Im Frühjahr des Jahres 1968 herrschte unter der französischen akademischen Linken ein großer Pessimismus. Ähnlich wie die Frankfurter Schule in Deutschland hatten sie sich von der Arbeiterklasse als Träger für eine Revolution oder gar von der Revolution insgesamt verabschiedet. André Gorz schreibt im selben Jahr zum Beispiel: „In absehbarer Zeit wird es keine Krise des Kapitalismus geben, die ernst genug ist, um die Masse der Arbeiter in Generalstreiks und bewaffnete Aufstände zur Verteidigung ihrer vitalen Interessen zu zwingen.“
Tatsächlich stimmt es, dass sich der Lebensstandard für große Teile der französischen Arbeiterklasse seit 1945 stark verbessert hatte. Es gab ein jährliches Wirtschaftswachstum von 5-6 Prozent. Das Realeinkommen wuchs jährlich im Schnitt um 5 Prozent.
Zwischen 1958 und 1968 verdoppelte sich die Anzahl der Autobesitzer, ebenso die Anzahl der Haushalte mit Waschmaschinen. Haushalte mit Kühlschränken verdreifachten sich sogar. Es wurden über eine Million Ferienwohnungen gekauft. Doch all diese Tatsachen änderten nichts daran, dass Frankreich im Mai 1968 den größten Generalstreik erleben sollte, welchen es je in einem entwickelten kapitalistischen Land gab.
Es gab bereits im Vorfeld härtere Arbeitskämpfe, welche teilweise über Wochen und sehr offensiv geführt worden sind. Im Vorjahr wurde eine Fabrik des Chemieunternehmens Rhodiacéta in Besançon, wo synthetische Stoffe hergestellt wurden, für 22 Tage besetzt. Von Januar bis Februar streikten viele verarbeitende Betriebe im Norden Frankreichs. Der Nachkriegsaufschwung kam zum Ende, es setzte erstmalig seit dem Zweiten Weltkrieg eine Überproduktionskrise ein. Die Kapitalistenklasse reagierte darauf mit Massenentlassungen. Die Zahl der Arbeitslosen verdoppelte sich, gleichzeitig sank zum ersten Mal seit dem Krieg die Sparquote.
Studentenproteste und Rolle des Stalinismus
Entzünden sollte sich der Generalstreik allerdings zu Beginn nicht an einer sozialen Frage. Vom 2. bis 10. Mai 1968 brachen große Proteste in der Pariser Studentenschaft aus, denn die Leitung der Universität Paris-Nanterre wollte die Studentenwohnheime nach Geschlechtern trennen. Die Proteste wurden kämpferisch geführt, mit Aktionen wie Besetzungen von Universitätsgebäuden und Straßenschlachten zwischen Studierendenschaft und Polizei. Die Gewaltanwendung der Polizei war allerdings dermaßen unverhältnismäßig, dass alle großen Gewerkschaften für den 13. Mai zu einem 24-stündigen Solidaritätsstreik aufriefen.
Der Streik war ein großer Erfolg. Allein aus Paris beteiligten sich eine Millionen Arbeiter, aber auch in 400 anderen Städten gingen Beschäftigte in den Ausstand. Besonders viele Angestellte und Beschäftigte aus der Schwerindustrie beteiligten sich. Dieser gewaltige Streik setzte eine gesellschaftliche Explosion in Gang und mündete in einen mehrwöchigen Generalstreik, welcher auf seinem Höhepunkt über 10 Millionen Arbeiter erfasste – ein Fünftel der Bevölkerung.
Außer zum Solidaritätsstreik riefen die Gewerkschaften nicht zu den folgenden Streikwochen auf. Vielmehr sahen die hohen Gewerkschaftsfunktionäre voller Angst und Sorge in diese immer stärker werdende Bewegung. Selbst die CGT, die Gewerkschaft der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF), bildete da keine Ausnahme. Mit über 400.000 Mitgliedern war sie die stärkste Arbeiterpartei Frankreichs, die CGT mit 1,5 Millionen Mitgliedern die stärkste Gewerkschaft. Die PCF war auf stalinistischer Linie, sie stand in großer Abhängigkeit zur herrschenden Bürokratenkaste in der Sowjetunion. Sie übernahm auch deren ideologische Entstellungen des Marxismus.
Die Bürokratie in Moskau hatte kein Interesse an einer neuen Revolution, erst recht nicht in Westeuropa, denn im gesamten Ostblock rumorte es. 1968 war das Jahr des Prager Frühlings. Die dortige Arbeiterklasse rief nach Freiheit und demokratischen Rechten. Eine erfolgreiche Arbeiterrevolution in Frankreich hätte eine Kettenreaktion auslösen können, welche ebenso den Stalinismus hätte zerbrechen können. Vor einer solchen Kettenreaktion fürchtete sich Moskau mehr als alles andere. Deswegen musste die PCF der Moskauer Bürokratie zusichern, dass es niemals zu einer solchen Revolution in Frankreich kommt.
Die Prawda, die Parteizeitung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, berichtete erstmals am 5. Juni über den Generalstreik – als man sich sicher war, dass er bezwungen war. Die treibenden Kräfte des Generalstreiks waren vor allem Basismitglieder der CGT. Sie waren die klassenbewussten Vorkämpfer der französischen Arbeiterklasse und leisteten ohne jegliche Hilfe der höheren Funktionäre eine vorbildliche Organisationsarbeit.
Machtfrage und Arbeiterselbstverwaltung
Der Generalstreik stellt immer die Machtfrage und das ganz konkret. Während des Generalstreiks wurden die Löhne der Angestellten des staatlichen Telefonunternehmens von solidarischen Angestellten der Zentralbank überwiesen. Die Frauen der streikenden Arbeiter beschlossen am Ende der ersten Streikwoche, dass die Versorgung mit Lebensmitteln sichergestellt werden musste, und kontaktierten die Bauerngewerkschaft. Durch die gemeinsame Organisation der Frauen und Bauern wurden von nun an alle Kinder der Streikenden von kollektiven Kantinen versorgt. Die Benzinverteilung wurde unter die Kontrolle des städtischen Generalstreikkomitees gestellt. Weil Benzin knapp war, wurde es nur an die Spitäler/Ambulanzen und die Bauern gegen Rationsmarken ausgegeben.
Rund um die Städte wurden die Hauptstraßen an Checkpoints von Streikkomitees kontrolliert – nur Lastwagen mit Vertrauensschein vom Streikkomitee durften passieren. Die Nahrungsmittelpreise in den Läden wurden kontrolliert. Die Preise entsprachen dem Selbstkostenpreis, der Liter Milch fiel von 80 auf 50 Centimes, das Kilo Kartoffeln von 70 auf 12 Centimes und die Karotten von 80 auf 50 Centimes. Großhändler waren verpflichtet, zu schließen. Jeden Morgen überprüften Gewerkschafter die Preise auf den Märkten. Plakate wurden in Lebensmittelgeschäften mit folgendem Wortlaut ausgegeben: „Um die Bevölkerung zu versorgen, gestatten die Gewerkschaften diesem kleinen Laden, seine Türen zu öffnen, sofern er die normalen Preise einhält“.
In vielen Teilen Frankreichs waren wichtige Grundpfeiler der kapitalistischen Gesellschaft entweder schwer angeschlagen oder überwunden:
1. Eine Vielzahl der Fabriken waren von der Belegschaft besetzt und unter Arbeiterkontrolle selbstständig weitergeführt worden.
2. Die Polizei zog sich nach wochenlangem Dauereinsatz immer weiter zurück. Vom 20.-24. Mai sah man keine Polizei mehr auf den Straßen.
3. Die Regierung war nicht mehr in der Lage, ihre Vorhaben durchzusetzen, sie verlor von Tag zu Tag an Macht.
Am 24. Mai rief der erzkonservative Premierminister Charles de Gaulle ein Referendum aus. Er sprach abstrakt von mehr „Mitbestimmung“ und „Reformen“, ohne einen konkreten Inhalt zu nennen. Es war ein verzweifelter Versuch der Regierung, die Streiks zu beenden und die Kontrolle zurückzugewinnen. Zu dieser Zeit solidarisierten sich Arbeiter in den umliegenden Ländern mit dem Generalstreik und organisierten Aktionen oder traten auch in Streik. In Italien und den Niederlanden weigerten sich Hafenarbeiter, Schiffe mit französischen Waren zu entladen. Ebenso traten die belgischen Drucker in einen Solidaritätsstreik, weil sie die Abstimmungsunterlagen für das Referendum hätten produzieren sollen.
Verrat der Führung
Vom 26.-27. Mai trat die Regierung zusammen mit den Unternehmerverbänden in Verhandlungen mit Vertretern der PCF und CGT. Das Ergebnis war das Abkommen von Grenelle. Dieses enthielt gute Lohnerhöhungen, eine starke Anhebung des Mindestlohns und eine Erweiterung der Gewerkschaftsrechte.
Sowohl die Regierung als auch die PCF/CGT gingen davon aus, dass es damit ein Leichtes sein würde, die Streiks zu beenden und die „Normalität“ wieder herzustellen. Als allerdings George Seguy, der Vorsitzende der CGT, das Abkommen in einer Fabrik vorstellte, in welcher der Großteil der Belegschaft in der CGT organisiert war, wurde er lautstark ausgebuht. Die Arbeiter hatten bereits einen großen Bewusstseinssprung gemacht. Faktisch besaßen und kontrollierten sie ihre Fabriken. Sie waren frei von ihren Chefs und zahlten sich ihre Löhne selbst. Warum sollten sie jetzt Lohnerhöhungen zustimmen und damit all das wieder verlieren?
Dies führte zu einer neuen Eskalationsstufe, die CGT wurde von da an in großem Maße von den klassenbewussten Schichten der Arbeiter infrage gestellt. Der Streik hatte auch im Dienstleistungsbereich eine riesige Dimension angenommen. Die Regierung begann, sich zu verflüssigen; mehrere Minister kamen gar nicht mehr zur Arbeit. Zwischen dem 27. und 29. Mai hatte das Land keine funktionierende Regierung. Am 29. Mai floh Charles de Gaulle ohne Absprache ins Ausland zu französischen Soldaten in Baden-Baden.
Verpasste Revolution
Wir müssen verstehen, dass sich auch die kräftigste Streikbewegung nicht grenzenlos mobilisieren lässt, denn die vielen Demonstrationen und ehrenamtlichen Aktivitäten der Selbstorganisation zehren an den Kräften. Die führenden Arbeiterorganisationen waren nur noch Bremsklötze. Das demotiviert mit der Zeit auch die besten Aktivisten.
Die PCF und die Regierung begannen gleichermaßen, vor einem Bürgerkrieg zu warnen, würde man auch nur einen Schritt weiter gehen. Obwohl die Regierung niemals in der Lage gewesen wäre, ihre polarisierte Armee und erschöpfte Polizei für derartiges einzusetzen. Beide Seiten warben in Kombination mit Neuwahlen für eine Beendigung des Streiks und einer Rückkehr zur „Ordnung“, um einen ruhigen Ablauf der Wahlen zu gewährleisten. Schließlich hatten sie Erfolg damit.
Allerdings kam die Quittung für diesen Verrat mit dem Wahlergebnis der zwei Wahlrunden vom 23. und 30. Juni zum Ausdruck. Die PCF verlor über 600.000 Stimmen und 39 Sitze. Die rechte Sozialdemokratie, welche eine ähnliche Rolle spielte, verlor 60 Sitze. Die bürgerlichen Kräfte um Charles de Gaulle feierten einen großen Sieg und holten eine starke Mehrheit.
Revolutionen erkennen
Lenin stellte in seinem Werk „Der Zusammenbruch der II. Internationale“ drei Grundbedingungen für eine revolutionäre Situation heraus:
1. Die herrschenden Klasse und ihre politischen Vertreter sind unfähig, ihre Herrschaft in unveränderter Form aufrechtzuerhalten, während die Beherrschten nicht mehr derart unterdrückt werden wollen.
2. Die Not und das Elend der Unterdrückten verschärfen sich über das gewohnte Maß hinaus.
3. Die Aktivität der Massen steigt beträchtlich und treibt sie an, selbstständig in den geschichtlichen Verlauf einzugreifen, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
Alle Punkte waren zweifelsohne gegeben. Frankreich befand sich im Mai 1968 in einer revolutionären Situation mit einer Arbeiterbewegung, die knapp vor ihrem Sieg stand. Um eine revolutionäre Situation zum Erfolg zu führen, ist aber noch ein weiterer Faktor notwendig, eine revolutionäre Organisation, eine Partei. Ihre Aufgabe ist es, in der Revolution die verräterischen Kräfte zu verdrängen und mit einem sozialistischen Programm die Revolution zu einem siegreichen Abschluss zu bringen. Die wichtigste Aufgabe in unserer Zeit ist es, die Grundlagen für eine solche Organisation zu legen. Uns stehen revolutionäre Stürme bevor und wir müssen bereit sein, wenn sie eintreffen.
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