Viele Jahre lang durchsuchten bürgerliche Journalisten und sachkundige Professoren die sowjetischen Archive nach unentdecktem Material. Es gab viele Spekulationen um die "grausamen Geheimnisse des kommunistischen Regimes", welche den "bösen Charakter" des Kommunismus aufdecken sollten.
Nach den Ereignissen in den späten 1980ern und den frühen 1990ern des 20. Jahrhunderts wurde den Historikern endlich erlaubt die sowjetischen Archive zu betreten. Man erwartete eine Flut von grausamen, anklagenden Fakten. Aber die Ergebnisse dieser Historiker waren sehr enttäuschend. Natürlich fanden sie eine große Anzahl von Beweisen vor, welche die schockierenden Verbrechen des Stalinismus aufzeigten. Aber in dieser Hinsicht bestand ja nie irgendein Zweifel. Trotzki und seine AnhängerInnen verurteilten diese Verbrechen lange bevor auch nur eines dieser Archive geöffnet wurde. Trotzkis AnhängerInnen im sowjetischen Russland in den 1920ern und 1930ern hatten Informationen aus erster Hand über diese Verbrechen, da sie unter denen waren, die als erste unter der stalinistischen Degeneration zu leiden hatten. Tausende von ihnen wurden von Stalins Handlangern ermordet. Was die bürgerlichen Historiker aber suchten, waren Beweise, die zeigen sollten, dass es keine Unterschiede zwischen dem stalinistischen Regime und dem jungen Sowjetstaat unter Lenin und Trotzki in der ersten Periode nach der Russischen Oktoberrevolution gab. Aber sie trafen auf große Schwierigkeiten beim Versuch Dokumente zu finden, welche die Führer der Russischen Revolution bloßstellen würden. Die Dokumente, die am schwierigsten zu finden waren, waren jene, die die Führer der Linken Opposition diskreditieren sollten. Nun ist es für jeden Historiker klar, warum das so war. Die Archive zeigten nämlich eindeutig, dass diese Personen maßgeblich am Sieg der Revolution und am Aufbau der Sowjetunion beteiligt waren.
In den letzten Jahrzehnten wurden einige neue und interessante Quellen über die kritischen Momente der Russischen Revolution bekannt. Einige davon finden in zwei Büchern über die tragischste Situation der Revolution - der Rebellion von Kronstadt- ihren Niederschlag. Es ist nicht nötig alle detaillierten Einzelheiten dieses bekannten Ereignisses anzuführen. Anfang März 1921, in einer der kritischsten Perioden der jungen Sowjetunion, gab es den Versuch eines Militärputsches gegen das Regime, ausgehend von einer Flottenbasis in Kronstadt, nahe Petrograd. Diese kritische Phase machte ein schnelles Handeln der Bolschewiki notwendig. Nachdem einem von den Bolschewiki aufgestellten Ultimatum nicht Folge geleistet worden war, wurde Kronstadt gestürmt und beim zweiten Versuch eingenommen. Die FührerInnen des Aufstandes flohen ins Exil nach Finnland.
Ende der 1930er attackierte eine Gruppe früherer Trotzkisten - unter ihnen Victor Serge, Max Eastman, Souvarine und einige andere - Trotzki wegen seiner Vorgangsweise im Kronstadtkonflikt. (Serge widersprach hiermit seinen früheren Ansichten über die Umstände der Rebellion). Sie beschrieben das Ereignis als Aufstand der Arbeiter und Matrosen gegen die "bolschewistische Diktatur" und die Niederschlagung als "ersten Schritt in Richtung Stalinismus". Später übernahmen anti-kommunistische IdeologInnen und PropagandistInnen diese Kritik. Trotzki antwortete 1938 diesen Leuten in einem Artikel (Zetergeschrei um Kronstadt) und hob dabei den kleinbürgerlichen Charakter dieses Putsches hervor. Es ist nicht notwendig hier Trotzkis Argumente zu wiederholen, jedeR kann und soll dies selbst nachlesen. Was hier angeführt werden soll, sind einige neue Informationen, die kürzlich publiziert wurden.
Das erste Buch wurde unter dem Titel "Der unbekannte Trotzki: der rote Bonaparte" (Krasnow V.G., Moskau, 2000) herausgegeben. Dieses Buch versucht die Rolle Trotzkis während des Russischen Bürgerkriegs zu beleuchten. Das zweite Buch "Kronstadt 1921" (Moskau, 2001) ist eine Sammlung von Dokumenten über die Rebellion in Kronstadt. Es erscheint hier wichtig zu betonen, dass keines dieser beiden Werke von Anhängern bolschewistischer Ideen verfasst wurde. Das wohlbekannte Bild, welches Anti-KommunistInnen zu porträtieren pflegen, ist, dass die Rote Armee den Rebellen breite Sympathie entgegenbrachte. Es gab Spekulationen, dass sich der Großteil der Soldaten aus politischen Gründen weigerte, die Rebellen anzugreifen und viele von ihnen auf die Seite der Rebellion desertierten. Jedenfalls ist es ein Mythos.
Die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Es gab genau eine einzige Einheit, welche auf die Seite der VerteidigerInnen von Kronstadt wechselte. Das war während der ersten, erfolglosen Attacke. Es war ein Bataillon des 561. Regiments der Roten Armee. Dieses Regiment wurde aus ehemaligen Machno-, Wrangel- und Denikin-Gefangenen rekrutiert. Es ist außerdem bekannt, dass während des Bürgerkriegs auf Grund von militärischen Fehlern einige Bauerneinheiten mehrere Male die Seiten wechselten. Es gab noch einen Fall, als die Regimenter 236 und 237 sich zu kämpfen weigerten. "Wir werden nicht auf das Eis gehen, wir gehen in unsere Dörfer". Diese Einheiten waren völlig verängstigt angesichts eines Angriffs auf diese scheinbar unbezwingbare, durch Schlachtschiffe verteidigte Festung - und das alles auf glattem Eis. Es gibt noch andere Berichte von Befehlsverweigerungen, aber alle auf Grund der schlechten Ernährung und der qualitativ minderwertigen Uniformen. Es waren keine politischen Gründe. Das kann man leicht verstehen, wenn man einerseits die rückständige Wirtschaft betrachtet, welche die Sowjetunion unfreiwillig geerbt hatte, andererseits mussten die wenigen Ressourcen, die zur Verfügung standen, dazu genutzt werden, sich selbst gegen die von den Imperialisten unterstützte Weiße Armee zu verteidigen. Auch die Situation in Kronstadt selbst war anders als in den mythologischen Erzählungen. Es gab keine "Masse an Soldaten", die hinter der Rebellion standen. Selbst bürgerliche Historiker wie oben genannter Krasnow mussten diese Tatsache zugeben. Innerhalb Kronstadts gab es Zusammenstöße zwischen den alten revolutionären Matrosen und den jungen Rekruten aus den kleinbürgerlichen und bäuerlichen Familien. Diese Tatsache wird dadurch bestätigt, dass einige Schiffe ihre Neutralität erklärten, andere sogar gegen die Rebellion auftraten. Mehr Einblick gibt ein Ausschnitt aus den Verkündungen von den Besatzungen einiger Schiffe (unter anderem von den Minensuchschiffen "Ural", "Orfei" und "Pobeditel"): "Die Männer der Weißen Armee, welche die Rebellion in Kronstadt führen, können der Republik viel Schaden zufügen und sie werden nicht zögern, Petrograd zu bombardieren."
Das war also die Situation hinter den feindlichen Linien. Aus einem Dokument der 7. Armee erfahren wir, dass viele rebellische Matrosen und Soldaten auf die Seite der Bolschewiken wechseln wollten, aber durch den Terror ihrer Offiziere daran gehindert wurden. Doch der letzte Nagel im Sarg für die anti-kommunistische Mythologie kommt erst noch. Die Dokumente, die in den zwei Büchern publiziert wurden, verraten, was in der Stadt um Kronstadt passierte. Während der Rebellion wehrten sich die ArbeiterInnen gegen die Putschisten und befreiten die Stadt sogar bevor der Großteil der Roten Armee eintraf. Die Realität war also kein Arbeiter- und Matrosenaufstand gegen das bolschewistische Regime, sondern ein Arbeiter- und Matrosenaufstand gegen die Rebellen. Die oben genannte Verkündung, dass die Weiße Armee den Aufstand führe, zeigte sich daran, dass das Kommando über die rebellischen Matrosen nicht vom Kronstädter Sowjet sondern vom sogenannten "Gericht für die Verteidigung der Festung Kronstadt" ausging. Einer dieser Führer war der Admiral S.H. Dmitriew (der nach der Niederlage der Rebellion exekutiert wurde), ein anderer war General A.H. Koslowski der später nach Finnland flüchtete. Beide waren weit davon entfernt, einen Funken Sympathie für Sozialismus, sei es nun mit oder ohne den Bolschewiki, übrig zu haben.
Es gibt auch viel Spekulation über S.M. Petretschenko, den anti-bolschewistischen Matrosenführer. Interessant ist, dass dieser Mann 1927 in Stalins GPU (sowjetische geheime Staatspolizei) rekrutiert wurde und bis 1944 einer von Stalins Agenten war. Dann wurde er von finnischen Behörden verhaftet und starb ein Jahr später in einem Konzentrationslager. Wir sehen, dass die ArbeiterInnen und Matrosen den wirklichen Charakter des Aufstands viel besser verstanden als irgendwelche Historiker, die den Mythos um Kronstadt schaffen wollten. Dasselbe kann man auch von den konterrevolutionären Kräften in Kronstadt behaupten. Der ehemalige zaristische Premier- und Finanzminister und in der Emigration der Direktor der Russischen Bank in Paris, Kokowsew, transferierte 225.000 Francs an die Kronstädter RebellInnen. Die Russisch-Asiatische Bank "spendete" 200.000 Francs. Der französische Premierminister Briand versprach dem ehemaligen Botschafter der Kerenski-Regierung "jede nötige Unterstützung in Kronstadt".
Wie Trotzki beschrieb, war der Aufstand von Kronstadt nicht die erste kleinbürgerliche konterrevolutionäre Bewegung während des Bürgerkriegs und der Revolution. Es gab viele andere Bewegungen, die sich unter dem Slogan "Sowjets ohne Bolschewiki" versammelten. Es gab solche Bewegungen in einigen Fabriken im Ural und unter den Kosaken. Aber aus diesen Erfahrungen können wir klar sehen, dass in einer Situation des kompromisslosen Klassenkampfes diese Parole zu einer mittelalterlichen Reaktion und Barbarei führen kann. Es kann keine Revolution ohne eine revolutionäre Partei geben. Und um es zu wiederholen: Die russischen ArbeiterInnen und Soldaten verstanden das zu dieser Zeit sehr genau. Fakt ist, dass viele gewöhnliche AnhängerInnen der Anarchisten, Menschewiken, Sozialrevolutionäre und anderer Parteien in den Sowjets mit Beteiligung der Bolschewiki aber nicht ohne deren Beteiligung sein wollten. Es gab große Unterschiede zwischen der Basis der Anhängerschaft und den Führern, die absolut anti-kommunistisch waren. In den frühen 1920ern wurden die regionalen Sowjets in jüdischen Gebieten der Ukraine vollständig aus Mitgliedern aus dem Bund (jüdische Sozialdemokraten) gewählt. Außerdem kämpften viele AnarchistInnen während der Revolution und des Bürgerkriegs auf Seiten der Bolschewiki gegen die Weiße Reaktion. Sie arbeiteten mit der neuen Macht bis zum Aufstieg des Stalinismus zusammen. Diese mutigen Leute werden bis zum heutigen Tag von einigen Anarchisten als "VerräterInnen" bezeichnet. Manche Leute lernen eben nie.
Wir haben also nichts zu befürchten vor weiteren Recherchen in den sowjetischen Archiven. Wir hoffen, dass in den nächsten Jahren mehr Dokumente über den Kampf des russischen Proletariats gefunden werden. Sie werden uns Auskunft über die revolutionäre Tradition des russischen Proletariats geben.
Erstveröffentlichung: 2007
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