Die Türkei und Brasilien galten in den vergangenen Jahren in Mitten einer von der Wirtschaftskrise gebeutelten Welt als Erfolgsmodelle. Die Wirtschaft lief gut, ein Ausweg aus Armut und Elend schien gefunden. Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg ging eine in diesen beiden Ländern bisher einzigartige politische Stabilität einher. Doch dann löst plötzlich die brutale Unterdrückung des Widerstands einer kleinen Handvoll von AktivistInnen gegen die Bebauung des Gezi Parks in Istanbul eine Protestbewegung aus, an der sich Millionen in der ganzen Türkei beteiligen und sich entschlossen der Polizei entgegenstellen. Ein ähnlich „kleines“ Ereignis, die Erhöhung der Fahrpreise für die öffentlichen Nahverkehrsmittel, führte in Brasilien zum Ausbruch von Massenprotesten, wie sie das Land seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sowohl in der Türkei wie auch in Brasilien weitete sich binnen kurzer Zeit die Zahl der DemonstrantInnen enorm aus, und gleichzeitig begann die Massenbewegung völlig neue Forderungen zu erheben, die weit über den Ausgangspunkt des Protests hinausgehen. Dabei vermischen sich Forderungen nach mehr Demokratie und gegen staatliche Repression unmittelbar mit dem Kampf für soziale Gerechtigkeit. Das starke Wirtschaftswachstum in diesen Schwellenländern änderte nichts an der sozialen Ungleichheit. Jorge Martin schrieb in seiner ersten Analyse von den Protesten in der Türkei:
„Das Steuersystem verschärft die Ungleichverteilung weiter. 2/3 der Steuerentnahmen entfallen auf indirekte Steuern, die ArbeiterInnen und Arme besonders treffen. Die Mehrwertsteuer auf Luxusgüter liegt deutlich niedriger als bei Gütern des täglichen Bedarfs. DieArbeitslosenrate blieb konstant bei 9%, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 20%. Offiziell leben 16% unter der Armutsgrenze. Jetzt, wo die Wirtschaft wieder schwächer läuft, treten alle Widersprüche offen zu Tage. Es ist diese Mischung aus demokratischen Fragen und sozialen Spannungen, die jetzt explodierte und zu einer massiven Protestbewegung gegen die Regierung Erdogan führte, die alle überrascht hat. Die Geschwindigkeit, mit der sich diese Bewegung herausgebildet hat, zeigt einmal mehr in welch turbulenter Periode wir derzeit leben. Der Sturz von Mubarak und Ben Ali 2011 oder die Proteste gegen die Sparpolitik in Südeuropa hatten zweifelsohne einen Eindruck auf das Bewusstsein von Millionen Menschen in der Türkei gemacht. Die Bedingungen sind jetzt so weit gereift, dass auch in der Türkei die Idee, dass Massenaktionen einen Weg vorwärts weisen können, zu einer materiellen Kraft geworden ist.“ (www.marxist.com)
In Brasilien, wo der Aufschwung der vergangenen Jahre ebenfalls zu Ende geht, haben wir eine ähnliche Situation, die ein ähnliches Ergebnis hervorgebracht hat.
Molekularprozess
Diese Ereignisse in Brasilien und der Türkei bestätigen voll und ganz unsere Perspektiven. 2004
veröffentlichten wir in unserer Roten Reihe eine Broschüre mit dem Titel „Der Molekularprozess der Weltrevolution“, in dem wir versuchten die Epoche, in der wir leben, zu charakterisieren. Damals kamen wir zu folgendem Schluss:
„Die gesamte menschliche Geschichte ist ein Prozess, in dem sich Widersprüche langsam anhäufen, bis eine Situation - ein kritischer Punkt - erreicht wird, wo Quantität in Qualität umschlägt. Die dialektischeMethode gibt uns ein Werkzeug in die Hand, um solche Prozesse zu untersuchen und zu erklären. In den letzten 10, 20
Jahren haben die Widersprüche des Systems weltweit ein unvorstellbares Ausmaß angenommen. (…) Nie zuvor waren die Widersprüche des kapitalistischen Systems so offensichtlich wie heute. Die gesamte Weltsituation ähnelt einem Stadium in der Physik, das als „kritischer Zustand“ bezeichnet wird, wobei die einzelnen Partikel den wildesten Schwankungen und Veränderungen ausgesetzt sind. (…) Der ‚kritische Zustand’ kann in der Physik durch ein einfaches Experiment ausgedrückt werden: Das Hinzufügen von einem einzelnen Sandkorn zu einem bereits bestehenden Sandhaufen kann ab einem gewissen Punkt das Abrutschen von ganzen Sandkornschichten verursachen. An einem kritischen Punkt kann jeder Zufall ungeahnte Auswirkungen haben. In der modernen Physik nennt man dies ein 'System ohne Gleichgewicht'. Mit diesem Begriff kann auch der momentane Zustand in der Welt sehr gut beschrieben werden. Auf dieser Grundlage bauen all unsere Analysen auf. (…) Wie kann die gegenwärtige Situation am besten beschrieben werden? Überall können wir eine Krise der alten Ordnung und die gewaltige Störung des bisherigen Gleichgewichts beobachten. Überall herrscht statt Ordnung eine beispiellose Instabilität vor. Wir befinden uns in der instabilsten Situation seit 1945. Statt Aufschwung, Vollbeschäftigung und Wohlstand sieht man selbst in den reichsten Staaten Krisen und sinkenden Lebensstandard. Die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer, die ökonomische Macht ist in immer weniger Händen konzentriert. Vergangen ist die 'gute alten Zeit', vorbei der 'amerikanische Traum', wo man heute noch von einem besseren Morgen träumen konnte. In den entwickelten kapitalistischen Ländern lebt jetzt erstmals seit 1945 eine Generation, deren Lebensbedingungen schlechter sind als die ihrer Eltern. Die Beziehungen zwischen den Klassen sind zunehmend von größeren Spannung und Instabilität gekennzeichnet. In dem Maße, wie diese Situation im Bewusstsein der Massen einen Ausdruck findet, entstehen weltweit die Bedingungen für einen Ausbruch des Klassenkampfes. Noch hinkt das Bewusstsein der objektiven Situation hinterher, aber dies kann sich schlagartig ändern. (...) Unter der scheinbar ruhigen Oberfläche kommen Wut, Frustration und Verzweiflung zusammen. Trotzki beschrieb eine solche Entwicklung mit dem Begriff des 'molekularen Prozesses der sozialistischen Revolution'. Wenn dieser Prozess einen kritischen Punkt erreicht, kann selbst die kleinste Veränderung einen gewaltigen Prozess ins Rollen bringen. Instabilität ist das bestimmende Merkmal der jetzigen Situation. Veränderungen, die normalerweise keine oder nur sehr unbedeutende Auswirkungen haben würden, können nun kolossale Umwälzungen zur Folge haben, die in keinem Verhältnis zu ihren Ursachen stehen. Der Charakter der jetzigen Periode ist vor allem eine Folge dessen, dass das kapitalistische System nicht mehr imstande ist, eine progressive Rolle zu spielen. Die Entwicklung der Produktivkräfte, welche in der Periode 1945-74 beeindruckend war, wird nun durch die Existenz des Privateigentums an den Produktionsmitteln und der Nationalstaaten behindert. Die zukünftige Entwicklung der Menschheit hängt davon ab, ob es gelingt, diese Barrieren aus dem Weg zu räumen und ein harmonisches und rationales wirtschaftliches System auf der Basis einer weltweiten sozialistischen Föderation zu schaffen.“
Die Krise des Weltkapitalismus seit 2008 hat ein weiteres Element der Instabilität hinzugefügt. Auf Dauer kann sich kein Land dieser Entwicklung entziehen. Hier sind die Bedingungen gereift, die in einem Land nach dem anderen revolutionäre Bewegungen hervorbringen wird.
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