Kategorie: Geschichte

11. September 1973: Militärputsch in Chile

Der 4. September 1970 ließ die Welt aufhorchen: Im südamerikanischen Chile hatte der sozialistische Präsidentschaftskandidat Salvador Allende die Wahl gewonnen.


Für die Arbeiterschaft und weitere unterprivilegierte Schichten in Stadt und Land war der Tag gekommen, um eine radikale Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse und eine tiefgreifende Veränderung der Machtverhältnisse im Lande anzupacken. Weltweit hofften damals Millionen Aktivisten der Arbeiterbewegung und politisierte Jugendliche darauf, nach dem Wahlsieg des "Marxisten" Allende endlich mal eines praktisch vorgeführt zu bekommen: den "demokratischen", "parlamentarischen", "friedlichen" und "reformistischen" Weg zum Sozialismus. Drei Jahre und eine Woche später - am 11. September 1973 - beendete der blutige Staatsstreich des Militärs unter Führung General Augusto Pinochets jäh alle Hoffnungen.Der Putsch kostete 50.000 Menschen das Leben. Eine ganze Generation politisch bewusster Arbeiter, Gewerkschafter, Sozialisten und Kommunisten wurde ausgelöscht oder musste emigrieren. Die Arbeiterbewegung - und damit auch das ganze Land - wurde um Jahrzehnte zurückgeworfen. Bild: Diktator Pinochet. Zum 35. Jahrestag finden weltweit zahlreiche Gedenk- und Solidaritätsveranstaltungen statt. Tausende gedenken in diesen Tagen Salvador Allendes, der am 11. September bei der Verteidigung des Präsidentenpalastes getötet wurde, und vieler anderer unbekannter Märtyrer der sozialistischen Bewegung. Für Marxisten stellt sich dabei allerdings vor allem eine Frage: War die Katastrophe vom 11. September 1973 unvermeidlich? Was haben wir aus diesem schrecklichen chilenischen Blutbad gelernt? Welche Konsequenzen ziehen wir für unsere künftige Strategie?

Wahlsieg 1970 schockiert das Kapital

Der Wahlsieg Allendes 1970 war Ausdruck einer tiefen sozialen Krise des Landes und der Unfähigkeit der seit 1964 amtierenden Regierung des christlich-demokratischen Präsidenten Eduardo Frei, trotz sozialer Demagogie auch nur eines der drängenden Probleme des Landes zu lösen. In einem Land mit nur 10 Millionen Einwohnern waren 1,5 Millionen Kinder unterernährt und 500.000 Familien obdachlos. Die Arbeitslosigkeit lag bei 8,8 Prozent. 80 Prozent des Nutzlandes befanden sich in der Hand von 4,2 Prozent der Grundeigentümer. Verarmte Kleinbauern und landlose Tagelöhner lebten in Armut. Zudem war das Land wegen seiner Bodenschätze Ausbeutungsobjekt multinationaler Konzerne und traditionellerweise vom Auslandskapital abhängig. Die Kupferindustrie, wichtigster Exportartikel Chiles, befand sich zu 80 Prozent in der Hand von US-Konzernen.

Zur Präsidentschaftswahl 1970 traten drei starke Blöcke mit ihren Kandidaten an. Auf der Linken hatten sich die Unidad Popular ("Volkseinheit" - UP) gebildet; die UP war ein Wahlbündnis, dem neben den beiden starken Arbeiterparteien (Sozialistische Partei - SP - und Kommunistische Partei - KP) mehrere kleinere liberale, bürgerliche Gruppierungen ohne größere soziale Basis angehörten. Salvador Allende gewann 36,3% der Stimmen und lag damit vor seinen beiden rechten Mitbewerbern Alessandri (34,9%) und Tomic (27,8%).

Der Wahlsieg des "Marxisten" Allende gegen den ausdrücklichen Willen des in- und ausländischen Kapitals rief Bürgerliche und Reaktionäre in aller Welt auf den Plan. Zwar stand Allende, ein langjähriger Parlamentarier, am rechten Flügel seiner Partei, doch die in den 1930er Jahren gegründete SP war politisch linker als die KP und verstand sich als revolutionär, marxistisch und internationalistisch.

Verschwörung gegen Allende

Gleich nach Allendes Wahl wurde der Oberkommandierende des Heeres, General René Schneider, von rechts stehenden Militärs mit Waffen, die vom US-Geheimdienst CIA geliefert wurden, ermordet, da er sich weigerte, durch einen Putsch den Amtsantritt der UP-Regierung zu vereiteln. Dieser Warnschuß machte klar: Von Anfang an setzte eine Verschwörung aus einheimischem Kapital und Großgrundbesitzern, führenden Militärs, internationalen Konzernen und US-amerikanischer Regierung darauf, die UP-Regierung zu Fall zu bringen und das Rad der Geschichte zurück zu drehen. Während die Konterrevolution zielstrebig auf einen solchen "Tag X" hinarbeitete und den günstigsten Zeitpunkt abwartete, verspielte die UP-Regierung mehrere entscheidende Chancen, um ihrerseits die Reaktion wirklich zu entmachten. Doch zunächst war - als auch das Attentat auf Schneider Allendes Präsidentschaft nicht mehr verhindern konnte - die Linke am Ball.

Sozialreformen und Verstaatlichungen

Die neue UP-Regierung setzte in wenigen Wochen große Reformen durch, die sich sofort im Alltag der Bevölkerung niederschlugen. Durch die Bodenreform erhielten viele arme landlose Bauern Land. Die Mindestlöhne wurden um 35% erhöht. Kindergeld wurde erhöht. Mieten und Preise für Grundnahrungsmittel wurden eingefroren. Jedes Kind unter 12 Jahren bekam täglich einen halben Liter Milch, was einen Rückgang der Kindersterblichkeitsrate um 20 % zur Folge hatte. Solche Maßnahmen rissen viele Menschen aus ihrer Gleichgültigkeit und steigerten die Popularität der UP-Regierung. Endlich mal eine Regierung, die tut was sie sagt, dachten sich viele. Aufbruch und Begeisterung machten sich breit und steckten an. Unter dem Druck ihrer Basis beließ es die UP-Regierung nicht bei diesen Sozialreformen.

So wurden Industriebetriebe der Kupfer-, Salpeter- und Eisenerzgewinnung, die Elektrizitätsgesellschaft und Betriebe des US-Telekom-Konzerns ITT verstaatlicht. Von 26 Privatbanken wurden 18 vom Staat übernommen und 2 weitere unter Staatskontrolle gestellt. 1972 befanden sich 90 Prozent des Exports und 60 Prozent des Imports unter staatlicher Kontrolle. Durch die Bodenreform wurden 1971 und 1972 insgesamt 3570 Latifundien mit 5,5 Mill. ha Land enteignet.

Durch Staat und Reform zum Sozialismus?

Salvador Allende wollte schrittweise reformieren und sozialisieren und dabei beweisen, dass diese allmähliche Entmachtung des Kapitals - anders als in Kuba gut 10 Jahre zuvor - im Rahmen des alten Staates ohne große Umbrüche möglich sei. Als routinierter Parlamentarier und ehemaliger Gesundheitsminister vertraute er darauf, dass die Spitzen von Militär, Justiz, und Polizei einen Eid auf die Verfassung abgelegt hätten und sich an die "demokratischen Spielregeln" halten würden. Dabei warfen der "Marxist" Allende ebenso wie der "Kommunist" Luis Corvalán (KP-Chef) die zentralen Lehren der Geschichte über Bord, wie sie in der Staatstheorie von Marx, Engels und Lenin zusammengefaßt wurden. Der Staat im Kapitalismus, so ihre Aussage, ist ist nicht neutral, sondern eine "besondere Formation bewaffneter Menschen" und in letzter Konsequenz ein Zwangsapparat zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung, d.h. der bestehenden Eigentums- und Machtverhältnisse.

Marxistische Staatstheorie

"Der Staat (...) ist das Eingeständnis, dass diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist." (Friedrich Engels)

"Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, dass die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen kann." (Karl Marx nach der Niederschlagung der Pariser Kommune)

Lenin hatte es 1917 in seiner Schrift "Staat und Revolution" auf den Punkt gebracht: "Die entscheidende Frage ist, ob die alte Staatsmaschinerie (die durch tausend Fäden mit der Bourgeoisie verbunden und durch und durch verknöcherten Gewohnheiten und Konservatismus durchsetzt ist) aufrechterhalten bleibt, oder ob sie zerstört und durch eine neue ersetzt wird. Die Revolution darf nicht darin bestehen, dass die neue Klasse mit Hilfe der alten Staatsmaschinerie kommandiert und regiert, sondern muss darin bestehen, dass sie diese Maschine zerschlägt und mit Hilfe einer neuen Maschine regiert - diesen grundlegenden Gedanken des Marxismus vertuscht Kautsky oder aber er hat ihn gar nicht begriffen."

Staatsorgane blieben unangetastet!

Schon die Ermordung General Schneiders noch vor der Regierungsübernahme war ein erster Warnschuss gewesen. Doch Allende verzichtete gleich zu Beginn seiner Präsidentschaft auf die ihm legal zustehende Möglichkeit, die Spitzenpositionen im Militär und im Staatsapparat mit Personen seines Vertrauens neu zu besetzen. Damit blieben die bewaffneten Staatsorgane von vornherein zu 100 Prozent in der Hand der Reaktion. Justiz und Beamtenapparat boykottierten viele Maßnahmen der Regierung. Allende vertraute in die "Neutralität" und Nicht-Intervention von Armee und Polizei in politische Belange und sagte von Anfang an zu, dass er das Gewaltmonopol des Staates, Armee, Polizei, Schulwesen und Unis ebenso unangetastet lassen würde wie die "Pressefreiheit" der privaten Medienkonzerne. Aber gleichzeitig sabotierte eine bürgerliche Mehrheit im Kongress nach Möglichkeit die fortschrittliche Gesetzgebung, und die bürgerliche Presse startete eine rechte Hetzkampagne.

Die ersten Maßnahmen der UP-Regierung rissen nicht nur viele Arbeiter, sondern auch verarmte Slumbewohner und Landbevölkerung aus ihrer Gleichgültigkeit. Einmal aufgeweckt und in Aktion, beließen sie es vielerorts nicht beim Abwarten auf neue Gesetze und Verordnungen, sondern schufen mit Land- und Fabrikbesetzungen vollendete Tatsachen. In Betrieben und Arbeitervierteln bildeten sich Massenorgane (cordones industriales), so etwas wie eine Keimzelle von Arbeiterräten. Arbeiter sahen und spürten, wie sich die Reaktion organisierte, wie Unternehmer auf faschistische Banden, auf Sabotage und Terror setzen. Sie verstanden viel klarer als ihre Führer die Notwendigkeit, wachsam zu bleiben und sich zur Selbstverteidigung, zum Schutze vor der Reaktion zu bewaffnen. Allende kam so zunehmend in die Zwickmühle zwischen formell legalen Reformen und der revolutionären Dynamik der Bewegung.

Unblutige Revolution war möglich

Die breite Mobilisierung im Volke schlug sich bei den Kommunalwahlen im April 1971 nieder, als die UP mit knapp 51 Prozent landesweit die absolute Mehrheit der Stimmen erreichte. Entgegen der von Reformisten immer wieder aufgestellten Behauptung, dass radikale sozialistische Politik die Mittelschichten abschreckt, wurden nun auch diese von der gesellschaftlichen Radikalisierung erfasst. Sieben Parlamentsabgeordnete der Christdemokraten organisierten eine linke Abspaltung von ihrer Partei, die sich für den Sozialismus und für die UP aussprach und auch 20% der Parteijugend hinter sich hatte. Kurzum: es bestand zu jenem Zeitpunkt eine Doppelherrschaft im Lande. Die herrschende Klasse war demoralisiert und zum großen Gegenschlag unfähig, viele einfache Soldaten und mittlere Ränge der Armee sympathisierten mit der Linken. Eine unblutige Revolution war möglich. Die Regierung hätte sogar ganz legal Parlamentsneuwahlen ansetzen und sich in Volksabstimmungen die Ermächtigung des Volkes einholen können, Großkapital und Großgrundbesitz zu entmachten, die ganze Wirtschaft einschließlich Presse in staatlichen Besitz zu überführen und unter die Kontrolle der Organe der arbeitenden Bevölkerung zu stellen. Niemand hätte sich ernsthaft und wirksam einer Absetzung der reaktionären bürgerlichen Führungskader im Staatsapparat widersetzen können. Auch faschistische Organisationen wie "Patria y Libertad" ("Vaterland und Freiheit") hätten dabei ohne größeren Widerstand entwaffnet und aufgelöst werden können.

Chancen wurden nicht genutzt - Reaktion formiert sich

Doch die Chance verstrich ungenutzt. Der alte bürgerliche Staatsapparat an sich blieb intakt. Ebenso blieben die Schaltstellen der wirtschaftlichen Macht mehrheitlich in privaten, großkapitalistischen Händen. Somit hatten die Großgrundbesitzer und Großunternehmer weiterhin eine Machtbasis, von der aus sie sich mit Terror und Sabotage wehrten. Die Pressekonzerne konnte ungehindert Stimmung gegen die Linke machen.

In Allendes Amtszeit gab es insgesamt 600 Terroranschläge auf Eisenbahnen, Brücken, Hochspannungsleitungen und Pipelines, auch unter Beteiligung von "Patria y Libertad". Im April 1972 enthüllte der US-Journalist Jack Anderson, daß der US-Konzern ITT (International Telephone and Telegraph Cooperation) mit dem CIA eine Million Dollar zur Finanzierung einer Pressekampagne beigesteuert hatte.
Kapitalflucht und Sabotage verschärften die wirtschaftlichen Probleme ab Ende 1971 zusehends. Das durch die Sozialreformen entstandene Haushaltsdefizit konnte nicht mehr über Auslandskredite finanziert werden. Die USA hatten den Zugang zu den internationalen Kreditorganisationen versperrt. Allende musste die Druckpresse anwerfen - bis 1973 kletterte die Inflation auf über 300%. Der Investitionsstopp der Unternehmer und die Sabotage durch bürgerlich gesinnte leitende Angestellte in den neu verstaatlichten Unternehmen verschlimmerten die Situation zusätzlich. Die besitzenden und herrschenden Klassen ließen sich somit von den konstitutionellen Spielregeln weit weniger beeindrucken als Allende. Wie jede herrschende Klasse leisteten sie Widerstand gegen Maßnahmen, die ihre Interessen beeinträchtigten. In Chile wurde das gesamte Register der bürgerlichen Gegenwehr gezogen.

Die Politik der UP ließ 70% der Wirtschaft und die Massenmedien ebenso wie die Verkehrsmittel und den Handel in privaten Händen. So verschlimmerte sich die wirtschaftliche Lage in Chile. Die Privatinvestitionen gingen schon 1971 um 16% zurück, und die Bautätigkeit nahm von Juni 1971 bis Mai 1972 um ein Drittel ab. Der Mittelstand fühlte sich nun verunsichert und war für die Propaganda der bürgerlichen Medien wie auch der Rechtsextremen anfällig. Im November 1972 boykottierten die USA und 14 Gläubigerstaaten (der sogenannte Club von Paris) den Kupferverkauf.

Die wirtschaftliche Krise und das Lavieren Allendes gaben den Herrschenden den Spielraum, den sie benötigten. Sie organisierten im Oktober 1972 einen dreiwöchigen Transportunternehmer-Ausstand. Dieser Umsturzversuch war kein spontanes Aufbegehren, sondern stand unter straffer Führung der Bourgeoisie, die mit der Hilfe von Kirche, Medien und christdemokratischer Partei sowie nicht zuletzt durch Erpressung und Drohungen weitere Teile der Bevölkerung um sich zu scharen vermochte.

Arbeiterbewaffnung gefordert

Allende bestärkte in dieser Situation sein Bekenntnis zu Staat und Militär, indem er einige Generäle in seine Regierung holte. Dass Allende die offenen Saboteure seiner Politik durch Privilegien und Mäßigungsbekenntnisse zu beschwichtigen versuchte, löste auch innerhalb der äußerst heterogenen Unidad-Popular eine Krise aus. Während sich der rechte Flügel der Unidad Popular (u. a. die Kommunisten!) in Mäßigungsbekenntnissen immer wieder überbot, forderte der linke Flügel der Sozialistischen Partei um Carlos Altamirano, dem sich abzeichnenden Putsch zuvorzukommen: Nur durch konsequente Schritte gegen die herrschenden Klassen, die Selbstbewaffnung der Arbeiter, die Verstaatlichung weiterer Bereiche der Wirtschaft sowie die politische Organisierung von Soldaten sei die drohende Katastrophe zu verhindern. Nur durch planwirtschaftliche Maßnahmen könne darüber hinaus der wirtschaftlichen Krise ein Ende gesetzt werden. Nur durch solche konsequenten Maßnahmen wäre es auch möglich gewesen, die Mittelschicht, die sich zunehmend gegen Allende mobilisieren ließ, wieder auf die Seite der Regierung zu ziehen.

Puschversuch im Juni 1973 - letzte Warnung!

Trotz des starken (und auch durch eigene Halbheiten und Unschlüssigkeiten verursachten) Gegenwinds gewann die UP bei den Parlamentswahlen im März 1973 noch 43%. Damit hatte sie nach wie vor eine entscheidende soziale Basis vor allem in Betrieben und Städten. Im Juni 1973 wurde ein Putschversuch reaktionärer Panzerregimenter durch regierungstreue Truppen niedergeschlagen. Er misslang auch wegen schlechter Vorbereitung und mangelnder Kommunikation. Die Arbeiterorganisationen waren gewarnt und hatten kostbare Zeit, um sich jetzt auf den unvermeidlichen nächsten Putschversuch vorzubereiten und zur Selbstverteidigung Arbeitermilizen sowie Gegenstrukturen im Militär in der Form von Soldatenräten zu bilden. Doch wertvolle Zeit verstrich. Allendes und Corvalans blindes Vertrauen in die Generäle war unerschütterlich. Corvalán erklärte in einer Rede im August 1973: "Wir befürworten weiterhin den absolut berufsmäßigen offiziellen Charakter der Armee. Ihre Feinde sind nicht die Massen des Volkes, sondern das reaktionäre Lager."

Zur Beschwichtigung rechtsgerichteter Generäle organisierte die Regierung Spezialgeschäfte, günstige Wohnungen, Lizenzen für den Import von Limousinen sowie Gehaltserhöhungen. Trotz Devisenmangels wurden neue Waffen eingekauft, so dass Chile im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern damals den höchsten Anteil des BIP für Militär ausgab.

Allende bekannte sich nach wie vor zu Staat und Gesetz, obwohl die führenden Kreise in Wirtschaft, Militär und USA schon seit 1970 klar auf seinen Sturz hin arbeiteten und jetzt, Mitte 1973, ein entscheidender Putsch nur noch eine Frage der Zeit war. Anfang August 1973 nahm der Präsident wieder Militärs in die Regierung auf, um durch diese Geste der Beschwichtigung der Gefahr eines Militärputsches entgegenzuwirken. General Prat, der Oberbefehlshaber der Armee, legte sein Amt nieder, da auf ihn von Seiten der Opposition Druck ausgeübt wurde, er solle endlich putschen. Zum Nachfolger ernannte Allende den General Augusto Pinochet (!).

Die Machtfrage gestellt: Revolution oder Konterrevolution

Der Putsch vom 11. September 1973 kam nicht überraschend, sondern kündigte sich mit allem Nachdruck an. Im Juli 1973 hatten die Gegner Allendes einen sogenannten "Generalstreik" organisiert. Noch stärker als beim ersten Unternehmer-Ausstand antworteten die Anhänger Allendes mit massenhaften Gegenmobilisierungen und von unten getragenen Gegen-Streiks. Diese Konfrontation gebar nicht nur bürgerkriegsähnliche Zustände, sondern verstärkte die Ansätze einer Doppelherrschaft durch Bildung betriebsübergreifender Räte. Der einzige Schutz, den Allende noch hatte, lag in der Bewegung von unten.
Nun stellte sich die Machtfrage: Entweder wir oder Ihr. Um zu überleben, musste der Prozess der sozialen Revolution vertieft und abgesichert werden, oder der Gegenschlag der bürgerlichen Klassen würde eine blutige Phase der Reaktion einläuten. Allende stützte sich jedoch nicht auf die Bewegung, sondern versuchte weiter, sich unter den Schutz von Verfassung und Staat zu stellen.

Am 4. September kamen zum 3. Jahrestag von Allendes Wahlsieg noch einmal rund 800.000 Menschen zu einer Kundgebung in Santiago zusammen und forderten von den Führern der UP Arbeiterbewaffnung und eine organisierten Widerstand gegen den drohenden Militärputsch.

Doch eine Woche später zeigte der Oberkommandierende der Armee, General Augusto Pinochet, was von der Verfassung zu halten war, wenn es aus der Sicht der Besitzenden um "Entweder-Oder" geht. Der Luftangriff auf den Regierungspalast Moncada am 11. September und die letzten heldenhaften Bilder von Allende mit einer Maschinenpistole in der Hand kurz vor seinem Tod haben sich in das Gedächtnis der Linken eingegraben.

Viele Soldaten blieben passiv

Während am 11. und vielfach noch bis zum 12. und 13. September 1973 ganze Belegschaften ihre Betriebe gegen die Putschisten zu verteidigen versuchten und (vergeblich) auf eine übergreifende Führung und Signale im Widerstand gegen den Putsch warteten, leisteten die Putschisten ganze Arbeit. Dabei wurde der Putsch nur von einer Minderheit der Soldaten aktiv mit getragen. Viele Soldaten der unteren Dienstgrade und ganze Regimenter sympathisierten mit der Linken und weigerten sich, mit zu putschen. Hätten Allende und Corvalán nur einen Bruchteil der Energie, mit der sie sich die Gunst der Generäle zu erkaufen versuchten, auf die gewerkschaftliche Organisierung der einfachen Soldaten und den Aufbau demokratischer Gegenstrukturen und Soldatenräte in der Armee verwandt, dann hätte die Geschichte anders ausgehen können.

Die darauffolgenden Jahre, in denen Chile unter einem staatsterroristischen Regime mit Tausenden Verschwundenen und Toten zu einem neoliberalen Laboratorium gemacht wurde, zeigen: eine vertane Chance wirft die Arbeiterbewegung um Generationen zurück. Die Reaktion hat in Chile ganze Arbeit geleistet.

Was haben wir aus der chilenischen Tragödie gelernt?

Demokratische Rechte und soziale Zugeständnisse sind kein Geschenk der herrschenden Klasse, sondern müssen durch Druck von unten erkämpft und verteidigt werden. Sie sind - wie wir es gerade in diesen Jahren wieder erleben - nicht dauerhaft, solange Wirtschaft und Gesellschaft von einer kleinen privilegierten Klasse beherrscht werden.

Der Staat ist kein neutrales Gebilde, sondern ein Organ der Klassenherrschaft - besondere Formation bewaffneter Menschen - notfalls mit nackter Gewalt Herrschaft aufrecht erhalten. Blinder Glaube an Legalität und Buchstaben von Verfassungen ist fatal. Ebenso wie in Chile 1973 waren auch in Deutschland noch 1933 die SPD-Führer so sehr auf die Buchstaben der Weimarer Verfassung fixiert, dass sie Widerstand gegen die Nazis ablehnten. Sie wollten ja "kein Blutvergießen". Mit dieser Haltung lieferten sie sich selbst und die Arbeiterbewegung wehrlos den Nazis aus. In Chile wollten die Führer der UP keinen Bürgerkrieg und machten es der Reaktion einfach, in einem einseitigen Bürgerkrieg die bewusstesten und aktivsten Kämpfer der Arbeiterbewegung festzunehmen und viele von ihnen zu töten.

In jedem kapitalistischen Staat besteht heute die Tendenz oder legale Möglichkeit von Militär, Eliteeinheiten und Polizei zur Einmischung in Innenpolitik. Auch wenn gegenwärtig der Staat in den kapitalistischen Industrieländern "nur" das Vermögen von unten nach oben umverteilt und hart erkämpfte soziale Errungenschaften abbaut und öffentliche Betriebe privatisiert, sollten wir uns keine Illusionen machen: Denn jede Regierung, die sich ähnlich wie die chilenische UP 1970 daran macht, durchgreifende Sozialreformen auf Kosten der Reichen durchzuführen und die anfängt, kapitalistisches Eigentum in öffentlichen Besitz zu überführen, muss mit ähnlich starkem Widerstand und Sabotage durch die Kapitalistenklasse und ihre reaktionären Helfershelfer rechnen. Der Konflikt zwischen der demokratisch gewählten Regierung von Hugo Chávez in Venezuela und der Oberschicht des Landes, die schon mehrfach Chávez zu stürzen versuchte, weist viele Parallelen zur Lager in Chile unter der UP-Regierung auf.

Als Warnung sollte uns auch dienen, dass der chilenische Militärputsch damals bei bundesdeutschen Politikern, Journalisten, Industriellen und Bankiers auf Unterstützung und Verständnis stieß.

"Deutschlandfunk", 13. September 1973
"Wer sich einigermaßen in der chilenischen Geschichte auskennt, kann sogar für das Vorgehen der Streitkräfte ein gewisses Maß an Verständnis aufbringen..."

"Bild-Zeitung", 12. September 1973
"Jetzt hat die Armee nicht mehr länger stillgehalten. Drei Jahre Marxismus sind ihr genug."

"Frankfurter Allgemeine Zeitung", 12. September 1973
"Im Augenblick der höchsten Gefahr konnten sich die Streitkräfte ihrer Verantwortung nicht mehr länger entziehen. Sie können nur obsiegen, wenn sie sofort und mit aller Schärfe reinen Tisch machen."

Franz-Josef Strauß im "Bayernkurier", 22. September 1973
"Angesichts des Chaos, das in Chile geherrscht hat, erhält das Wort Ordnung für die Chilenen plötzlich wieder einen süßen Klang."

Karl Carstens, Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Bundestag, 12. September 1973
"Die Ereignisse in Chile haben bewiesen, dass Marxismus und freiheitlich demokratische Grundsätze unvereinbar sind."

Bruno Heck, Generalsekretär der CDU, nach seiner Rückkehr aus Chile, 18. Oktober 1973
"Soweit wir Einblick bekommen haben, bemüht sich die Militärregierung in optimalem Umfang um die Gefangenen. Die Verhafteten, die wir sprachen, haben sich nicht beklagt. Das Leben im Stadion ist bei sonnigem Wetter recht angenehm." (laut Süddeutsche Zeitung" (18.10.73)

Hans-Jürgen Wischnewski, Bundesgeschäftsführer der SPD, 1. Oktober 1973
"Sie wissen, wir gewähren an viele Länder dieser Welt Entwicklungshilfe, die keine Demokratien sind."

Farbwerke Hoechst, 6. Dezember 1973
"Wir sind der Ansicht, dass das Vorgehen der Polizei und des Militärs nicht intelligenter geplant und koordiniert werden konnte und dass es sich um eine Aktion handelte, die bis ins letzte Detail vorbereitet war und glänzend ausgeführt wurde ... Die Regierung Allende hat das Ende gefunden, das sie verdiente ... Chile wird in Zukunft ein für Hoechster Produkte zunehmend interessanter Markt sein."

Gerhard Liedtke, Dresdner Bank AG, 8. Oktober 1973
"Putsch in Chile ist für Banken positiv - In Südamerika kann wieder investiert werden."

US-Intervention?

Wenn Herrschende und Privilegierte so reagieren wie sie es in Chile und anderswo taten, dann hilft auch moralische Empörung keinen Millimeter weiter. Auch der Hinweis darauf, dass die USA, die massiv in den Putsch verstrickt waren, sowieso niemals ein sozialistisches Chile geduldet und daher militärisch zugeschlagen hätten, hilft nicht viel weiter. Was außer Sabotage und konterrevolutionärer Verschwörung hätten wir sonst von der damaligen US-Administration unter Nixon und Außenminister Kissinger erwarten können? Doch ohne die verheerenden strategischen Fehleinschätzungen Allendes und Corvalans, die vielleicht die besten Absichten der Welt hatten, aber der inländischen Reaktion wertvolle Zeit zur Sammlung ihrer Kräfte ließen, hätten auch die Waffen, Gelder und Druckmittel der USA ihr Ziel nicht erreicht. Gut zehn Jahre zuvor war der US-gesponserte Versuch gescheitert, durch die Invasion in der Schweinebucht die kubanische Revolution zu zerschlagen. 1973 waren die USA zudem in Vietnam in einen aussichtslosen, blutigen und kostspieligen imperialistischen Krieg verstrickt, der von der Mehrheit der eigenen Bevölkerung abgelehnt wurde und den sie wenig später verloren. Selbst der (unter solchen Umständen eher unwahrscheinliche) Versuch einer US-Militärinvasion gegen eine erfolgreiche chilenische Revolution hätte weltweit zu einer riesigen Protestwelle geführt und vor allem in Lateinamerika viele Regimes destabilisiert.

Wir steuern wieder auf stürmische Zeiten zu. Die wirtschaftliche Krise und die daraus folgenden Erschütterungen und neuen Klassenkämpfe, die ganz Lateinamerika erfaßt haben, sind ein Vorbote dessen, was uns morgen auch in Europa bevorsteht. Wer die Gesellschaft grundlegend verändern will, muss sich politisch und praktisch darauf einstellen, dass die Herrschenden mit Zähnen und Klauen ihren Besitz und ihre Privilegien verteidigen werden.

Erstveröffentlichung 11. September 2008

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