteller Stefan Heym, wie nach dem 8. Mai 1945 Arbeiter im nicht-besetzten Landkreis Schwarzenberg und Teilen des Landkreises Stollberg im Erzgebirge, Rätestrukturen schufen. Die Arbeiter bildeten dort Aktionsausschüsse, welche die Nazis entwaffneten und die Betriebe unter Arbeiterkontrolle stellten. Stefan Heym unterstreicht in seinem Roman die Bedeutung die Ereignisse in Schwarzenberg. Sie lassen begreifen, „wie sehr die Selbstaktivität der Arbeiter faktisch sozialistische Strukturen schuf“.
Nur keine Arbeiterdemokratie
Am 9. Juni 1945 wurde der vergessene Landkreis von sowjetischen Truppen besetzt. Die Aktionsausschüsse und Räte wurden aufgelöst und die KPD versuchte den Arbeitern zu erklären, dass sie nicht so weit gehen dürften, denn man stehe erst in der Etappe der „antifaschistischen demokratischen Umwälzung“. Die KPD trat in ihrer Erklärung vom Juni 1945 für eine bürgerlich parlamentarische Republik ein. Das in einer Zeit, wo der Sozialismus für viele Menschen auf der Tagesordnung stand. Die Etappentheorien der Stalinisten unterdrückte die Selbstaktivität der Arbeiter und errichtete bürokratische Strukturen. Genau dieses Element führte in der DDR, die 1949 gegründet wurde, von Anfang an zu einer Entfremdung zwischen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und den Massen.
Bis 1952 hielt die SED-Führung an ihrer Orientierung fest. Der Cheftheoretiker der SED Anton Ackermann sprach ab 1946 von einem „besonderen deutschen Weg zum Sozialismus“. Was das sein sollte wurde den Arbeitern nicht klar, denn mit ihnen führte niemand eine Debatte zu solchen Thesen. Die Stalin-Note vom März 1952 schlug der Bundesregierung und den westlichen Alliierten ein neutrales Gesamtdeutschland auf Basis der bürgerlichen Demokratie vor. Diese Note war in der Tat ernst gemeint, denn Stalin war nicht an der Weltrevolution interessiert, sondern am berühmten Aufbau „des Sozialismus in einem Land“. Aus diesem Grund bevorzugte die stalinistische Sowjetunion ein neutrales bürgerliches Gesamtdeutschland.
Die Note wurde von den westlichen Alliierten sofort abgelehnt, ihnen ging es darum, in der BRD einen Frontstaat gegenüber den nichtkapitalistischen Staaten in Osteuropa aufzubauen. Konrad Adenauer, der damalige Bundeskanzler der BRD erklärte: „Lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb.“ Die Westalliierten und Adenauer befürchteten, dass es in einem neutralen Gesamtdeutschland eine starke Linke geben könnte.
Bürokratisches Wendemanöver
Auf der zweiten Parteikonferenz der SED im Juni 1952 wurde plötzlich der „planmäßige Aufbau des Sozialismus“ verkündet. Die ersten Pläne stießen auf keinerlei Zustimmung durch die Arbeiter. In dem Buch „Das Herrnstadt-Dokument“, herausgegeben von Nadja Stulz, wird darauf verwiesen, dass es selbst in der SED-Führung Leute gab, die die Planvorlagen von Walter Ulbricht scharf kritisierten. Ulbricht war zu der Zeit Generalsekretär des ZK der SED, damit Stand er an der Spitze der Partei und praktisch auch des Staats.
Rudolf Herrnstadt war Chefredakteur des „Neuen Deutschland“ und Kandidat des Politbüros der SED. In dem Büchlein ist nachzulesen, wie er immer wieder darauf verwies, dass nach Ulbrichts Planvorlage hauptsächlich die Schwerindustrie entwickelt werden sollte, was zu Unzufriedenheit unter den Arbeitern führt. Der vorgelegte Plan sah kaum Investitionen in die Konsumgüterindustrie vor. Außerdem forderte der Plan speziell im Jahr 1953 Normerhöhungen von den Arbeitern in der Bauindustrie. Am 14. Juni 1953 ließ Rudolf Herrnstadt im „Neuen Deutschland“ unter dem Titel „Es wird Zeit, den Holzhammer beiseite zu legen“ eine kritische Reportage veröffentlichen. Herrnstadt ging davon aus, dass man die Arbeiter fragen müsste, was sie von diesem Plan hielten.
Kurz vor dem 17. Juni 1953 stand Ulbricht vor seiner Absetzung. Es scheint paradox zu sein, dass ausgerechnet der Arbeiteraufstand am 17. Juni, Walter Ulbricht rettete. Der Arbeiteraufstand wurde als faschistischer Putsch dargestellt und jede Opposition gegen die Linie des Politbüros als feindlich betrachtet. Rudolf Herrnstadt verlor schnell nach dem 17. Juni 1953 seinem Posten als Chefredakteur des „Neuen Deutschland“. In vielen Erinnerungen und Dokumenten ist zu lesen, dass unter der Leitung von Rudolf Herrnstadt das „Neue Deutschland“ lesbar war. Die Linie von Ulbricht wurde umgesetzt. Arbeiterdemokratie gab es nicht in der Realität, sondern nur auf Papier.
Druck des Imperialismus
Die Enteignung der Kapitalisten in der DDR angefangen mit der Bodenreform war ein historischer Fortschritt. Die Imperialisten konnten und wollten sich mit dieser Entwicklung nicht abfinden. Sie nutzten die offene Grenze, um Facharbeiter, Ärzte und Ingenieure, gezielt in die BRD abzuwerben. Das führte in der DDR zu katastrophalen Zuständen. Brücken konnten nicht fertig gebaut werden, weil die Architekten fehlten. Operationen mussten verschoben werden, weil Ärzte mit materiellen Angeboten in die BRD gelockt wurden. Gleichzeitig gab es bei der offenen Grenze den Schwindelkurs von eins zu vier oder eins zu fünf für die DDR-Mark. Das Ergebnis war, dass speziell in Berlin, die Westberliner in Ostberlin einkauften. Dadurch verschlechterte sich das Warenangebot für die DDR-Bürger.
Die Politik der BRD-Regierung und der Kapitalisten, zielte darauf ab, mit Ausgaben in zig Millionen Höhe, die wirtschaftlich, politische und soziale Stabilität in der DDR zu untergraben. Sie wollten verhindern, dass eine nicht-kapitalistische Gesellschaft erfolgreich sein kann, um sozialistische Ideen und Hoffnungen der Arbeiter in der BRD aufzulösen. Ihre Politik war ein Grund für den Bau der Mauer, den sie als tyrannischen Akt darstellen. Gleichzeitig war die DDR-Führung aufgrund der fehlenden Arbeiterdemokratie unpopulär. Sie versuchte die eigenen politischen Probleme zu lösen, indem sie in einem bürokratischen Manöver, auf den Mauerbau setzte. Das stabilisierte die DDR vorläufig.
Erfolge der Planwirtschaft
In den sechziger Jahren zeigte dann die Planwirtschaft der DDR ihre Überlegenheit gegenüber den kapitalistischen Zuständen in der BRD. In der historischen Forschung wird vom „Wirtschaftswunder der Sechzigerjahre“ in der DDR gesprochen. Tatsächlich stiegen die industrielle Produktion und das sogenannte Bruttosozialprodukt in der DDR in den sechziger Jahren im Schnitt um 6 Prozent pro Jahr. Das war kein Wunder, sondern Ergebnis der Planwirtschaft. Die DDR hatte damit ein stärkeres Wirtschaftswachstum als die imperialistische BRD.
Ulbricht setzte bei der Erstellung des Plans auf die Hinzuziehung von Betriebsdirektoren, Ingenieuren und Technikern. Allerdings war die Wirtschaftspolitik von Ulbricht (Stichwort „NÖSPL“) im Ostblock zunehmend umstritten. Moskau sah diese Entwicklung sehr kritisch. Erich Honecker, ab 1958 Vollmitglied des Politbüros der SED und Sekretär des ZK, reiste des Öfteren nach Moskau, um Ulbricht zu denunzieren. Bei Breschnew stieß er dabei auf offene Ohren. Honecker und weite Teile der Bürokratie befürchteten durch die Wirtschaftspolitik Ulbrichts, zunehmend an Bedeutung zu verlieren. Das heißt nicht, dass Ulbricht auf die Arbeiter zuging. Er stütze sich vor allem auf die „wissenschaftlich technische Intelligenz“, also Ingenieure, Techniker, Chemiker, Betriebsleiter, Nationalökonomen.
Ulbricht wurde 1971 als Parteichef gestürzt und durch Honecker ersetzt. Anfangs war die Politik Honeckers in der DDR populär. Honecker verkündete „die Einheit von Wirtschaft und Sozialpolitik“. In der Anfangsphase der Ära Honecker wurden tatsächlich viele zusätzliche Sozialleistungen gewährt. Es wurden insgesamt 500.000 Wohnungen gebaut, welche natürlich kein Spekulationsobjekt waren. Das Recht auf eine Wohnung war garantiert. Anfang der Achtzigerjahre war die DDR jedoch stark auf westliche Kredite angewiesen. Auch die Entwicklungen der Sowjetunion in den achtziger Jahren brachte die DDR-Führung zunehmend in die Bredouille. Gas- und Öllieferungen gab es seitens der SU-Stalinisten plötzlich nur noch zu Weltmarktpreisen. Der Unmut in der DDR-Bevölkerung nahm zu.
Wendepunkt
Im Oktober 1989 gab es Massendemonstrationen, speziell in Leipzig und Berlin. Das Motto war unter anderem „Wir bleiben hier!“. Die Leipziger SED-Führung verzichtete mit der Rückendeckung von Egon Krenz (letzter SED Generalsekretär) auf den Einsatz von bewaffneten Kräften. Am 4. November 1989 fand in Berlin eine Massenkundgebung auf dem Alexanderplatz statt. Die Parolen waren „Wir sind das Volk“ und „Für mehr und besseren Sozialismus“. Es bestand die Möglichkeit einer politischen Revolution gegen die bürokratische Kaste unter Beibehaltung des gesellschaftlichen Eigentums an den Betrieben, sowie der Planwirtschaft. Auf der Kundgebung in Berlin im 4. November 1989 sprachen neben dem Schriftsteller Stefan Heym, der ehemalige Spionagechef Markus Wolf, aber auch der Schauspieler Jan Josef Liefers und viele andere.
Die Bürokratie schwitzte aus allen Poren. Am 9. November verkündete anlässlich einer seltsamen Pressekonferenz Günter Schabowski, indem er einen Zettel aus der Tasche zog, die sofortige Reisefreiheit. Massen eilten zur Mauer, um sie zu überwinden. Das war kein revolutionärer Akt denn die SED-Führung selbst gewährte den Grenzübertritt. Dahinter verbarg sich, dass die SED-Bürokraten Angst vor der politischen Revolution hatten. Sie öffneten die Mauer, um Ruhe zu finden. Sie spekulierten darauf, dass die DDR-Bürger sich massenhaft ihr Begrüßungsgeld in der BRD abholen und Ruhe geben würden. Diese Spekulation ging jedoch in die Hose. Mit der offenen Grenze zur BRD änderten sich zunehmend die Parolen auf den Demonstrationen. Statt „Wir sind das Volk“ wurde plötzlich gerufen „Wir sind ein Volk“.
Historische Niederlage und Heuchelei
Der Fall der Mauer ist nicht als fortschrittlich anzusehen, sondern als Niederlage der Arbeiterbewegung. Die Arbeiterklasse in der DDR verpasste es, die DDR-Bürokratie zu stürzen und die sozialen Grundlagen der DDR, vor allem die Planwirtschaft, zu verteidigen. Eine politische Revolution hätte auch positive Auswirkungen für die Arbeiterbewegung in Westdeutschland gehabt. Aber es fehlte eine revolutionär-marxistischen Partei in Ost- und Westdeutschland.
So konnte nach der Öffnung der Grenze, die Hoffnung der Massen auf eine bessere Zukunft, auf ein vereintes kapitalistisches Deutschland gelenkt werden. Die schrecklichen sozialen Folgen und das Wüten der Treuhand in der DDR und den neuen Bundesländern, haben die ehemaligen DDR-Bürger bis heute zu tragen. Von daher können Marxisten den Fall der Mauer in der Form, wie es geschah, nicht begrüßen. Wir müssen Rechenschaft darüber ablegen und erklären, wie es zu dieser negativen Entwicklung und letztendlich zur Annexion der DDR kam. Gleichzeitig müssen wir die Errungenschaften der Planwirtschaft verteidigen, während wir die Bürokratie der DDR kritisieren.
Die DDR-Kritik in den bürgerlichen Medien hat aber nichts mit der Kritik am Stalinismus gemein. Ihre Darstellungen und Positionen sind reaktionär, heuchlerisch und absurd. Während die Bürgerlichen die DDR-Mauer als tyrannische Beschränkung der Freiheit geißeln, sind sie die größten Verteidiger von FRONTEX, mit dem sie an der EU-Außengrenze, ihre Festung Europa „verteidigen“. Sie sind verantwortlich für den massenhaften Tod flüchtender Menschen im Mittelmeer. Gleichzeitig betreiben sie weltweite Bundeswehreinsätze und Waffenexporte an verbündete reaktionäre Regime wie Saudi-Arabien. Saudi-Arabien führt einen abscheulichen Krieg im Jemen u.a. mit deutschen Waffen. Diese Kriege fordern wesentlich mehr Todesopfer als die innerdeutsche Grenze zwischen BRD und DDR und speziell der Mauer in Berlin.
Für Marxisten ist es wichtig, sich mit der Geschichte der DDR und mit dem Bau der Mauer zu beschäftigen, weil wir im Kampf für eine sozialistische Gesellschaft aus vergangenen Fehlern lernen müssen. Die Überwindung des Kapitalismus und die Errichtung einer sozialistischen Planwirtschaft und Arbeiterdemokratie ist der einzige fortschrittliche Weg vorwärts für die Menschheit.
Hier geht es zur Sonderseite 30 Jahre Mauerfall.
|