Die Inflation erreichte in den ersten Monaten des Jahres 1923 schwindelnde Höhen; weil die Löhne, Renten und Erwerbslosenunterstützungen nicht nachzogen, fiel der Lebensstandard der großen Bevölkerungsmehrheit rasch unter das Existenzminimum. Die Gelddruckereien kamen mit der Herstellung der (fast wertlosen) Geldscheine mit Millionen- und Milliardenbeträgen nicht mehr nach; Lohnempfänger rannten mit großen Behältern voller Geldscheine zum Lebensmittelhändler, um sich vor dem nächsten Inflationsschub noch rasch mit Nahrungsmitteln zu Versorgen. Viele Menschen sahen sich gezwungen, Sachvermögen „für ‘n Appel und n’ Ei“ zu verscherbeln, um wenigstens genug zu essen zu haben. Hunger, Elend und Chaos breiteten sich aus. Auch das Kleinbürgertum wurde weitgehend zum Opfer der Inflation und verarmte.
Krisengewinnler
Wer sich über die Jahre ein Sparguthaben für das Alter angelegt hatte, musste machtlos mit ansehen, wie das Geld nichts mehr wert war und die Zukunftsaussichten dahinschmolzen. Krisengewinnler waren Schieber und Spekulanten, die Besitzer von Sachwerten und deutsche Industrielle, die sich aufgrund der sinkenden Wechselkurse und der billigen Arbeitskräfte neue Exportchancen ausrechneten und neue internationale Absatzmärkte eroberten. Die Erlöse aus ihren Exportgeschäften legten sie natürlich im Ausland in harte Devisen an. Wertgegenstände und Immobilien aller Art wechselten den Besitzer. Zu den größten Profiteuren gehörte der Industrielle Hugo Stinnes, der in jenen Monaten 1.300 Unternehmen aufkaufte und auch einen maßgeblichen Einfluss auf die Regierungspolitik ausübte.
Ruhrbesetzung
Zusätzlich Öl ins Feuer goss die Ruhrbesetzung ab Anfang 1923, als die Pariser Regierung Poincaré französisches und belgisches Militär in das Ruhrgebiet einmarschieren ließ, um die 1919 im Versailler Vertrag vereinbarten deutschen Reparationszahlungen selbst einzutreiben. Steinkohle, damals Hauptenergiequelle für Industrie, Verkehr und Stromerzeugung, hatte das Ruhrgebiet mit seinen zahlreichen Bergwerken und Stahlwerken zum größten Industriegebiet Europas gemacht.
Die Ruhrbesetzung bot den Eliten der deutschen Wirtschaft eine willkommene Gelegenheit, um die zunehmende Wut in der Bevölkerung auf „die Franzosen“ und die Reparationsforderungen zu lenken. Das „Kabinett der Wirtschaft“ unter Reichskanzler Wilhelm Cuno (er war zuvor Generaldirektor der Großreederei HAPAG/Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft) rief den passiven Widerstand gegen die Ruhrbesetzung aus und untersagte jeglichen Kontakt zu den Besatzungstruppen. Doch die Arbeiterklasse, die anfänglich den passiven Widerstand aktiv trug, erkannte bald, dass nur sie gegenüber den Besatzungstruppen den Kopf hinhielt und die Unternehmen nicht bereit waren, die Lasten des passiven Widerstands mit zu tragen. So bröckelte der Widerstand nach einigen Wochen wieder ab.
Die Lage wurde zunehmend unerträglich. Hoffnungslosigkeit machte sich breit. Die Arbeitslosigkeit schnellte in die Höhe. Die Massen hatten kein Vertrauen mehr in dieses System und diesen Staat, der ihnen keinen annehmbaren Lebensunterhalt mehr sicherte. Polizeibeamte sahen vielerorts passiv zu, wie Hungerdemonstrationen zu Lebensmittelplünderungen ausarteten. SPD- und Gewerkschaftsapparat, tragende Säulen der 1919 entstandenen bürgerlichen Weimarer Republik, vermochten die Bewegung nicht mehr wie bisher zu bremsen und zu disziplinieren. Die Gewerkschaften konnten in der Inflation nicht einmal mehr ihre Hauptamtlichen entlohnen und verloren scharenweise Mitglieder. Zudem entwickelte sich in der SPD, die nach wie vor eine Arbeitermassenpartei war, wieder ein linker Flügel, der mit der bisherigen opportunistischen Politik der Parteiführung und Anpassung an bürgerliche Koalitionspartner höchst unzufrieden war. Diese linken Sozialdemokraten orientierten sich vielfach am alten, marxistisch inspirierten Erfurter SPD-Grundsatzprogramm von 1891 und waren zur Zusammenarbeit mit der KPD bereit. Viele SPD-Mitglieder, die noch nicht zum Übertritt in die KPD bereit waren, blickten immerhin erwartungsvoll auf die KPD und ihre Vorschläge und Alternativen.
In Thüringen bestand seit 1921 eine linkssozialdemokratische Landesregierung aus SPD und USPD, die sich auf die Tolerierung durch die KPD im Landtag stützte und eine Reihe fortschrittlicher Bildungs- und Sozialreformen in Angriff nahm. In Sachsen stützte sich die dortige SPD-Landesregierung nach dem Ende der Koalition mit bürgerlichen Parteien ab März 1923 auf die Tolerierung durch die kommunistische Landtagsfraktion.
Die KPD wurde zum Sammelbecken für die Unzufriedenen, die in jenen Monaten zigtausend Neumitglieder aufnahm. Sie war in den Augen vieler Arbeiter die einzige Partei, die nicht mit der Weimarer Republik und dem System identifiziert war. So wie die SPD 1918/19 und die USPD 1920 einen starken Zulauf hatte und die Hoffnungen der Masse der Arbeiter auf sich gerichtet sah, blickten Millionen in diesem Sommer 1923 auf die KPD. Was die herrschende Klasse unter keinen Umständen wollte, waren Wahlen, die diesen Stimmungsumschwung dokumentiert hätten. Eine Landtagswahl im Juni 1923 im kleinen Mecklenburg-Strelitz spricht jedoch Bände. In diesem ländlichen Gebiet gut 100 km nördlich von Berlin war die KPD mit rund 11.000 Stimmen fast ebenso stark wie die SPD, die 12.000 Stimmen errang. Bei den Landtagswahlen in Sachsen im November 1922 hatte die KPD 267.000 Stimmen erhalten; bei den Kommunalwahlen im Januar 1924 hatte sie 378.000 Wähler und damit 16,5 Prozent der abgegebenen Stimmen. Bei Delegiertenwahlen im Berliner Metallarbeiterverband stimmten 54.000 Mitglieder für die kommunistischen und 22.000 Mitglieder für die sozialdemokratischen Kandidaten. Die Verankerung der KPD in Betrieben und Gewerkschaften dokumentierte sich auch in der Existenz von kommunistischen 500 Betriebsgruppen im deutschen Metallarbeiterverband, der Vorgängerorganisation der IG Metall. Zwischen Juli und Oktober 1923 nahm die Zahl hauptamtlichen Gewerkschaftssekretäre, Bevollmächtigten und Gewerkschaftsangestellten mit KPD-Parteibuch von 286 auf 342 zu. „Das Jahr 1923 brachte einen stetig wachsenden Einfluss der KPD, der es vermutlich zeitweise gelang, die Mehrheit der sozialistisch orientierten Arbeiter auf ihre Seite zu ziehen“, resümiert auch der Historiker Hermann Weber.
Die KPD war auf einem historischen Höhepunkt angelangt. Die Drohung, dass ein Sieg der Bolschewisten das Chaos bedeutete, zog in weiten Teilen der Arbeiterklasse nicht mehr, denn das Chaos war schon längst da.
Generalstreik
Im August war die Stimmung auf dem Siedepunkt angelangt. In Ostpreußen streikten 150.000 Landarbeiter gegen ihre Gutsbesitzer. Die Streikwelle breitete sich aus und erfasste auch die Arbeiter der Staatsdruckerei. So kamen keine neuen Geldscheine mehr in Umlauf und das ganze Land war wie gelähmt. Aus den kommunistisch beeinflussten Fabrikkomitees, die sich an den Arbeiterräten der Revolution von 1918 orientierten, bildete sich ein sogenannter „Fünfzehnerausschuss“, der schließlich Anfang August zum Generalstreik aufrief.
Die Bewegung verbreitete sich wie ein Lauffeuer über das ganze Reichsgebiet und gipfelte am 11. und 12. August in einen umfassenden Generalstreik. Es war die größte Streikbewegung seit dem Generalstreik gegen den Kapp-Putsch im März 1920. Doch nun zeigte sich schonungslos, dass der Streik ebenso erfolgreich wie spontan war und keine weitergehende Perspektive hatte. Denn die Forderung, die alle Streikenden zusammenschweißte, war die nach Rücktritt der Regierung Cuno, die zum Symbol für Elend und Not und alles Hassenswerte geworden war. Am 12. August trat Cuno zurück - nur neun Monate nach seiner Ernennung durch Reichspräsident Ebert. Da der Streik darüber hinaus keine weitergehende Forderung hatte, verlief sich die Bewegung schließlich wieder.
Das neue Kabinett des Reichskanzlers Gustav Stresemann, dem ab dem 12. August für einige Wochen auch SPD-Minister angehörten, bemühte sich, die Lage wieder zu stabilisieren und ein erneutes Aufflammen revolutionärer Bewegungen zu verhindern. Ende September beendete Stresemann offiziell die Politik des „passiven Widerstands“ und begann sich mit den Westmächten in der Frage der Reparationszahlungen zu arrangieren. Auch die Kapitalistenklasse erkannte, dass sie mit ihrer Politik der letzten Monate eine revolutionäre Situation heraufbeschworen hatte und machte vorsichtige Zugeständnisse an die Arbeiterklasse.
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